Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident
der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages und Präsident der
Ärztekammer Nordrhein: Sehr verehrte Frau Bundesministerin! Sehr verehrte
Damen und sehr geehrte Herren Abgeordnete! Lieber Herr Ehrenpräsident Ingo
Flenker! Lieber Herr Präsident Theo Windhorst! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank, Frau Ministerin, für
Ihre Rede. Ich kann nicht auf alle Einzelheiten eingehen. Ein paar Takte vorab
zu dem, was Sie gesagt haben und was anzusprechen ich an sich nicht vorgesehen
hatte.
Sie haben uns dafür gedankt, dass wir außerhalb der üblichen
Reihenfolge der Eröffnungsveranstaltung bei einem Deutschen Ärztetag diese
Preisverleihung vornehmen konnten. Das haben wir sehr gern getan. Wir haben
vor, das zukünftig alle zwei Jahre zu tun und daraus eine längerfristige
Angelegenheit zu machen. Ich darf einen erheblichen Teil dieses Dankes und
Lobes an den früheren Vorsitzenden der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin,
Herrn Dr. Manfred Richter-Reichhelm, weitergeben, der dieses Thema sozusagen
gespürt hat, als die Ärztekammer und die Kassenärztliche Vereinigung Berlin
umgezogen sind und dabei Funde von Dateien erfolgten, mit deren Hilfe man ermitteln
konnte, was damals passiert ist. Damit hatte man Originalmaterial und
geschichtliche Substanz zur Verfügung, um sich dieses Problems noch intensiver
anzunehmen.
Ich darf in aller Bescheidenheit darauf hinweisen, dass wir
uns nicht erst in diesem Jahrzehnt mit diesen Themen beschäftigen. Zumindest
für die Zeit, die ich dabei bin, kann ich sagen, dass wir uns auf dem
Karlsruher Ärztetag 1987 und auf dem Berliner Ärztetag 1989 intensiv damit
beschäftigt haben.
Zu diesem Thema gibt es aus der Ärzteschaft bereits - wenn ich
so sagen darf - aus dem vorigen Jahrhundert Literatur. Thomas Gerst, den Sie,
Frau Ministerin, vorhin erwähnt haben, hat dazu ein Werk verfasst. Norbert
Jachertz, der frühere Chefredakteur des "Deutschen Ärzteblatts", hat ebenso wie
viele andere auch dazu Arbeiten veröffentlicht.
Wir haben dieses Thema also schon etwas früher entdeckt als in
diesen Tagen; mit dieser Penibilität kann es allerdings erst jetzt bearbeitet
werden, nachdem wir solche wertvollen und vor allem unsere Erkenntnisse
erweiternden Funde gemacht haben.
Wir stimmen völlig überein, auf diesem Weg fortzuschreiten.
Wir sind Ihnen dankbar, Frau Ministerin, dass das Bundesgesundheitsministerium
mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und uns diese Arbeit gern fortsetzen
will. Die Forschungsarbeit von Frau Rebecca Schwoch, einer Historikerin aus
Hamburg, die auf den Funden in Berlin basiert, ist noch nicht zum Abschluss
gekommen.
Ich komme damit zum Thema Patientenverfügungen. Das zu
besprechen hatte ich eigentlich nicht vorgesehen, weil es sich da um eine
Angelegenheit des Bundesjustizministeriums handelt. Natürlich weiß ich, dass
sich unsere Damen und Herren Abgeordneten, die hier sind, dieses Themas
intensiv angenommen haben. Ich habe den Wortbericht des Deutschen Bundestages
vom 29. März komplett durchgelesen, weil ich nicht dabei sein konnte. Ich bin
wirklich beeindruckt von der Ernsthaftigkeit und auch der großen Kenntnis der
Problematik, die dort zum Ausdruck gekommen ist.
Ich hoffe sehr, dass die Diskussionen, die über die
verschiedenen Gesetzentwürfe stattfinden, sich fortsetzen werden und dabei auch
berücksichtigt wird, dass wir als Bundesärztekammer seit dem Jahre 2004
Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung publiziert haben, die wertvolle
Inhalte enthalten. Das haben uns viele, viele Wissenschaftler und
Praktizierende, die in diesem Bereich arbeiten, versichert.
Die vom Vorstand der Bundesärztekammer gemeinsam mit der
Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer unlängst publizierten Empfehlungen
zum Umgang mit Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten - das ist ein
wichtiger Punkt -, die am 27. März 2007 der Öffentlichkeit vorgestellt worden
sind, mögen bei diesen Beratungen ebenfalls eine Rolle spielen. Wir freuen uns,
dass es mittlerweile auch einen Gesetzentwurf gibt, der darauf Rücksicht nimmt,
dass es - so haben Sie, Frau Ministerin, es auch gesagt - Rechtssicherheit zu
diesem Thema bei jedem Einzelfall nicht geben kann. Das ist unmöglich.
Der Gesetzgeber sollte sich darauf konzentrieren, insbesondere
Verfahrensvorschriften zu erlassen - das ist in Ordnung -, beispielsweise dazu,
ob eine schriftliche Verfügung bzw. Vollmacht vorliegen muss oder ob eine
mündliche reicht, wann das Vormundschaftsgericht anzurufen ist und dergleichen
mehr. Der Gesetzgeber sollte nicht versuchen, sich in die individuellen
Patient-Arzt-Beziehungen bzw. Patient-Pflegenden-Beziehung einzumischen, denn
das muss schiefgehen und schafft mehr Rechtsunsicherheit als Rechtssicherheit,
weil es eine Scheinsicherheit sein muss, die nicht auf den Einzelfall passen
kann.
(Beifall)
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Frau Ministerin hat sich etwas zurückgehalten, was das
Wettbewerbsstärkungsgesetz angeht; zumindest hat sie gesagt, sie wolle dies.
Mit Verlaub, ich kann das leider nicht tun,
(Beifall)
weil wir, sehr verehrte Frau Ministerin, unter diesem Gesetz
und seinen Vorgängern, dem Gesetz von 2002 und dem
Gesundheitsmodernisierungsgesetz von 2004, zu leiden beginnen. Diese Gesetze
haben unsere Erwartungen nicht erfüllt, eher unsere ärgsten Befürchtungen
übertroffen.
(Beifall)
Deswegen haben auch Zehntausende von Ärztinnen und Ärzten im
vergangenen Jahr demonstriert. Wir haben protestiert und sogar gestreikt, aus
verschiedenen Motiven. Das hatte diese Republik bisher noch nicht erlebt.
Aber was führt dazu, dass Menschen, die ja eigentlich ihren
Beruf leben, plötzlich auf die Straße gehen? Bei uns ist es das Gefühl der
völligen Fremdbestimmung unseres ärztlichen Handelns.
(Beifall)
Ich glaube Ihnen Ihre guten Absichten. Aber alle wissen - die
Journalisten sowieso -, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was man
sendet, und dem, was ankommt. Das muss nicht immer dasselbe sein. Wir empfinden
es so, dass unsere Freiheit noch nie so infrage gestellt worden ist. Deswegen haben
wir noch nie zuvor so für die Freiheit unseres Berufs gekämpft. Ich persönlich
und, wie ich glaube, wir alle sind darauf stolz.
(Beifall)
Wir haben eine neue, alle Arztgruppen übergreifende
Solidarität bewiesen. Wir sind gemeinsam aufgestanden für eine
Patientenversorgung nach den ethischen Grundüberzeugungen unseres Berufs. Wir
haben deutlich gemacht, dass es ohne vernünftige Arbeitsbedingungen und
ausreichende Freiheitsgrade eben keine gute Medizin geben kann.
Und wir sind auch gehört worden in der Öffentlichkeit. Die
Menschen haben uns verstanden, auch viele Menschen in der Politik. Aber es gab
da wohl - ich möchte einmal sagen - Sachzwänge in der Großen Koalition, die
einfach zu wenig Spielraum für - aus unserer Sicht - praktische Vernunft
ließen.
(Beifall)
Viele Politikerinnen und Politiker der Koalition haben
erkennen lassen, dass vermeintlich übergeordnete Interessen den Kompromiss
notwendig gemacht haben. Aber der Preis, den Patientinnen und Patienten sowie
Ärztinnen und Ärzte dafür zahlen müssen, ist hoch, für viele unserer
Kolleginnen und Kollegen zu hoch.
(Beifall)
Mit diesem Gesetz ist keines der wesentlichen Probleme im
Gesundheitswesen gelöst. Das, was vorher als das Wichtigste angesehen wurde,
nämlich die Ordnung der Finanzen, ist nicht gelöst worden. Wir haben keine
dauerhaften Finanzgrundlagen. Wir werden durch dieses
GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz nicht weitergebracht. Ich glaube, das Ziel, das
hier gesetzt wurde, ist verfehlt worden.
Durch die Finanzierung des neuen Gesundheitsfonds - im
Wesentlichen lohnbezogene Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern - fließt
kein zusätzlicher Euro in das System. Die begrenzten Mittel werden lediglich
neu verteilt. Das ist uns nicht vorausschauend genug, meine Damen und Herren.
Das ist an sich doch eine gewisse Bankrotterklärung und eine Hilfsausflucht.
(Beifall)
Die künftige Festlegung des allgemeinen Beitragssatzes durch
die Bundesregierung ist doch letztlich nichts anderes als ein Globalbudget,
über das innerhalb der jeweiligen Regierung jedes Jahr neu verhandelt wird.
(Beifall)
Die Diskussionen in der Koalition über die Finanzierung der
Bundeszuweisungen an die Krankenkassen haben schon jetzt erkennen lassen, dass
die Beitragsfestsetzung vor allen Dingen von haushaltspolitischen Erwägungen bestimmt
sein wird, weniger - das ist der entscheidende Punkt - von der Notwendigkeit
einer bedarfsgerechten Versorgung für alle.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, was bedeutet eigentlich
"GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz"? Wird da wirklich Wettbewerb gestärkt? Wer
soll mit wem konkurrieren? Wer sind die Kunden? Was ist die Ware? Ich weiß, das
klingt banal, ist aber ehrlich in der Analyse. Denn ich bezweifle, dass ein
patientengerechtes Gesundheitswesen nach den Gesetzen der Marktwirtschaft funktionieren
kann.
(Beifall)
Ich habe den Eindruck - lassen Sie mich das in aller
Deutlichkeit sagen -, dass hier die Prinzipien der reinen und nicht etwa der
sozialen Marktwirtschaft eingeführt worden sind. Erst sind die Ärzte
Leistungsanbieter, dann sind die Patienten Krankheitsanbieter. Dann gibt es
Krankheit als Geschäftsgegenstand, dann werden die Ärzte Erfüllungsgehilfen im
Medizingeschäft, und schließlich, meine Damen und Herren, haben wir eine
Fließbandmedizin für den Krankheitsträger. Ist das wirklich eine Entwicklung,
die wir haben wollen?
Ich sehe hinter dieser Entwicklung vor allem ein Prinzip: die
Entstaatlichung der Daseinsfürsorge und Daseinsvorsorge - an sich ein
Grundprinzip des deutschen Gesundheitswesens in der Nachkriegszeit - und die
Verstaatlichung der Versorgungsprozeduren. Dies ist das durchgängige Prinzip
der eben genannten Gesundheitsreformen der letzten Jahre.
(Beifall)
Und die Rolle von uns Ärztinnen und Ärzten ist darin klar
vorgezeichnet - das wird von uns jedenfalls so empfunden -: Vollzug staatlicher
Rationierung einerseits, Entindividualisierung der Patient-Arzt-Beziehung
andererseits.
Die Freiberuflichkeit, meine Damen und Herren, die ärztliche
Unabhängigkeit in der Therapiefindung, auf die der Patient bisher vertrauen konnte,
diese Freiberuflichkeit stört offensichtlich in einem System staatlich
gelenkter Gesundheitswirtschaft. Davon sprechen wir ja heute.
(Beifall)
Ärztinnen und Ärzte sollen rationieren und im Wettbewerb
untereinander funktionieren. Nichts anderes bedeutet doch die
Wettbewerbsstärkung für Ärzte und Patienten. Und was heißt das ganz konkret?
Was bedeutet Wettbewerb beispielsweise für den stationären Sektor?
Mit der zunehmenden Privatisierung im Kliniksektor geht leider
auch eine Konzentration einher oder, wie es im Jargon der Gesundheitsökonomen
heißt, eine "Marktbereinigung" der Krankenhauslandschaft. Das
Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung hat ausgerechnet, dass
etwa 10 Prozent der Krankenhäuser bis 2010 vom Markt verschwinden werden. Im
Krankenhaus Rating Report 2006 des Instituts heißt es dazu lapidar:
Marktbereinigung verbessert Systemeffizienz.
Die Schließung von Krankenhäusern werde sich vor allem an
betriebswirtschaftlichen Kriterien orientieren und nicht an der
Versorgungssicherheit. Versorgungslücken könnten daher prinzipiell entstehen,
sagen selbst die Experten des RWI.
Viele der Krankenhäuser aber stünden jetzt nicht mit dem
Rücken zur Wand, wenn der Staat bei den Investitionen nicht sage und schreibe
30 Milliarden Euro eingespart hätte.
(Beifall)
Wegen der zunehmenden Ökonomisierung sind deshalb auch immer
weniger Krankenhäuser bereit, Ärztinnen und Ärzte, die noch keine
Facharztanerkennung besitzen, einzustellen. Angesichts des schon jetzt
bestehenden Ärztemangels in bestimmten Fachgebieten, zum Beispiel in der von
Ihnen, Frau Ministerin, eben auch angesprochenen hausärztlichen Versorgung, ist
das eine erschreckende Aussicht mit fatalen Folgen für die Versorgung in
späterer Zeit.
Als wenn das nicht schon genug wäre, legt der Staat mit dem
Sonderopfer von jährlich 380 Millionen Euro noch eine Schippe drauf und sagt:
Demografie hin oder her, sparen ist nicht schwer.
Aber so lustig ist die Sache dann doch nicht. Für die kleinen,
besonders die kommunalen Krankenhäuser ist das kaum zu stemmen; sie können sich
allenfalls als Übernahmekandidaten empfehlen. Die Wettbewerbsstärkung ist dann
nur zum Vorteil der Großen in der Krankenhauslandschaft, die Kleinen bleiben
auf der Strecke, die stationäre Grundversorgung wird empfindlich getroffen.
(Beifall)
Gewiss: Die Gesundheitsminister der Länder haben zwar immer
wieder bekundet, ihre Zuständigkeit für die Gestaltung der
Krankenhauslandschaft verteidigen zu wollen, unlängst wieder auf einer
Sonderkonferenz. Allein der Blick in die Vergangenheit lässt uns doch mehr als
zweifeln.
Aber was machen denn dann die Menschen in den
strukturschwachen Gebieten? Die Alten und die chronisch Kranken haben doch
schon jetzt Schwierigkeiten, eine Hausärztin oder einen Hausarzt zu finden. Sie
sind aber doch angewiesen auf eine wohnortnahe Versorgung. Diese Menschen haben
dann noch längere Wege zum nächsten Krankenhaus und wegen der Konzentration
auch noch längere Wartezeiten.
Wartezeiten, Personalabbau und Einschränkungen des
Leistungsumfangs, meine Damen und Herren, das nennt man strukturelle
Rationierung. Keiner weiß, ob es ihn trifft, und keiner weiß, wann es ihn
trifft.
Das Sonderopfer war schon beim Zustandekommen der Reform nicht
zu rechtfertigen, und erst recht nicht in Zeiten wachsender Konjunktur.
(Beifall)
Allein in diesem Jahr hat die öffentliche Hand 20 Milliarden
Euro Mehreinnahmen zu erwarten, im nächsten Jahr sogar 40 Milliarden Euro.
Niemand von uns hat etwas dagegen, wenn damit die Schulden des
Staates reduziert werden. Dann muss er aber auch seine Schulden gegenüber den
Krankenhäusern begleichen und das völlig überflüssige Sonderopfer ersatzlos
streichen!
(Beifall)
Auch im ambulanten Bereich hat sich die Ministerialbürokratie
viel Mühe gegeben, die Verantwortung für Rationierung den Ärzten zuzuweisen.
Denn der Staat möchte nicht mit den Folgen der Ressourcenbegrenzung
identifiziert werden. Deshalb soll nun der Gemeinsame Bundesausschuss - wir
empfinden ihn de jure zwar noch als Instrument der Selbstverwaltung, de facto
aber als eine ausführende Behörde -
(Beifall)
maßgeblich über die Verteilung der knappen Mittel entscheiden
und über Maßnahmen zur Qualitätskontrolle die Leistungsmenge und auch
Leistungsinhalte steuern.
Welche gesundheitspolitische Blaupause liegt also diesem
Gesetz zugrunde? Ich darf noch einmal die wesentlichen Punkte benennen:
-
Aufbau einer Zentralverwaltungswirtschaft für die Krankenkassen
-
Marktbereinigung des Kliniksektors mit implizierter Rationierung
-
Errichtung einer unterstaatlichen Rationierungsbehörde
im ambulanten und stationären Bereich
-
Zerstörung der ärztlichen Freiberuflichkeit.
Das GKV-WSG, davon bin ich fest überzeugt, ist das Sprungbrett
in die Bürgerversicherung. Wie anders sollte man die GKVisierung der PKV und
die PKVisierung der GKV verstehen? Zunächst werden die Strukturen angeglichen -
die einen bekommen Elemente der PKV-Wahltarife und die anderen Elemente der
GKV, genannt Basistarif mit Kontrahierungszwang usw. -, und so heben sich
sukzessive die Unterschiede auf. Sie verkrallen sich irgendwie und sind dann eines
Tages ineinander übergegangen. Das kann man politisch beschleunigen.
Katalysatoren dafür wären etwa weitere Gesetze.
Ich will Ihnen sagen, worauf das zielt: auf eine
Einheitsversicherung mit Einheitsbeitrag und Einheitsmedizin. Aber das wollen
wir nicht, und ich glaube ganz fest: Das wollen auch unsere Bürgerinnen und
Bürger nicht.
(Lebhafter Beifall)
Die Medizin befindet sich unzweifelhaft in einem Konflikt zu
dieser verstärkten Wirtschaftlichkeit, zur, wie wir es nennen,
Durchökonomisierung, und die heimliche Rationierung ist eben das taktische
Werkzeug. Das müssen wir aufdecken.
Es geht um die Frage, wie trotzdem gute Medizin dauerhaft für
die Bevölkerung gesichert werden kann, trotz demografischer Entwicklung, trotz
Finanzmisere der gesetzlichen Krankenversicherung und trotz fortwährend
versuchter Standardisierung ärztlicher Behandlungen.
Wie viel Individualität in der Behandlung wird angesichts der
Industrialisierungstendenzen noch möglich sein? Die Antwort auf diese Frage
wird maßgeblich davon abhängen, wie sehr wir Ärztinnen und Ärzte unseren Beruf
auch in Zukunft noch unabhängig und selbstbestimmt ausüben können.
Aber gute Medizin setzt besonders Vertrauen voraus. Der
Patient und die Patientin erwarten zu Recht von ihren Ärztinnen und Ärzten eine
individuelle Behandlung entsprechend den Möglichkeiten der modernen Medizin.
Allerdings kann dieser Anspruch zunehmend nicht mehr erfüllt werden. Es klafft
eine Lücke zwischen dem, was möglich ist, und dem, was geschieht.
Der ärztliche Alltag wird bestimmt durch schlechte
Arbeitsbedingungen, knappe Zeit- und Finanzressourcen sowie durch eine
überbordende Bürokratie. Daran hat sich nichts geändert.
(Beifall)
Das war schon 1996 Thema im Kölner Gürzenich, als das SGB V
durch die Streichung von Texten halbiert werden sollte. Anschließend war es
anderthalbmal so dick. Staatlich vorgegebener Dokumentationszwang bindet Zeit,
die für die Patientenbehandlung verloren geht. Da stimme ich mit Theo Windhorst
überein.
Da wird von der Politik immer wieder ein Mehr an sprechender
Medizin gefordert, auch heute noch, doch dann wird der ärztliche Nachwuchs -
ich weiß das aus eigener Erfahrung und aus der Familie - für die Fütterung der
Bürokraten missbraucht.
(Lebhafter Beifall)
Die ärztliche Versorgung wird immer mehr durch planerische
Vorgaben für die Patientenbetreuung gesteuert, sei es durch
Disease-Management-Programme oder DRGs oder jüngst auch durch
Industrialisierungstendenzen im Kliniksektor.
So, meine Damen und Herren, können wir die jungen Kolleginnen
und Kollegen nicht für die Patientenversorgung in Deutschland gewinnen.
Ich darf hierzu einen Ihnen nicht unbekannten
Krankenhausmanager einer großen Klinikkette zitieren:
Jeder Krankenhausbetreiber sollte permanent bemüht sein,
das ärztliche Personal in der Art und Weise einzubinden, dass nachhaltiges
Unternehmenswachstum sichergestellt wird.
Ein derart eingebundener Arzt aber kann nicht mehr frei sein.
Er soll es wohl auch gar nicht. An anderer Stelle seiner Rede bringt der
Klinikmanager es dann vollends auf den Punkt. Ich darf noch einmal zitieren:
Die derzeitige Leistungserbringung entlang der Wertschöpfungskette
am Patienten im Krankenhaus folgt zudem weniger einer industriellen
Fertigungslogik, sondern ist durch ein tradiertes, eher handwerkliches Arztverständnis
geprägt.
So klassifiziert er uns.
Der Herr Manager hat für diesen von ihm beklagten
vermeintlichen Missstand gleich eine Lösung parat. Die bisherige
fachgebietsbezogene Spezialisierung soll zukünftig durch eine
funktionsorientierte Spezialisierung erweitert werden. Ich zitiere noch einmal:
Aus ökonomischer Sicht sind die Ärzte dort einzusetzen .,
wo sie die größte Wertschöpfung erbringen.
Dann stellt der Herr Manager in seinem Fazit schließlich fest:
Mit der neuen ärztlichen Arbeitsteilung geht die Krankenversorgung
denselben Weg der Industrialisierung wie die Automobilindustrie vor hundert
Jahren.
Das ist also das neue Berufsbild vom Funktionsarzt an der
Wertschöpfungskette Patient.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor das passiert,
werden wir von Freiberuflern zu Freiheitskämpfern!
(Anhaltender lebhafter Beifall)
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese
Art von vollständiger Kontrolle ärztlichen Handelns ist das ökonomische
Spiegelbild dessen, was wir im politischen Raum schon vor Jahren als
Misstrauenskultur erlebt haben.
(Beifall)
Die Individualität der Patient-Arzt-Beziehung aber entzieht
sich sui generis staatlicher Kontrolle und wirtschaftlicher Planung.
Dabei muss es bleiben, und daran darf auch der neuerliche
Versuch eines Lauschangriffs nichts ändern.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, Vertrauen bedingt Vertraulichkeit.
Jede Patientin und jeder Patient müssen ihrer Ärztin und ihrem Arzt rückhaltlos
offenbaren können, welches die eigenen Beschwerden sind. Der Patient muss ohne
jeden Vorbehalt darauf vertrauen können, dass das, was er dem Arzt mitteilt,
unter die ärztliche Schweigepflicht fällt und geheim bleibt. Das
Patientengeheimnis ist eines der wichtigsten Rechte von Patientinnen und
Patienten überhaupt.
(Beifall)
Durch den Gesetzentwurf zur Neuregelung der
Telekommunikationsüberwachung - nicht aus dem Hause GMG, Ulla Schmidt - und die
geplante Vorratsspeicherung wird das höchstpersönliche Vertrauensverhältnis
zwischen Arzt und Patient aber grundsätzlich infrage gestellt.
Die Politik suggeriert hier, dies diene allein der Abwehr oder
der Ermittlung von Terrorismus und anderer Straftaten. Doch das ist eine
gewisse, wenn nicht sogar grobe Irreführung der Öffentlichkeit. Die Pläne der
Regierung erfassen auch Vergehen zum Beispiel gegen das Betäubungsmittelgesetz.
Ärztinnen und Ärzte, die schwerpunktmäßig Drogensüchtige behandeln, geraten
allein durch Telefonkontakte zu ihren Patientinnen und Patienten rasch in den
Verdacht, an Straftaten beteiligt zu sein.
Telefonkontakte von Geistlichen, Abgeordneten und
Strafverteidigern bleiben unangetastet. Nicht mehr und nicht weniger verlangen
auch wir.
(Beifall)
Patienten müssen mindestens die gleichen Rechte haben wie
Mandanten, wenn es um den Schutz ihrer Privatsphäre geht. Deshalb fordern wir
mit allem Nachdruck, den Lauschangriff auf uns Ärzte zu unterlassen!
Die Wahrung der Vertraulichkeit muss höchste Priorität haben.
Das gilt gleichermaßen auch für die Einführung der elektronischen
Gesundheitskarte. Die technischen Lösungen müssen so gestaltet sein, dass die
Patient-Arzt-Beziehung unabhängig von der Gesetzeslage uneingeschränkten Schutz
genießt und die Daten vertraulich bleiben. Der Zugriff durch Unbefugte auf die
hochsensiblen Patientendaten muss auch in Zukunft kategorisch ausgeschlossen
bleiben, sonst droht auch hier eine Art permanenter Lauschangriff.
Bei der derzeitigen Ausrichtung des Projekts elektronische
Gesundheitskarte scheinen lediglich administrative Prozesse wie E-Rezept oder
die Vereinfachung von Verwaltungsvorgängen bei den Krankenkassen bedient zu
werden. Der Nutzen für Patienten und Ärzte ist offenbar zunächst einmal
nachrangig. Auch die Ergebnisse der ersten Tests zeigen, dass der Einsatz im
Regelbetrieb zu erheblichen Störungen der Patientenversorgung führt.
Verstehen Sie mich bitte recht: Wir sind für eine grundlegende
Modernisierung der Kommunikation im Gesundheitswesen. Wir sehen durchaus die
großen Chancen der Telematik, aber wir müssen auch ehrlich die Risiken
aufzeigen und gegebenenfalls Konsequenzen ziehen.
Und dann muss auch unmissverständlich klar sein, dass wir
nicht Zahlmeister der Telematik sind, während die anderen davon profitieren.
(Beifall)
Das, meine Damen und Herren, lehnen wir definitiv ab.
Ich bin Franz Bartmann, dem Präsidenten der
Schleswig-Holsteinischen Ärztekammer und Vorstandsmitglied der
Bundesärztekammer, der den Telematik-Ausschuss der Bundesärztekammer betreut,
sehr dankbar, dass er dieses hochkomplexe Thema für uns derart engagiert und
kompetent bearbeitet und uns mit viel Gespür für die Widrigkeiten technischer,
aber auch finanzieller
Überforderung durch dieses Minenfeld geleitet.
(Beifall)
Ich bin sicher, dass wir uns auf dem Ärztetag eingehend mit
dem Thema Telematik befassen werden. Wir müssen und wir werden für alle
unmissverständlich aufzeigen, unter welchen Bedingungen die deutsche
Ärzteschaft bereit ist, das Projekt elektronische Gesundheitskarte mitzutragen.
Meine Damen und Herren, ein weiteres, von Vertrauen in uns
Ärztinnen und Ärzte geprägtes Thema ist die von Ihnen, Frau Bundesministerin,
schon angesprochene Organspende. Auf diesem Ärztetag wollen wir - zehn Jahre
nach Verabschiedung des Transplantationsgesetzes - eingehend die Zukunft der
Transplantationsmedizin in Deutschland diskutieren. Zwar haben wir eine breite
Zustimmung zur Organspende in unserer Gesellschaft, gleichwohl haben wir einen
großen Mangel an Spenderorganen; das wissen wir. 12 000 Patienten warten
auf ein Organ, hoffen auf ein neues Leben. Doch jeden Tag versterben drei
Menschen auf der Warteliste.
Der Nationale Ethikrat hat nun für ganz Deutschland eine Art
Widerspruchslösung bei der Organspende gefordert. Dieser Vorschlag wird auch
von vielen Transplantationsmedizinern unterstützt. Wir werden in den nächsten
Tagen offen und ehrlich darüber diskutieren und auch die Möglichkeiten der
Lebendspende eingehend erörtern.
Frau Bundesministerin, Sie haben sich in der Frage
Zustimmungslösung oder Widerspruchslösung bekannt. Da sind wir
unterschiedlicher Meinung. Ich denke, wir sollten doch so viel Aufforderung an
unsere Mitmenschen in Deutschland richten, sich mit dem Thema
auseinanderzusetzen. Sie müssen sich natürlich nicht zwingend mit ihrem Tod
auseinandersetzen. Aber wenn sie es hinsichtlich der Patientenverfügung tun
sollen, warum dann nicht auch bei der Frage einer eventuellen Organspende?
(Beifall)
Wenn wir das richtig und intensiv tun und dafür sorgen, dass
jeder dieses Thema einigermaßen durchschauen könnende Mensch weiß, was
geschieht, fließen meines Erachtens Widerspruchslösungen und
Zustimmungslösungen ineinander, dann gibt es keine richtige Trennung mehr. Dann
werden sie vielleicht alle bereit sein, entweder durch eine entsprechende
Äußerung oder durch einen Organspendeausweis, wie ich ihn nicht nur seit heute,
sondern seit einigen Jahren habe, zu bekunden, dass sie bereit sind, Organe zu
spenden und Nächstenliebe zu üben.
Insofern glaube ich, dass dieser Weg der richtige Weg ist,
denn dann wird Vertrauen das wesentliche Prinzip sein, über das wir die
Bevölkerung immer wieder erreichen müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen natürlich auch
darüber nachdenken, wie wir strukturelle Defizite im stationären Bereich
beseitigen können, etwa durch die verbindliche Einführung von
Transplantationsbeauftragten an allen Krankenhäusern; denn dem stressgeplagten
Arzt in einer entsprechenden Situation auch noch lange Gespräche mit den
Angehörigen abzuverlangen, wenn vielleicht der nächste Patient ihn schon nötig
braucht, ist in vielen, vielen Fällen eine Überforderung.
(Beifall)
Wenn aber ein Transplantationsbeauftragter, der dieses Thema
beherrscht und entsprechend geschult ist, in aller Ruhe mit den Angehörigen
über dieses Thema reden kann, nachdem sie zuvor von den Ärztinnen und Ärzten
sanft auf dieses Thema hingewiesen worden sind, glaube ich, dass wir bei allen
Krankenhäusern, nicht nur den Transplantationszentren, mehr Erfolg haben
können. Diesen Weg wollen wir auch in Nordrhein-Westfalen beschreiten, weil wir
uns ein bisschen schämen, dass wir in dieser Beziehung am Schluss der Tabelle
stehen, was die Spendebereitschaft angeht.
Vor allem aber werden wir viel mehr Information und Aufklärung
der Bevölkerung über die Chancen der Organspende einfordern müssen; denn nach
wie vor haben nur 12 Prozent der Menschen in unserem Lande einen Organspendeausweis.
Wenig hilfreich war die im ursprünglichen Regierungsentwurf
zum Gewebegesetz angelegte Kommerzialisierung der Gewebemedizin. Sie, Frau
Bundesministerin, haben uns gerade Mut und Hoffnung gemacht. Weil nicht alle
genau wissen, was zuvor vorgesehen war und was wir wegbekommen müssen, möchte
ich darstellen, was im ursprünglichen Regierungsentwurf stand, und mich dann
dafür bedanken, wie weit wir doch schon nach vorne gekommen sind.
Das Vorhaben der Kommerzialisierung der Gewebemedizin hat uns
schlichtweg entsetzt. Denn nach dem Entwurf zur Umsetzung der
EU-Geweberichtlinie - die Frau Bundeskanzlerin hat ja in ihrer
Regierungserklärung versprochen, dass alle EU-Richtlinien eins zu eins
umgesetzt werden sollen - sollen menschliche Zellen und Gewebe dem
Arzneimittelrecht unterstellt werden, um damit - ganz im Sinne des
marktwirtschaftlichen Wettbewerbs - gewinnträchtig Handel treiben zu können.
Alle Gewebearten sollen danach gleichermaßen den arzneimittelrechtlichen
Anforderungen einer Herstellungs- und Zulassungserlaubnis unterworfen werden.
Das war die Absicht. Ich weiß nicht, ob dies in allen Einzelheiten schon nicht
mehr der Fall ist.
Aufgrund der undifferenzierten Verwendung des Begriffs
"Keimzellen" würden sogar befruchtete Eizellen im Vorkernstadium dem
Geltungsbereich des Arzneimittelgesetzes unterstellt. Nach dieser
Rechtsdefinition, meine Damen und Herren, wären wir alle hier - ich kann mir
nicht verkneifen, das zu sagen - gleichermaßen Arzneimittel wie
Arzneimittelhersteller.
(Heiterkeit)
Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, aber das geht zu
weit.
(Beifall)
In einem Zwischenentwurf habe ich gelesen, dass Keimzellen von
dieser Idee ausgenommen worden sind. Das ist mir viel zu wenig. Das darf
überhaupt kein Thema sein. Wer darüber diskutiert, ob es ein Thema ist oder nicht,
macht meines Erachtens schon einen Sprung zu viel, zu weit und zu hoch. Er
macht einen Fehler.
Das Problem, das sich aus der formalen Gleichsetzung
menschlicher Gewebe mit Arzneimitteln ergibt, ist in der Tat gravierend.
Kliniken, die Gewebe zu Transplantationszwecken - wie beispielsweise
Herzklappen, Knochenmarkzellen oder Augenhornhäute - entnehmen, konservieren
und zur Transplantation abgeben, werden durch die arzneimittelrechtliche
Ausrichtung des Gesetzentwurfs zu pharmazeutischen Unternehmen oder externen
Betriebsstätten. Ich weiß, was das ist. Ich habe das bis zum 31. Oktober
letzten Jahres auch gemacht, und zwar in der Transfusionsmedizin. In der Folge
dessen müssten sie unter anderem Herstellungserlaubnisse erwerben,
Zulassungsverfahren bestehen und sich gegen verschuldensunabhängige
Haftungsfälle mit einer Schadenshöhe bis zu 120 Millionen Euro versichern.
Viele Gewebebanken wären in ihrer Existenz gefährdet - und damit auch die
Versorgung der betroffenen Patientinnen und Patienten.
Die Organtransplantation in Deutschland ist akzeptiert, weil
sie auf zwei klaren Prinzipien gründet: auf dem Altruismus und auf der
Verteilung der Organe nach den medizinischen Kriterien Dringlichkeit und
Erfolgsaussicht. Stellt man diesem Bereich der Medizin eine gewerblich
organisierte Gewebemedizin gegenüber, ist auch die Organtransplantation in
Gefahr. Im schlimmsten Fall streiten dann die Beteiligten darüber, ob das Herz
eines Spenders nach altruistischen Prinzipien einem Empfänger als ganzes Organ
transplantiert wird oder aber ob die Herzklappen als kommerzialisierbares
Gewebe entnommen werden.
Das muss weg. Wenn das geschehen sein sollte, sind wir sehr
beruhigt. Wir werden das natürlich sehr intensiv verfolgen.
Wir sind dabei, eventuell Vertrauen zu zerstören. Dieses
Vertrauen muss aber gerettet werden. Wir sind deshalb dankbar für das, was Sie,
Frau Bundesministerin, gesagt haben, aber auch dafür, dass die Union bereits
begonnen hat,
über Änderungsanträge diese Kommerzialisierung zu begrenzen. Das Beste wäre, das
Gewebespendegesetz nach denselben Prinzipien zu regeln wie die Organspende.
Organspende setzt Nächstenliebe voraus und ist Ausdruck von besonderer sozialer
Verantwortung - ein Gut, meine Damen und Herren, das in unserer Gesellschaft
brüchig geworden ist und an dieser Stelle besonders eklatant wird.
Ich bin wahrlich kein Globalisierungsgegner und schmeiße auch
nicht mit Steinen, wenn mir etwas nicht passt. Demokratie setzt
selbstverständlich voraus, dass man Mehrheitsentscheidungen akzeptiert, aber
die Diskussionskultur dahin ist manchmal doch schon fraglich. Und es stimmt
mich natürlich traurig, wenn wir mehr über Wettbewerb als über wirkliche
Solidarität reden.
Wir sind uns doch sicher darüber einig, meine Damen und
Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der Charakter einer Gesellschaft zeigt
sich vor allem im Umgang mit den Schwachen, den Alten, den Kranken und den
Kindern. Vordergründig haben wir, was die Gesundheit der Kinder in unserem Land
angeht, keinen Grund zur Klage. Der Rückgang der Säuglingssterblichkeit in den
vergangenen Jahrzehnten und die wirksame Behandlung verbreiteter Infektionskrankheiten
sind wichtige Indikatoren für eine gute Gesundheitsversorgung von Kindern und
Jugendlichen in Deutschland.
Dennoch gibt es ernsthafte Gesundheitsprobleme, denen
bestimmte Gruppen von Kindern und Jugendlichen ausgesetzt sind. Etwa 20 Prozent
der Kinder und Jugendlichen im Alter von 7 bis 17 Jahren haben psychische
Probleme wie Störungen des Sozialverhaltens, Ängste, Depressionen und
Wahrnehmungsstörungen.
Insbesondere Armut birgt für Kinder ein hohes Risiko,
psychisch zu erkranken. Jedes zehnte Kind wächst in relativer Armut auf. Kinder
und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien zeigen häufiger
Sprachstörungen, Entwicklungsrückstände und psychische Auffälligkeiten. Dabei
ist das Risiko einer Depression oder Verhaltensstörung bei vernachlässigten
oder misshandelten Kindern besonders hoch. Aber längst nicht alle dieser Kinder
befinden sich in entsprechender Behandlung.
Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey des
Robert-Koch-Instituts liefert erstmals für Deutschland eine systematische und
repräsentative Berichterstattung zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.
Wir werden die gesellschaftliche Dimension dieser Ergebnisse hier auf dem
Ärztetag diskutieren und Möglichkeiten der Prävention aufzeigen.
Ärzte erkennen Vernachlässigungen, wenn sie denn die Kinder
überhaupt sehen. Wir bieten dazu sogar eine spezielle Fortbildung an. Nur sind
die Eltern nicht verpflichtet, ihre Kinder zur Vorsorgeuntersuchung zu bringen.
Aber, meine Damen und Herren, wenn es uns wirklich ernst ist
um die Gesundheit dieser Kinder, dann brauchen wir effiziente Frühwarnsysteme,
dann brauchen wir endlich verpflichtende ärztliche Vorsorgeuntersuchungen an
Kindergärten und Schulen, im Rahmen der Verfassung. Wir dürfen die Kinder nicht
länger allein lassen, wir müssen uns um sie kümmern, sowohl medizinisch als
auch gesellschaftlich.
Ich weiß auch nicht, warum es so schwer sein soll, einen
Gesundheitsunterricht an Schulen einzuführen, wenn es denn wirklich stimmt,
dass die Kinder unsere Zukunft sind. Wir Ärzte sind dazu bereit und haben in
Nordrhein-Westfalen schon vor über zehn Jahren gemeinsam mit den Krankenkassen
das Projekt "Gesund macht Schule" realisiert. Da gehen Ärztinnen und Ärzte in
die Schulen und informieren die Kinder über vernünftige Ernährung und
ausreichende Bewegung.
Es geht, meine Damen und Herren, wenn man nur will.
Das Gleiche gilt auch für den Jugendschutz. Es gibt keinen
wirklichen Grund, dass der Staat Werbung für Alkohol und Zigaretten zulässt,
die sich ausdrücklich an junge Menschen richtet.
(Beifall)
Gesundheitspolitik, meine Damen und Herren, das zeigen auch
diese Themen, ist etwas anderes und mehr als Beitragssicherungspolitik mit
Kostendämpfung und Leistungskontrolle. Gesundheitspolitik braucht eben den
gesamtgesellschaftlichen Ansatz.
(Beifall)
Unsere Gesellschaft entwickelt sich zu einer Gesellschaft des
langen Lebens, und das wollen wir ja auch so. Die Zahl der multimorbiden
Menschen steigt, die Zahl der dauerbehandlungsbedürftigen Menschen steigt, die
Zahl der chronisch Kranken steigt. Alle diese Menschen wollen Leistungen nach
den Möglichkeiten des medizinischen Fortschritts. Darf man dann diesen Wunsch
nach guter Medizin als Kostenexplosion diffamieren?
Unsere Wirtschaft ist zum dritten Mal in Folge
Exportweltmeister. Die Beitragszahlungen der Arbeitgeber zur gesetzlichen
Krankenversicherung machen nur 4,5 Prozent der Gesamtarbeitskosten aus. Der
Anteil der GKV-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt ist in den vergangenen zehn
Jahren mit circa 6,5 Prozent nahezu konstant geblieben. Und trotzdem wird da
wie wild von zu hohen Lohnnebenkosten und einer Gefährdung für den
Wirtschaftsstandort Deutschland gefaselt.
Ist den Wirtschaftsinstituten überhaupt schon einmal aufgefallen,
dass die jetzige Konjunkturerholung ohne eine Beitragssatzsenkung erfolgt?
(Beifall)
Meine Damen und Herren, die eigentlichen Probleme haben sich
doch ergeben aus dem langjährigen Rückgang der Zahl der
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und aus dem milliardenschweren
Missbrauch der GKV zugunsten anderer Sozialversicherungsträger.
(Beifall)
Diese Strukturprobleme in der Finanzierung sind nach wie vor
nicht gelöst, trotz GKV-WSG und trotz konjunkturellen Aufschwungs.
Deshalb hatten wir vorgeschlagen, die gesetzliche
Krankenversicherung zu stabilisieren und auf ihre originären Aufgaben
zurückzuführen. Es darf nicht weiter so sein, dass die Politik selbst durch
versicherungsfremde Leistungen und durch die sogenannte
Verschiebebahnhofpolitik die gesetzliche Krankenversicherung jährlich in
zweistelliger Milliardenhöhe belastet.
Schon allein die vollständige Finanzierung der bisherigen
beitragsfreien Kindermitversicherung aus Steuermitteln - eine zweifellos
gesamtgesellschaftliche Aufgabe - könnte zu einer Entlastung der GKV von 10
Milliarden Euro führen. Zugleich sollte die stetig steigende
Quersubventionierung der Krankenversicherung der Rentner durch die GKV
sukzessive reduziert werden, und zwar durch einen demografiebezogenen
Ausgleichsfaktor und den Aufbau von Alterungsrückstellungen.
Ich kann hier nur einige wenige unserer Vorschläge skizzieren;
alles andere würde zu weit führen. Aber eine Prämisse muss klar sein: Die
Solidarität innerhalb der GKV kann zukünftig nur noch an der tatsächlichen finanziellen
Leistungsfähigkeit der Versicherten bemessen werden.
Es gibt also durchaus Möglichkeiten, das bisherige System der
gesetzlichen Krankenversicherung zukunftsfähig zu machen.
Auf dem Deutschen Ärztetag hier in Münster werden wir unsere
Vorstellungen zu einem gesundheitspolitischen Programm andiskutieren und
Reformoptionen für ein wettbewerbsfähiges, gegliedertes
Krankenversicherungssystem aufzeigen. Denn der Weg in die Einheitsversicherung,
meine Damen und Herren, ist nicht zwangsläufig und darf auf gar keinen Fall ein
Selbstläufer werden!
(Beifall)
Wir brauchen kein politisches Korsett für Konfektionsmedizin,
sondern endlich Rahmenbedingungen ärztlicher Berufsausübung, unter denen eine
gute Versorgung kranker Menschen absolute Priorität hat.
Wir Ärztinnen und Ärzte haben im letzten Jahr deutlich
gemacht, dass wir nicht länger bereit sind, die Unterfinanzierung in der GKV
durch unbezahlte Arbeit zu kompensieren. Deshalb fordern wir die Regierung
nochmals auf, ihr Versprechen zu halten und die Budgets in der ärztlichen
Versorgung endlich wirklich abzuschaffen und nicht nur einem neuen Namen
zuzuführen.
(Beifall)
Wir können einfach nicht weiter unter Dauerbudgetierung und
verschärftem Preiswettbewerb hoch qualitative Medizin erbringen.
Die gleichen Probleme ergeben sich bei der Amtlichen
Gebührenordnung für Ärzte. Die völlig veraltete GOÄ nach § 11
Bundesärzteordnung bringt uns mit ihren widersprüchlichen Regelungen sowie
ihrem unausgewogenen Vergütungsgefüge immer häufiger in Abrechnungskonflikte
und Rechtsstreitigkeiten. Dabei hat die GOÄ als staatliche Gebührenordnung
eigentlich eine ordnungspolitische Funktion. Sie soll den Patienten vor
unangemessenen Entgeltforderungen schützen und uns Ärztinnen und Ärzten als
amtliche Gebührentaxe dienen. Doch eine solche modernisierte Gebührenordnung
ist seit Jahren überfällig.
(Beifall)
Wir möchten auch nicht gerne so lange warten, bis die im SGB V
unter dem Namen "Gebührenordnung" rubrizierende Vergütungsordnung, wie sie
eigentlich heißen müsste, plötzlich eine solche Bedeutung bekommt, dass sie automatisch
in die amtliche Gebührenordnung übergeht oder letztere gar gestrichen wird.
(Beifall)
Wir Ärztinnen und Ärzte brauchen endlich Transparenz,
Honorargerechtigkeit und Rechtssicherheit.
Gemeinsam mit den ärztlichen Berufsverbänden und
wissenschaftlichen Fachgesellschaften haben wir klare Konzepte erarbeitet und
vorgelegt, wie die GOÄ modernisiert werden kann.
Nutzen Sie doch endlich den ärztlichen Sachverstand, fragen
Sie die Beteiligten und Betroffenen im Gesundheitswesen. Die werden Ihnen
sagen, wo die wirklichen Probleme liegen und welche Lösungen die Patientinnen
und Patienten brauchen.
Wir bieten Ihnen diese Zusammenarbeit an, meine Damen und
Herren Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Deshalb schlage ich Ihnen vor,
einen - wie das früher einmal der Fall war - Bundesgesundheitsrat einzurichten,
der im vorpolitischen Raum sachgerecht und transparent Entscheidungen für das Gesundheitswesen
vorbereitet. Hier könnten gesundheitspolitische und wirklich patientenorientierte
Prioritäten unter ärztlichen, ethischen, gesundheitswissenschaftlichen und auch
sozialen Kriterien entwickelt und dann mit allen Betroffenen diskutiert werden.
Das würde auch die Akzeptanz der anschließenden Gesetzgebung deutlich erhöhen.
(Beifall)
Das aber setzt natürlich voraus, dass man ehrlich miteinander
umgeht und fair bleibt im Umgang. Dem diametral entgegengesetzt aber ist die
alljährliche Stimmungsmache, diese fast schon konzertierte Aktion kollektiver
Verunglimpfungen im Vorfeld des Deutschen Ärztetages. Aufgeboten wurde diesmal
alles, von "Habgier" bis "Halbgott ohne Herz", vom "Korruptionsbericht" bis hin
zum "Ärztehasserbuch". Wir hatten vor zwei Jahren ein "Lehrerhasserbuch".
Dieses wurde von einer Mutter geschrieben, während das "Ärztehasserbuch" von einem
Arzt geschrieben wurde, was besondere Schlüsse zulässt.
Sicher, der Zeitpunkt für diesen billigen Effekt war gut
gewählt, aber die Folgen sind nachhaltig. Für viele Ärztinnen und Ärzte ist es
völlig demotivierend, zu sehen, wie ihr ganzer Berufsstand in den Schmutz
gezogen wird. Unsere Kolleginnen und Kollegen leisten das Jahr über Millionen
unbezahlter Überstunden und unentgeltliche Arbeit in Klinik und Praxis, um die
Versorgung der Patienten auch da noch aufrechterhalten zu können, wo sie längst
nicht mehr bezahlt wird, von der bezahlten Versorgung einmal ganz abgesehen.
(Beifall)
Und dann wieder diese billige Polemik, diese ätzende
Kollektivdemontage. Das ist unerträglich, meine Damen und Herren. Das muss
aufhören!
(Beifall)
Wir werden uns dadurch aber überhaupt nicht einschüchtern
lassen. Im Gegenteil, wir werden jetzt erst recht die Patientinnen und
Patienten über die Probleme im Gesundheitswesen aufklären.
(Beifall)
Wir werden ihnen die Defizite benennen und auch die
Öffentlichkeit mit einbeziehen und Öffentlichkeit schaffen.
Mit Herrn Dr. Köhler und den Kollegen von den Ärzteverbänden
habe ich bereits besprochen, dass wir gemeinsam - Bundesärztekammer,
Kassenärztliche Bundesvereinigung und ärztliche Berufsverbände - eine dauerhafte
und strukturierte Aufklärung der Patientinnen und Patienten und der
Versicherten anstreben.
(Beifall)
Wir wollen unabhängig und eigenständig informieren. Dabei geht
es nicht mehr um Demonstrationen und Streiks, sondern um eine medial moderne
Direktinformation. Wir wollen den Kolleginnen und Kollegen vor Ort ganz konkret
und in Kontinuität, das heißt Quartal für Quartal, die gesundheitspolitischen
Themen aufbereiten, die sie zur Aufklärung ihrer Patienten brauchen.
(Beifall)
Mit diesem bereits begonnenen Projekt, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen, werden wir gleich nach diesem Ärztetag intensiv
weitermachen. Zum mündigen Patienten gehört eben auch, dass er umfassend über
die Versorgungsrealität in Deutschland informiert ist. Natürlich wird kein
Patient in Deutschland in den Wartezimmern etwas sehen und hören müssen, was er
nicht sehen oder hören will. Aber wir werden und wir müssen informieren, denn
die Patientinnen und Patienten sollen nie wieder sagen müssen: Das haben wir
nicht gewusst. Und die Damen und Herren Politiker sollen nie wieder sagen
dürfen: Wir wussten nicht wirklich um die Folgen unserer Reform.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
(Die Anwesenden erheben sich - Anhaltender lebhafter
Beifall)
Meine Damen und Herren, damit ist der 110. Deutsche Ärztetag
2007 in Münster eröffnet. Ich danke Ihnen.
Ich bitte jetzt noch einmal die Musiker, zum Singen der
Nationalhymne auf die Bühne zu kommen, und bitte Sie alle, sich von Ihren
Plätzen zu erheben.
Im Anschluss sind alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der
Eröffnungsveranstaltung zum Empfang der Ärztekammer Westfalen-Lippe und der
Stadt Münster in das Südfoyer herzlich eingeladen.
(Die Anwesenden singen die Nationalhymne)
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