TOP II: Ethische Aspekte der Organ- und Gewebetransplantation

Mittwoch, 16. Mai 2007, Vormittagssitzung

Prof. Dr. Lilie, Referent: Herr Präsident! Herr Vorsitzender! Sehr verehrter, lieber Herr Windhorst! Meine sehr verehrten Damen! Meine sehr geehrten Herren! Der Präsident der Bundesärztekammer hat gestern in seiner Eröffnungsrede ein Zitat meines Vortrags praktisch vorweggenommen. Was kein Wunder ist: Es stammt aus der vorletzten Ausgabe des "Deutschen Ärzteblatts". Dort hieß es, dass der Befund so einfach wie erschreckend sei: Jeden Tag sterben in Deutschland drei Menschen an akutem "Organspende-Versagen". Daher halte ich es für besonders wichtig und glücklich, dass Sie dieses Thema in Münster auf die Tagesordnung genommen haben und debattieren wollen, wie die Zukunft der Organspende in Deutschland aussehen soll.

Wir haben mit dem Transplantationsgesetz heute eine 25-jährige Debatte und ein umfangreiches Gesetzgebungsverfahren hinter uns. Zuvor hatte die Arbeitsgemeinschaft der Transplantationszentren schon 1987 die Notwendigkeit gesehen, für die Transplantationsmedizin einen normativen Rahmen zu schaffen. Es gab damals einen freiwilligen Kodex des ärztlichen Berufsrechts, in dem die medizinischen, ethischen und juristischen Prinzipien für die damals bekannten Formen der Organtransplantation festgeschrieben sind.

Es war ein glücklicher Zufall, dass der große Chirurg Rudolf Pichlmayr gemeinsam mit seinem juristischen Freund Hans-Ludwig Schreiber der Ärzteschaft Kriterien an die Hand gegeben hat, damit Prinzipien für die Organtransplantation auch ohne Gesetz geregelt worden sind. So ist damals die erweiterte Zustimmungslösung auf berufsrechtlicher Ebene vereinbart worden.

Gleichwohl blieb die Ärzteschaft nicht ruhig. Die Forderung nach einer gesetzlichen Regelung wurde immer lauter und immer intensiver, sodass in einer Reihe von Entwürfen ein Gesetzgebungsverfahren für das Transplantationsgesetz in Gang kam. Am 1. Dezember 1997 ist nach einer sehr schwierigen und sehr komplizierten Debatte das Transplantationsgesetz in Kraft getreten.

In der "Zeit" der vergangenen Woche stand, das Transplantationsgesetz habe "mehr Rechtssicherheit, aber nicht mehr Organe" für die wartenden Patienten geschaffen. Ich möchte diese Aussage etwas präzisieren: Trotz aller heute noch offenen Fragen haben wir vielleicht genug Rechtssicherheit, aber nicht genug Organe. Trotz der langen Debatte und der fehlenden spezialgesetzlichen Regelung sind wir zu einem Rechtszustand gekommen, welcher der Transplantationsmedizin den notwendigen Rahmen gegeben hat.

Gleichwohl stehen auf den Wartelisten 12 000 Patienten. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, deren Leben zu retten und ihre Lebensqualität zu verbessern.

Ziel unserer heutigen Diskussion könnte es deshalb sein, einen Konsens darüber zu erzielen, ob der Gesetzgeber einschreiten muss oder soll, um Patienten auf den Wartelisten effektiv zu helfen, oder ob andere Lösungen erfolgversprechender sind. Ich möchte am Anfang meines Vortrags gleich eines betonen: § 11 Abs. 1 des Transplantationsgesetzes lautet:

Die Entnahme von vermittlungspflichtigen Organen einschließlich der Vorbereitung von Entnahme, Vermittlung und Übertragung ist gemeinschaftliche Aufgabe der Transplantationszentren und der anderen Krankenhäuser in regionaler Zusammenarbeit.

Dieser Satz wird bislang in der politischen Debatte viel zu wenig berücksichtigt. Diese Gemeinschaftsaufgabe Organtransplantation soll dazu dienen, alle Kräfte zu bündeln, um den Segen für die Patienten zu erzielen. Wir sollten verhindern, singulären Interessen nachzugeben.

Trotz aller Debatten ist die Zahl der Organspenden in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Das sollten wir wissen. Gleichwohl sind die Spannen immer noch erheblich groß. Wenn Sie sich die Zahl der wartenden Patienten für eine Nieren- oder Herztransplantation anschauen, wissen Sie, warum wir heute über dieses Thema reden.

In einer solchen Debatte müssen wir uns die Eckpunkte des deutschen Transplantationsrechts vor Augen führen. Ich möchte in einem ersten Hauptteil meines Vortrags auf diese Eckpunkte eingehen.

An der Spitze muss das Prinzip der Chancengleichheit aller Patienten stehen. Heute regelt § 12 Abs. 3 Satz 2 des Transplantationsgesetzes, dass die Wartelisten der Transplantationszentren als eine einheitliche Warteliste zu behandeln sind. Auf der Grundlage von § 12 des Transplantationsgesetzes wird die Warteliste von Eurotransplant als einheitliche Warteliste je Organ geführt. Auf diese Art und Weise sind die Ungleichbehandlungen, die in Deutschland vor Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes bestanden, ausgeräumt worden.

Eine weitere und meines Erachtens unantastbare Säule der deutschen Transplantationsmedizin ist die Hirntodfeststellung als Voraussetzung der postmortalen Organspende. Die sichere Feststellung des endgültigen Ausfalls der gesamten Hirnfunktion ist und bleibt Grundvoraussetzung.

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer hat bereits im November 1993 darauf hingewiesen, dass Missverständnisse beim Hirntod heute vorrangig darauf beruhen, dass Nichtmediziner und Kritiker diesem Todesbegriff gegenüber deshalb so skeptisch sind, weil der eindeutige medizinische Sachverhalt bislang nicht in ausreichendem Maße verständlich vermittelt wurde. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer weist zutreffend darauf hin, dass nach der Feststellung des vollständigen und endgültigen Ausfalls der gesamten Hirnfunktionen weitere Überlegungen zum Lebensschutz nicht mehr relevant werden können. Gleichwohl sollten wir alle gemeinsam darauf achten, dass bei diesem Phänomen sprachliche Klarheit herrschen muss.

Deshalb kann durch die Verwendung der Begriffe "Hirntod" oder "klinischer Tod" oft ein falscher Eindruck entstehen. Richtig ist es daher, von einem Tod nach Herzstillstand oder dem Tod durch endgültigen Ausfall der gesamten Hirnfunktion zu sprechen.

Auch wenn es für die Angehörigen immer noch sehr schwer ist, den endgültigen Ausfall der gesamten Hirnfunktion als Individualtod zu verstehen, so kann doch nicht nachdrücklich genug darauf hingewiesen werden, dass die diagnostischen Kriterien des Hirntods auf Untersuchungsmethoden beruhen, an deren Zuverlässigkeit und Sicherheit auch mit den Kritikern nach wie vor keine Zweifel bestehen. In der Regel wird es heute so sein, dass die Todesfeststellung, die auf dem Nachweis des endgültigen Ausfalls aller Gehirnfunktionen beruht, ihre Bedeutung nur unter intensivmedizinischen Behandlungsbedingungen entfalten wird.

Der Versuch, die Organspendezahlen dadurch zu erhöhen, dass man auf sogenannte non-heart-beating-donars zurückgreift, verbietet sich deshalb nach den Hirntodrichtlinien der Bundesärztekammer. Sie alle wissen, dass jede erfolgreiche Reanimation belegt, dass der einfache Herzstillstand kein zuverlässiges sicheres Todeszeichen sein kann. Die Feststellung des Hirntods muss deshalb Voraussetzung für jede Organspende bleiben.

Der dritte Punkt, der von ganz zentraler Bedeutung ist: Wir müssen alles dafür tun, dass Freiwilligkeit und Unentgeltlichkeit eine weitere wichtige Säule der deutschen Transplantationsmedizin bleiben. Alle Modelle, die anderes propagieren, widersprechen dem grundsätzlichen Prinzip der Chancengleichheit beim Zugang zu ärztlichen Behandlungen. Das bedeutet, dass die Entscheidungsbefugnis oder ihre Übertragung auf andere Personen immer frei von Druck oder Zwang bleiben muss. Jeder andere Weg kann für die Organtransplantation niemals dienlich sein.

Wir sollten auch sehen, dass anders als bei herkömmlichen Heileingriffen die freiwillige Erklärung zur Organspende auf der Basis des Organspendeausweises nicht notwendigerweise eine ärztliche Aufklärung voraussetzt. Eine Ausnahme gilt hier natürlich bei der Einwilligung in eine Lebendspende gemäß § 8 des Transplantationsgesetzes.

Aus diesem Prinzip folgert quasi automatisch die Tatsache, dass es immer bei einem strikten Organhandelsverbot in Deutschland bleiben muss. Das Handelsverbot nach § 17 Abs. 1 Satz 1 des Transplantationsgesetzes gehört zum Kernbereich der Vorschriften des Transplantationsgesetzes. Das Streben nach Gewinn darf nicht mit einer Organspende verbunden werden. Wenn teilweise andere Ansichten vertreten werden, ist dem nicht zuzustimmen. Es ist nicht mit der Menschenwürde vereinbar, wenn jemand Körperteile verkauft und sich damit zum Objekt erniedrigt. Der menschliche Körper ist und bleibt eine Res extra commercia. Wenn man beispielsweise darüber diskutiert, dass man Haare verkaufen kann, oder ähnliche Argumente bringt, ist das eine andere Ebene, die mit der Transplantationsmedizin in keiner Weise zu vergleichen ist. Es bleibt dabei: Es gibt keine Gegenleistung für die postmortale und sonstige Organspende, weil die Menschenwürde, die über den Tod hinaus Wirkung entfaltet, sonst verletzt würde.

Deswegen muss man mit Nachdruck begrüßen, dass im gegenwärtigen Verfahren zur Änderung des Transplantationsgesetzes für das Gewebegesetz das Handelsverbot für menschliche Zellen und Gewebe präzisiert werden soll. Ich meine, dass die Trennung zwischen Geweben, die ohne weitere industrielle Verarbeitung zur Transplantation bereitgestellt werden sollen, und solchen Geweben, die eine ausführliche industrielle Bearbeitung benötigen, bevor sie Patienten zur Verfügung gestellt werden, im Gewebegesetz verankert werden soll. Es ist schlicht und einfach nicht einzusehen und Patienten auch nicht zu erklären, warum die Spende eines Herzens sicherlich frei und außerhalb jedes Handels sein soll, dass man aber mit Herzklappen eventuell Geschäfte machen könnte.

Ich meine, es ist ein vorrangiges Prinzip, dafür einzutreten, dass diese Gewebeteile außerhalb des Kommerzes bleiben.

Unabhängig von den Fragen der Kommerzialisierung der Organspende ist bei der Lebendspende ausführlich darüber zu diskutieren, wie die versicherungsrechtliche Absicherung des Lebendspenders aussehen muss. Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages und die Bundesärztekammer haben sich gemeinsam nachhaltig für eine bessere finanzielle Absicherung der Lebendspender ausgesprochen. Es geht darum, dass noch nicht erkennbare Spätschäden ein erhebliches finanzielles Risiko für den Spender darstellen. Man darf ihn mit diesen Konsequenzen nicht allein lassen.

Andere Modelle zur Förderung der Organspende durch indirekte Vorteile bleiben meines Erachtens problematisch. So hat der Nationale Ethikrat in seiner Stellungnahme zur Organtransplantation vorgeschlagen, dass Menschen, die sich zu Lebzeiten als Spender erklären, einen Bonus auf der Warteliste erhalten sollen, wenn sie selber ein Organ benötigen. Gemäß § 10 Abs. 2 Nr. 2 des Transplantationsgesetzes entscheiden insbesondere Notwendigkeit und Erfolgsaussicht und damit nach der Gesetzeslage ausschließlich medizinische Kriterien über die Aufnahme in die Warteliste. Deshalb habe ich große Bedenken, über diese medizinischen Kriterien hinauszugehen. Mit dem gegenwärtigen Gesetz geht das meines Erachtens nicht.

Ein weiterer zentraler Punkt ist das Verhältnis von postmortaler Organspende zur Lebendspende. Das Transplantationsgesetz geht vom Grundprinzip der Subsidiarität der Lebendspende aus. Die Lebendspende soll immer hinter einer möglichen postmortalen Organspende zurücktreten. Begründet wird das mit dem Prinzip des Nichtschadens, dass es eben doch ein nicht unerhebliches ethisches Problem ist, wenn ein gesunder Mensch durch den Eingriff der Lebendspende zu einem potenziell Kranken gemacht werden kann, weil es eben nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist, dass es zu Spätfolgen beim Spender kommt. Allein die von mir angesprochene spätere Ursachenfeststellung für die gesetzliche Unfallversicherung bedeutet eine nicht zu vernachlässigende Belastung für die Patienten.

An dieser Stelle halte ich es für gefährlich, dass man sich, wie es einige tun, darauf zurückzieht, dass man sagt: Die Autonomie des Organspenders darf nicht angetastet werden. Wer freiwillig einer Lebendspende zustimmt, muss dies ungehindert tun können. Es ist die Frage, ob der Gesetzgeber hier nicht zu Recht einen gewissen zu rechtfertigenden staatlichen Paternalismus hat walten lassen.

Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass es besonders wichtig ist, dass die Koordinierung der Organspende von der Vermittlung der Organe getrennt wird. Das Transplantationsgesetz sieht diese Trennung vor, indem wir für die Koordinierung und Vermittlung zwei unterschiedliche Organisationen in Deutschland bzw. Europa eingesetzt haben. Durch die Trennung der organisatorischen Abläufe ist so ein Höchstmaß an Neutralität und Transparenz im Verfahren der Organspende gesichert, damit auch bei gegenläufigen Interessen diese nicht miteinander verquickt werden.

Die als Koordinierungsstelle vertraglich eingebundene Deutsche Stiftung Organtransplantation hat durch ihren Einsatz in den letzten Jahren geholfen, die Zahlen bei der Organspende erheblich zu steigern. Die bei der Bundesärztekammer eingerichtete Überwachungskommission, die auf der Grundlage der vertraglichen Regelungen der Selbstverwaltungspartner eingerichtet wurde, überwacht die Arbeit der Koordinierungsstelle. Die Arbeit wird sorgfältig begleitet, genauso wie wir eng und intensiv bei der Organvermittlung mit der in Leiden in Holland ansässigen Stiftung Eurotransplant zusammenarbeiten.

Soweit aus juristischer Sicht Einwände gegen die Zusammenarbeit mit einer nicht im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland angesiedelten Einrichtung laut werden, sollten wir in Deutschland von der tatsächlichen Seite her sehr vorsichtig sein. Noch sind wir ein Organimportland. Durch die Arbeit von Eurotransplant wird es möglich, dass eine große Zahl von Patienten mit Organen versorgt werden, die aus dem Bereich außerhalb des deutschen Organspendebereichs kommen. Die Bundesärztekammer arbeitet, wie schon gesagt, eng mit beiden Organisationen zusammen.

Außerordentlich bewährt hat sich die in § 16 des Transplantationsgesetzes geregelte Richtlinienkompetenz der Bundesärztekammer. Für alle wichtigen Kriterien der Organspende und der Organtransplantation sind diese Richtlinien in der Ständigen Kommission "Organtransplantation" beraten, auch im Vorstand der Bundesärztekammer beraten und dann entsprechend den Vorschriften verabschiedet und im Bundesärzteblatt veröffentlicht worden. Damit erfolgt die Standardbildung in der Transplantationsmedizin als ärztliches Berufsrecht durch ein beeindruckendes Engagement des ärztlichen Ehrenamts. Soweit gegen diese Art der Regelung Bedenken laut werden, sollte man freilich sehen, dass die außerordentlich hohe Sachkunde, die ausgeprägte Nähe zu den Einzelproblemen und die notwendige Flexibilität es möglich machen, dass jederzeit der Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft in der Praxis zum Wohl der Patienten unverzüglich umgesetzt wird.

Zu Recht hat deshalb meines Erachtens der Vorstand der Bundesärztekammer im Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsverfahren zum Gewebegesetz darauf hingewiesen, dass es nicht Aufgabe des ärztlichen Berufsrechts sein kann, Richtlinien für Spende und Allokation für solche Gewebe zu erstellen, die eine substanzielle industrielle Verarbeitung erfahren sollen. Die weitere Richtlinientätigkeit der Bundesärztekammer bei Geweben ist deshalb zu Recht davon abhängig zu machen, dass diese Gewebe nicht ausschließlich als Arzneimittel behandelt werden. Wir brauchen eine Loslösung von arzneimittelrechtlichen Ansätzen.

Welche Diskussionsfelder für die Zukunft gibt es? Sind die Mängel des deutschen Transplantationswesens zu heilen, indem man den Ausweg über einen Strukturwechsel wählt und das bisherige Modell der erweiterten Zustimmungslösung verlässt? Ich weiß aus vielen Debatten, dass das der Punkt ist, der im Zentrum Ihres Interesses steht. Immerhin hat der Nationale Ethikrat eine bislang eher subkutane Debatte spektakulär an die Öffentlichkeit gebracht. Neu ist der Widerstreit zwischen Widerspruchs- und Zustimmungslösung nicht. Schon 1975, als das Gesetzgebungsverfahren begonnen hatte und der Arbeitsentwurf einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe vorgelegt wurde, hat man die Widerspruchslösung favorisiert. Auch der Entwurf der Justizministerkonferenz hat diesen Weg gesehen und vorgeschlagen, in dem damals noch im Einsatz befindlichen grauen Papier des Personalausweises einen entsprechenden Widerspruch zu verankern.

Letztendlich hat sich der Bundesrat mit seinem Entwurf gegen die Widerspruchslösung ausgesprochen und die heute Gesetz gewordene erweiterte Zustimmungslösung vertreten. Diese hat sich im Gesetzgebungsverfahren durchgesetzt.

Was ist nun im Widerstreit zwischen Zustimmungslösung und Widerspruchslösung zu sagen? Insgesamt muss man wohl dem Nationalen Ethikrat ohne jede Einschränkung folgen, wenn es um die aufgestellte Diagnose bei der Organtransplantation geht. Auf der Basis der bekannten forsa-Umfrage aus dem Jahre 2003 sind immerhin fast 70 Prozent der Bevölkerung positiv zur Organspende eingestellt, nur wird diese Spendebereitschaft nicht ausgeschöpft. Der Nationale Ethikrat hat dieses Problem völlig zutreffend analysiert und gemeint, dass hierfür in erster Linie organisatorische Defizite verantwortlich sind. Es bestehen Engpässe vor allen Dingen bei der Erkennung und Meldung von potenziellen Spendern in den Krankenhäusern. Die zugegebenermaßen sehr versteckte Regelung in § 11 Abs. 4 Satz 2 des Transplantationsgesetzes hat für die Organspende praktisch keinerlei Wirkung entfaltet. Dort heißt es:

Die Krankenhäuser sind verpflichtet, den endgültigen, nicht behebbaren Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstammes von Patienten, die nach ärztlicher Beurteilung als Spender vermittlungspflichtiger Organe in Betracht kommen, dem zuständigen Transplantationszentrum mitzuteilen, das die Koordinierungsstelle unterrichtet. Das zuständige Transplantationszentrum klärt in Zusammenarbeit mit der Koordinierungsstelle, ob die Voraussetzungen für eine Organentnahme vorliegen.

Meine Damen und Herren, der damalige Gesetzgeber hat versucht, die organisatorischen Voraussetzungen für den optimalen Ablauf bei der Organspende zu schaffen. Das Problem ist jedoch, dass 55 Prozent aller Krankenhäuser mit Intensivstation diese Meldepflicht missachten, diese Regelung nicht einsetzen oder sie vielleicht gar nicht kennen. Erkenntnisse über die Ursachen hierfür liegen nicht vor.

Vielfach wird behauptet, das Problem entstehe dadurch, dass die unterlassene Meldung von Organspendern im Transplantationsgesetz nicht sanktioniert ist. An welche Sanktion kann man denken? Wollen Sie Verwaltungsleiter von Krankenhäusern bestrafen, wenn keine Organspender gemeldet werden? Alle solche Regelungen sind praktisch nicht umsetzbar.

Interessant ist vielleicht der Vorschlag, der gelegentlich gemacht wurde, solchen Krankenhäusern, die hirntote Patienten für die Organspende nicht melden, etwa die Weiterbildungsermächtigung zu entziehen, weil eine angemessene Weiterbildung dort nicht stattfinden kann.

Oft wird vorgetragen - auch darauf geht der Nationale Ethikrat in seiner Stellungnahme ein -, dass die festgesetzten Erstattungen für die Krankenhäuser nicht ausreichen, um die Kosten zu decken. Da ist jedoch zu bedenken, dass die Selbstverwaltungspartner gemeinsam mit der DSO in einem regelmäßigen Rhythmus die den Krankenhäusern zu erstattenden Pauschalen für die Organspende aushandeln. Gegenwärtig gibt es für eine Multiorganentnahme 3 370 Euro als Erstattungssumme. Dass die Zurückhaltung bei der Organspende am Geld liegt, scheint wenig überzeugend. Eher liegt eine Ursache wohl darin, dass es für Ärzte und Pflegepersonal auf Intensivstationen sehr schwierig ist, sich für die Organspende zu motivieren, da die mögliche Organentnahme die Behandlung anderer schwer kranker Patienten auf den Intensivstationen beeinträchtigen kann. Ich glaube, der Nationale Ethikrat hat das in gleicher Weise gesehen.

Ein weiteres strukturelles Problem scheint darin zu bestehen, dass es vielleicht doch schwerfällt, sich an einer Organspende im eigenen Krankenhaus zu beteiligen, ohne dass man eine unmittelbare und wirksame Auswirkung für die eigenen Patienten gesehen hat.

Meine Damen und Herren, ich meine, der Nationale Ethikrat hat die zutreffende Diagnose gestellt. Bloß meine ich, dass die gewählte Therapie keine wirkliche Heilung für unsere Patienten zu leisten vermag, weil wir das eigentliche Symptom nicht behandeln. Die Debatte im Gesetzgebungsverfahren hat nämlich gezeigt, dass schlicht und einfach zu befürchten ist, dass auf der Basis einer Widerspruchslösung viel zu viele Patienten rein vorsorglich einen Widerspruch dokumentieren könnten. Unsere Kollegen aus Holland berichten beispielsweise davon, dass sie im holländischen Organspenderegister gegenwärtig eine rapide ansteigende Zahl der Eintragung von Widersprüchen haben.

Es geht vielleicht auch um die Angst vieler Menschen und ihre Scheu vor der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. Es wurde bereits in den 70er-Jahren als ein ganz wichtiges Argument vermutet, dass ein vorsorglich eingetragener Widerspruch die Organspende grundsätzlich blockiert.

Bedenken habe ich bei den Ausführungen des Nationalen Ethikrats, wenn es dort heißt, dass man die Zahl der Organspenden durch eine Widerspruchslösung auch deshalb steigern könne, weil viele nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf die Einlegung eines ausdrücklichen Widerspruchs verzichten und man auch wohl den Aufwand scheut, einen Widerspruch zu dokumentieren.

Der Nationale Ethikrat, der in seinem Stufenmodell die Angehörigen einbezieht, gibt uns dasselbe Problem, das wir heute mit der erweiterten Zustimmungslösung haben, praktisch wieder zurück. Das Defizit bleibt und liegt in der Kooperation der Krankenhäuser mit der Koordinierungsstelle bei der Meldung potenzieller Organspender. Es ist deshalb meines Erachtens schwierig, das Schweigen von Mitmenschen als Zustimmung zur Organspende umzuinterpretieren. Das rechtliche Problem liegt darin - deswegen hinkt der Vergleich mit unserem österreichischen Nachbarn -, dass in Deutschland das Rechtsprinzip gilt: Schweigen ist keine Zustimmung: qui tacet consentire videtur. Schweigen ist eben nur ein Schein, keine wirkliche Zustimmung. Es geht um den Schutz des Persönlichkeitsrechts über den Tod hinaus. Man kann Schweigen eben nicht in eine Zustimmung uminterpretieren.

Wenn der Nationale Ethikrat davon ausgeht, dass Möglichkeiten zur Information einer breiten Bevölkerungsschicht geschaffen werden müssen, dass die Bevölkerung aufgefordert wird, von der Möglichkeit, sich zu erklären, Gebrauch zu machen, scheitert das für mich an praktisch-technischen Voraussetzungen. Denken Sie bitte bei der Diskussion an alle Ihre Patienten - das ist mir wichtig -, die Sie in der täglichen Behandlung sehen. Sie klagen oft, schon wenn es um die Aufklärung zur normalen Behandlung geht, dass es Ihnen nicht möglich ist, die erforderlichen Voraussetzungen für die Entscheidung beim Patienten zu schaffen. Wie wollen Sie das bei der noch viel komplexeren Frage der Organspende schaffen?

Die Dokumentation der Zustimmung in der geplanten Gesundheitskarte ist auch höchst problematisch, da das im Bereich des Notfalldatensatzes nicht geht. Eine solche Information kann nicht mit dem Notfalldatensatz verknüpft werden.

Schließlich sehe ich eine weitere Schwäche darin, dass der Staat verpflichtet werden soll - so der Nationale Ethikrat -, die Bürger zu der erforderlichen persönlichen Erklärung aufzufordern. Am Ende bedeutet das, meine Damen und Herren, dass wir bei jeder Generation der 14-Jährigen eine umfassende Informationskampagne starten müssen, jedes Jahr aufs Neue, wenn eine weitere Generation in das entscheidungsfähige Alter kommt. Ich würde dieses Geld lieber bei der Koordinierung in Personal investieren.

Aus der praktischen Arbeit der Organspende, insbesondere in Spanien, gibt es wichtige Informationen. In Spanien hat man zu einer Widerspruchslösung gegriffen. Insider erklären Ihnen ganz schnell, dass man in Spanien von der Widerspruchslösung praktisch keinen Gebrauch macht. In Spanien existiert die Organspende deswegen so hervorragend, weil man in Personal investiert hat. In hohen Verantwortungsebenen sind Ärztinnen und Ärzte von der spanischen Transplantationsorganisation eingesetzt worden und arbeiten intensiv an der Organspende. Sie haben so die Situation verbessert.

Diese Möglichkeiten haben wir in Deutschland auch unter der Zustimmungslösung. Vizepräsident Crusius freut sich über die Tatsache, dass in Mecklenburg-Vorpommern auf der Basis der Widerspruchslösung fast dasselbe Ergebnis wie in Spanien erzielt wird. Was hat Mecklenburg-Vorpommern mit Spanien gemeinsam? Nicht nur die schönen Strände, sondern den hohen und intensiven Personaleinsatz, der dazu führt, dass die Organspende auf ein hohes Niveau gelangt.

Völlig unabhängig davon, ob eine Widerspruchslösung oder eine Zustimmungslösung gewählt wird, sehe ich die Gefahr einer großen Debatte in Deutschland. Ich fürchte eine außerordentlich große Unruhe und einen Vertrauensschwund hinsichtlich der Organtransplantation, wenn wir nach nur zehn Jahren eine neue Grundsatzdebatte anschieben. Meine Damen und Herren, denken Sie daran: Wir kommen in eine Debatte, deren Risiken wir alle nicht beherrschen können. Die Folgen sind unabsehbar. Ich glaube, es ist besser, das Engagement der Krankenhäuser zu verstärken. 55 Prozent aller Krankenhäuser können noch in die Organspende eingebunden werden.

Lassen Sie mich in der mir verbleibenden Redezeit kurz auf weitere Problem- und Diskussionsfelder der Zukunft eingehen.

Wir müssen uns überlegen, ob wir bei der Cross-over-Spender die restriktive Regelung in § 8 des Transplantationsgesetzes zur Lebendspende auflockern können. Nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts haben wir auf diesem Feld einigermaßen Ruhe bekommen.

Diejenigen, die mit der Lebendspende arbeiten, leiden unter dem von mir eingangs dargestellten Grundsatzprinzip der Subsidiarität der Lebendspende. Der Gedanke der Subsidiarität ist nachdrücklich zu unterstützen. Die Art und Weise, wie das Transplantationsgesetz dies regelt, ist aber verfehlt. Das Kriterium für die Subsidiarität soll sein, ob im Zeitpunkt der Organtransplantation bei einer Lebendspende das Organ eines Verstorbenen zur Verfügung steht. Dies ist - das hat Schreiber in einer Reihe von Publikationen zutreffend ausgeführt - ein Irrweg.

Soll der Spenderkreis bei der Lebendspende verändert werden? Nicht nur die Enquete-Kommission, sondern auch andere haben darauf hingewiesen, dass bereits in Familienbeziehungen der Druck bei der Lebendspende nicht unproblematisch ist. Kurz zusammengefasst möchte ich sagen, dass ich nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die die bisherige gesetzliche Regelung für zulässig erklärt hat, wenig Optimismus habe.

Wir sollten gelegentlich darüber nachdenken, ob wir auch bei Verstorbenen die Möglichkeit zulassen, eine gerichtete Organspende vorzunehmen. Sie verstößt partiell gegen Grundprinzipien bei der Verteilung von Organen. Aber das wäre vielleicht ein kleiner Weg, die Möglichkeiten der Spende zu erweitern.

In der täglichen Praxis haben wir sehr oft das Problem, wie sich die Regeln des allgemeinen Notstands des § 34 zur abschließenden Regelung des Transplantationsgesetzes verhalten. Das Beispiel ist der unbekannte Hirntote, der keine Angehörigen hat, von dem wir nichts wissen. Wäre er ein Organspender? Nach den bisherigen Regelungen des Transplantationsgesetzes geht das nicht.

Meine Damen und Herren, ich komme zu einem kurzen Fazit. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass die Partner der Selbstverwaltung trotz anspruchsvoller und komplexer Fragestellungen stets in der Lage waren, eine angemessene Antwort auf neu entstandene Probleme in der Transplantationsmedizin zu entwickeln. Die außerordentlich hohe Sachnähe, die breit gestreute ärztliche Kompetenz und das hohe Engagement für die Interessen der Patientinnen und Patienten haben es bislang immer ermöglicht, neue Entwicklungen für die Menschen, die auf den Wartelisten auf ein Organ hoffen, umzusetzen. Dabei sind die Selbstverwaltungspartner stets schneller und sachkundiger gewesen als jeder Verordnungsgeber oder Gesetzgeber, der angesichts der Dynamik in der Entwicklung der Transplantationsmedizin niemals angemessen reagieren könnte. Es liegt in der Hand der Ärzteschaft, weniger in der Hand des Gesetzgebers, alles für ihre Patientinnen und Patienten zu tun. Sie sind näher an den kranken Menschen als die Abgeordneten, die politischen Zwängen unterliegen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall)

Vizepräsident Dr. Crusius: Vielen Dank, lieber Herr Lilie, für die klare Darstellung des juristisch und medizinisch anspruchsvollen Themas. Ich habe den Eindruck, Sie haben sich als Jurist gut in die Seele und das Empfinden der Ärzte einfühlen können. Vielen Dank dafür. Wir werden über Ihre Ausführungen nachher diskutieren.

Jetzt darf ich Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, Herrn Professor Dr. med. Dr. phil. Eckhard Nagel zu dem Thema ankündigen: Was ist der Mensch? - Zur aktuellen Debatte in der Transplantationsmedizin aus ethischer Sicht. Bitte schön, Herr Nagel.

© Bundesärztekammer 2007