Ulla Schmidt, MdB, Bundesministerin für Gesundheit:
Vielen Dank für Ihr Engagement und noch einmal herzlichen Glückwunsch!
Ich bin sehr froh, dass wir heute auf dem 110. Deutschen
Ärztetag den von der Bundesärztekammer, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
und dem Bundesgesundheitsministerium finanzierten Forschungspreis zur Rolle der
Ärzteschaft im Nationalsozialismus verleihen können. Mehr als 50 Arbeiten sind
nach der Ausschreibung bei der Jury eingegangen. Das zeigt, dass das Thema "Ärzte
im Nationalsozialismus" nicht abgeschlossen ist. Es beschäftigt auch heute, es
beschäftigt wieder, und es beschäftigt auch viele Jüngere, was man an den
eingereichten Arbeiten sehen kann.
Meine Damen und Herren, ganz offenkundig gibt es noch
Defizite, was die Erhellung der Rolle und der Einstellung der Ärzte im
Nationalsozialismus, in einer Zeit, in der auch Ärzte ungeheure Schuld auf sich
geladen haben, angeht. Ganz offenkundig gibt es ebenfalls Defizite bei der
Frage, was den Ärztinnen und Ärzten geschehen ist, nachdem sie den braunen Rock
wieder ausgezogen hatten. Als beispielhaft will ich hier die Initiative der
Berliner Ärzteschaft nennen, die vor sechs Jahren begonnen hat, die eigene
Geschichte auszuleuchten, zu untersuchen, was aus den jüdischen Kolleginnen und
Kollegen geworden ist, nachdem die Nazis die Staatsmacht an sich gerissen
hatten. Auch in Hamburg ist eine beispielhafte Initiative ergriffen worden.
Es gibt eine ganze Reihe solcher Projekte in Deutschland,
manchmal ganz unspektakulär, aber allen Initiatoren sind wir zu Dank
verpflichtet, denn sie geben Vorbilder ab, und sie handeln nach der Einsicht,
dass Erinnerung, Wissen und das eigene Ethos der beste Schutz vor politischer
Verführung, vor falschen Verbündeten oder vor Verrat an der eigenen Sache sind.
Meine Damen und Herren, zu Beginn der nationalsozialistischen
Unrechtsherrschaft im Jahre 1933 gab es in Deutschland von insgesamt rund
90 000 Ärzten 8 000 bis 9 000 jüdische Ärzte. 1938 gab es
in Deutschland allerdings nur noch 3 000 jüdische Ärzte. Viele waren
emigriert, verjagt, aus dem Land geflohen. Jüdische Ärzte, die sich zu halten
versuchten, mussten unendliche Repressionen über sich ergehen lassen. Im
September 1938 erloschen noch vor dem Pogrom per Gesetz alle Approbationen
jüdischer Ärzte in Deutschland. Damit wurden sie faktisch mit einem
Berufsverbot belegt. Das war leider in vielen Fällen noch das Geringste, das
Menschen jüdischen Glaubens angetan wurde. Wir wissen bis heute nicht genau,
wie viele der jüdischen Ärzte und ihrer Angehörigen in den Jahren bis 1945 in
den KZs ermordet oder in den Selbstmord getrieben wurden. Den wenigsten gelang
noch nach 1938 die Flucht, ihres Besitzes beraubt, gedemütigt, entwurzelt.
Ärzte waren zur Nazizeit Opfer. Zur historischen Wahrheit, die
in Deutschland lange - zu lange - verdrängt wurde, gehört auch, dass Ärzte auch
Täter waren. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten traten gut die
Hälfte aller Ärzte und Medizinstudenten in die NSDAP ein. In keiner anderen
Berufsgruppe gab es eine solch hohe Zahl Unterstützer des
nationalsozialistischen Regimes. Die beiden größten Berufsgruppen, der
Hartmannbund und der Deutsche Ärztevereinsbund, gingen ein direktes Bündnis mit
dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund ein. Der damalige Leiter des
Hartmannbunds, Alfons Stauder, sandte am 22. März 1933 folgendes Telegramm an
Hitler - ich zitiere aus Norbert Freis Buch "Hitlers Eliten nach 1945" -:
Die ärztlichen Spitzenverbände begrüßen freudigst den
entschlossenen Willen der Reichsregierung der nationalen Erhebung, eine wahre
Volksgemeinschaft aller Stände, Berufe und Klassen aufzubauen.
Er gelobte "treueste Pflichterfüllung als Diener der
Volksgesundheit".
Schon bald nach dem Machtantritt der Nazis rollten dann die
berüchtigten "grauen Busse" durchs Land, in welchen als lebensunwert
bezeichnete Menschen zu ihren Vernichtungsorten gebracht wurden.
Es ist leider nicht der Ärzteschaft zu verdanken, dass diese
verschleiernd "Euthanasie" genannte Mordaktion in der Bundesrepublik
aufgearbeitet worden ist. Gedrängt haben vor allem die Angehörigen, die nicht
mit diesem fortdauernden Unrecht leben wollten. Während die Angehörigen litten
und die aus dem Exil zurückgekehrten jüdischen Ärztinnen und Ärzte
Schwierigkeiten hatten, ihre Zulassung wiederzuerhalten, erhielt der erwähnte
Hartmannbund-Funktionär Stauder 1954 das Große Verdienstkreuz wegen seiner
besonderen Verdienste um die Volksgesundheit.
Meine Damen und Herren, Ärzte schickten unter dem Hakenkreuz
Menschen in die Euthanasiehäuser. Ärzte unter dem Hakenkreuz unternahmen in
Konzentrationslagern entsetzliche Versuche an Menschen. Ärzte unter dem
Hakenkreuz waren Teil des mörderisch funktionierenden NS-Apparats. Sie
demütigten und töteten mit der Unterschrift, und manche schauten einfach weg.
Aber Gott sei Dank gab es auch andere Ärzte, Ärzte, die unter
der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten ihre Mitbürger schützten, die
jüdische Bürger retteten, die auch ihre Kolleginnen und Kollegen schützten.
Auch daran zu erinnern, ist unsere gemeinsame Aufgabe.
Meine Damen und Herren, die wirkungsvollste Ethik unserer
westlichen Kultur, die unbedingte Pflicht, zu helfen, also die ärztliche Ethik,
wurde von den Tätern während der NS-Zeit mit Füßen getreten, ins Gegenteil
verkehrt und mit Hohn überschüttet. Aus heutiger Sicht ist es geradezu
unverständlich, warum ehemalige verbrecherische Ärzte geschont wurden, nachdem
der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen war. War es Korpsgeist? War es
Verdrängung? Denken Sie bitte daran, dass zum Beispiel Alexander Mitscherlichs
Medizinerkarriere zu Ende war, bevor sie richtig begonnen hatte. Er hatte
nämlich den Nürnberger Prozess gegen 23 NS-Ärzte im Auftrag der deutschen Ärzte
einfach und wahrhaftig begleitet. Erst 1960 konnte seine Ausarbeitung als
Taschenbuch mit einer Auflage von fast 120 000 Exemplaren einer größeren
Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Meine Damen und Herren, die Ärzteschaft hat in den letzten
Jahren Konsequenzen gezogen. Die Tabus aus der Nazizeit gelten nicht mehr. Die
Arbeit zwischen Forschung und Erinnerung hat eingesetzt. Wir sollten diese
Arbeit behüten und weiter fördern.
Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei all
denjenigen bedanken, die mit dazu beigetragen haben, dass dies heute möglich
ist. Ich möchte Sie auch im Namen der Veranstalter auf eine Abendveranstaltung
im "Geschichtsort Villa ten Hompel" hinweisen. Um 19 Uhr gibt es dort zwei
Vorträge: Zum einen spricht Dr. Marc von Miquel über "Sozialversicherung in
Diktatur und Demokratie"; eine Ausstellung der Sozialversicherungsträger in Nordrhein-Westfalen.
Zum Zweiten hält Herr Dr. Gerst einen Vortrag mit dem Titel "Der Stimme des
Arztes Geltung verschafft - Das Kassenarztrecht 1955".
Ich bitte jetzt Herrn Dr. Winfried Süß ans Mikrofon, der noch
einige Worte im Namen der Preisträger sagen möchte.
Herzlichen Dank.
(Beifall)
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