Prof. Dr. Dr. h. c. Niethammer, Referent: Herr
Präsident! Vielen Dank für die freundliche Begrüßung. Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Zunächst möchte ich feststellen, dass mir der Vortrag von
Herrn Henke sehr gut gefallen hat und er eine sehr gute Basis für unsere
Diskussion darstellen kann.
Zahlreiche spektakuläre Fälle von Kindesvernachlässigung und
Kindesmisshandlung haben in jüngster Zeit die Öffentlichkeit bewegt. Die
anscheinende Häufung von bekannt gewordenen Vorfällen und das damit verbundene
Medienecho haben auch eine lebhafte, bisweilen aktionistische Diskussion
darüber angeregt, welche Konsequenzen daraus für die Familien-, Sozial- und
Gesundheitspolitik zu ziehen sind.
Die dramatischen, medienwirksamen Fälle von Vernachlässigung
und Misshandlung mit Todesfolge sind nach meiner Meinung indessen nur die
Spitze des Eisbergs. Schätzungsweise 5 Prozent aller Kinder wachsen in
Deutschland in Familien oder Teilfamilien auf, die nach den Kriterien der
Mannheimer Risikokinder-Studie als "Hochrisikofamilien" zu bezeichnen sind.
Darunter werden Familien oder Lebensgemeinschaften verstanden, in denen nach
gesicherter Empirie für die Kinder ein hohes Risiko gravierender
Vernachlässigung als Folge der gegebenen psychosozialen Bedingungen besteht. In
absoluten Zahlen ausgedrückt sind von diesem hohen Risiko in jedem
Geburtsjahrgang rund 30 000 Kinder in Deutschland betroffen. Eine
gravierende Vernachlässigung kann aber sehr unterschiedliche Folgen haben; in
jedem Fall bedeutet sie für das betroffene Kind eine Behinderung, seine
Entwicklungsmöglichkeiten auszuschöpfen.
Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch sind
unterschiedliche Formen schädigenden Verhaltens, denen viele Kinder
gleichzeitig oder nacheinander ausgesetzt sind und zwischen denen oft fließende
Grenzen verlaufen. Der Begriff der "Gewalt" wird in diesem Kontext meist mit
körperlicher Misshandlung oder Bedrohung verbunden. Gewalt wird aber nicht nur
von Erwachsenen an Kindern ausgeübt, sondern in bedeutsamem Umfang auch zwischen
Kindern und Jugendlichen untereinander. Dieses Phänomen macht inzwischen einen
beträchtlichen Anteil der sogenannten neuen Morbidität im Kindes- und Jugendalter
- im amerikanischen Sprachgebrauch "new epidemics" - aus.
Zur Häufigkeit von Gewalterfahrung im Kindes- und Jugendalter
gibt es aktuelle, für Deutschland repräsentative Daten aus dem nationalen
Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). Mehr als ein Viertel der befragten
Kinder und Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren gab an, innerhalb der zurückliegenden
zwölf Monate ein- oder mehrmals Gewalt ausgeübt zu haben oder Opfer von Gewalt
geworden zu sein: 14,9 Prozent gaben an, ausschließlich Täter gewesen zu sein,
4,6 Prozent ausschließlich Opfer und 5,7 Prozent sowohl Täter als auch Opfer.
Jungen sind in der Täter- und der Täter-/Opfer-Kategorie mehr als doppelt so
häufig vertreten wie Mädchen; in der Opfer-Kategorie ist die Geschlechterdifferenz
geringer. Bei Kindern und Jugendlichen mit niedrigem Sozialstatus ist der
Anteil der Täter fast doppelt so hoch wie in der Oberschicht. Noch größer ist
die Differenz in der psychologisch besonders problematischen Gruppe der Kinder
und Jugendlichen, die sowohl Täter als auch Opfer sind. Dagegen sind die
soziodemografischen Unterschiede bei den ausschließlichen Opfern gering.
Bei der Diskussion um Ursachen und Folgen solcher schädigender
Einflüsse auf Kinder gilt es zu unterscheiden zwischen:
-
Vernachlässigung, wenn Kindern die für ihr Überleben und
Wohlergehen erforderlichen Maßnahmen ganz oder teilweise vorenthalten werden
-
körperlicher Misshandlung, wenn einem Kind körperliche
Verletzungen durch eine Bezugsperson zugefügt wurden
-
Seelische Misshandlung ist die Folge von Verhaltensweisen, die zu
einer schweren Beeinträchtigung einer vertrauensvollen Beziehung zwischen dem
Kind und der Bezugsperson führen und die seelisch-geistige und nicht selten
auch die körperliche Entwicklung des Kindes behindern
-
Sexueller Missbrauch ist schließlich die Beteiligung von Kindern
und Jugendlichen an sexuellen Handlungen.
Gemeinsamer Wirkfaktor dieser verschiedenen negativen
Einflüsse ist, dass die seelischen und körperlichen Grundbedürfnisse von
Kindern nicht oder nur unzureichend befriedigt werden. Das ist im eigentlichen
Sinne als soziale Benachteiligung von Kindern zu verstehen, während im
allgemeinen Sprachgebrauch soziale Benachteiligung fälschlicherweise meist mit
schlechten sozioökonomischen Bedingungen gleichgesetzt wird. Soziale
Benachteiligung ist aber kein primär materielles und auch kein
schichtspezifisches Problem, sondern vielmehr die Folge von Mängeln der
primären Sozialisation und der Interaktion des Kindes mit seinen
Bezugspersonen.
Zweifellos nimmt das Risiko sozialer Benachteiligung von
Kindern mit dem Grad sozioökonomischer Stressbelastung - Armut und Bildungsmangel
- signifikant zu, aber eine statistische Korrelation ist nicht gleichbedeutend
mit einem kausalen Zusammenhang. Eine Fokussierung der ärztlichen
Aufmerksamkeit auf die physischen und psychischen Grundbedürfnisse von Kindern
eröffnet ohne Zweifel Möglichkeiten hilfreicher individualmedizinischer
Intervention auch unter schwierigen sozioökonomischen Gegebenheiten.
Die Ergebnisse der Mannheimer Risikokinderstudie belegen eindrucksvoll,
dass Entwicklungs-risiken, soweit sie aus den äußeren Lebensumständen
der Kinder hervorgehen, hauptsächlich über das Erziehungsverhalten
der Bezugspersonen vermittelt werden. Widrige Lebensereignisse und
chronische Belastungen beeinflussen die Erziehungshaltung maßgeblich
und wirken sich dadurch direkt auf die Entwicklungschancen der Kinder
aus.
Ein besonderes Problem liegt darin, dass psychosoziale
Risikofaktoren selten isoliert, vielmehr in der Regel kumuliert auftreten, etwa
in der Kombination von geringem Einkommen, schlechten Wohnverhältnissen,
alleinerziehenden Eltern, unerwünschter Schwangerschaft, niedrigem
Bildungsniveau und anderen Beeinträchtigungen.
Je höher der Problemdruck ist und je geringer die Ressourcen
sind, desto wahrscheinlicher wird eine Dekompensation. Sie äußert sich bei
Frauen (Müttern) tendenziell eher in einer depressiven Reaktion mit der Folge
von Vernachlässigung, bei Männern (Vätern) häufiger in einer aggressiven
Reaktion, das heißt einer Misshandlung. Abusus von Alkohol und Psychopharmaka -
letztere vorzugsweise bei Frauen - spielen dabei eine zusätzlich
verschlimmernde Rolle. Die Verstärkung einer psychischen Indifferenz bei
Müttern, die durch Überforderung depressiv sind, müsste bei der ärztlichen
Verordnung von Psychopharmaka daher sicher noch stärker bedacht werden. Darüber
müsste man mit der Erwachsenenmedizin noch Diskussionen führen.
Durch viele weltweit durchgeführte Studien ist erwiesen, dass
mütterliche Depressivität einer der gefährlichsten Risikofaktoren sowohl für
die kognitive als auch die psychosoziale Entwicklung der Kinder ist. Depressivität
blockiert aufseiten der Mutter die Fähigkeit und die Bereitschaft, die Signale
und Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und
angemessen zu beantworten - die Voraussetzungen für die Entwicklung einer
sicheren Bindung. Deren Qualität ist aber ihrerseits auch ausschlaggebend für
die kognitive Entwicklung des Kindes.
Armut als besondere Konstellation psychosozialer
Risikobelastung ist seit den 90er-Jahren vermehrt ins öffentliche Bewusstsein
gerückt, nachdem sie zu einem Massenphänomen wurde, von dem Kinder in
besonderem Umfang und mit besonderer Auswirkung betroffen sind. Armut führt,
statistisch gesehen, zu einer Veränderung des innerfamiliären Klimas mit
Zunahme von depressiver Resignation einerseits und von restriktiven und
strafenden Erziehungsweisen andererseits. Ein höheres Bildungsniveau der Eltern
ist im Zeitalter der Massenarbeitslosigkeit zwar keine Garantie mehr gegen
Armut, vermag aber doch die Auswirkungen von Armut auf das Familienklima und
die Entwicklung der Kinder abzumildern.
Die Frage nach den Folgen von Vernachlässigung und
Misshandlung lässt sich nicht pauschal beantworten, denn die Folgen sind zum
einen abhängig vom Schweregrad der schädigenden Einflüsse, zum anderen auch von
biologischen oder psychologischen Eigenschaften des einzelnen Kindes, die seine
Störanfälligkeit - die Vulnerabilität - oder auch Widerstandsfähigkeit - die
Resilienz - beeinflussen. Es gibt aber gesicherte Daten über die Abhängigkeit
von Gesundheit und Entwicklung vom Grad der sozialen Benachteiligung des
Kindes, ausgedrückt im sozioökonomischen Status der Familie und des Kindes.
Auch unter den Gegebenheiten einer allgemeinen
sozialstaatlichen Absicherung ist die Säuglings- und Kindersterblichkeit in den
westeuropäischen Ländern noch heute bei den Kindern der untersten Sozialschicht
um mehr als doppelt so hoch wie in der obersten Sozialschicht. Ein ähnlich
hoher sozialer Gradient wurde beispielsweise in Großbritannien auch für die
Häufigkeit von Pneumonien und für verschiedene chronische Erkrankungen im
Kindesalter nachgewiesen. Adipositas ist bei Kindern und Jugendlichen aus der
unteren Sozialschicht - nach den aktuellen Erhebungen des KiGGS - dreimal
häufiger als bei ihren Altersgenossen aus der oberen Sozialschicht. Soziale
Benachteiligung disponiert also nicht zu Unterernährung, sondern zu
Fehlernährung. Adipositas ist bekanntlich eine Bedingung, die vielen
körperlichen wie auch psychosozialen Störungen Vorschub leistet.
Die Häufung somatischer Risiken bei sozial benachteiligten Kindern
- wie Säuglingssterblichkeit, Untergewicht bei der Geburt, häufiger
angeborene Fehlbildungen, erhöhte Rate an chronischen und akuten
Erkrankungen - lässt zunächst daran denken, die gesundheitliche
Benachteiligung zu erklären als Folge von ungenügender Gesundheitsvorsorge
der Mutter während der Schwanger-schaft sowie von Fehlernährung
und unzureichender Inanspruchnahme präventiver Maßnahmen nach der
Geburt. Diese Faktoren spielen sicherlich eine Rolle, ohne dass
damit allein die soziogenen Unterschiede in der Gesundheit und der
Entwicklung der Kinder erklärt werden können.
Kognitive Störungen sind insgesamt deutlich mehr vom
Erziehungsverhalten beeinflusst als von organischen Risikofaktoren, und noch
stärker sind sozial-emotionale Störungen bei Kindern vom Erziehungsverhalten
abhängig. Umgekehrt wird das Erziehungsverhalten der erwachsenen Bezugsperson
von eventuellen emotionalen Störungen des Kindes negativ beeinflusst, worunter
auch die psychische Gesundheit vor allem der Mutter leidet. Emotionale Störungen
junger Säuglinge äußern sich bevorzugt in sogenannten Regulationsstörungen -
Fütterungs- und Schlafstörungen, exzessives Schreien -, die ihrerseits ihre
Wurzeln in frühen Interaktionsstörungen haben und eventuell bei den Eltern für
das Kind nachteilige Reaktionen auslösen. Auf diese Weise besteht die Gefahr
von Teufelskreisen mit steigendem Risiko von Vernachlässigung und Misshandlung,
wenn nicht rechtzeitig therapeutische und/oder soziale Hilfen einsetzen.
Erwachsene, die als Kinder nicht die Erfüllung ihrer
grundlegenden Bedürfnisse - vor allem Bindung und Sicherheit, Verlässlichkeit,
Anregung - erlebt und während ihrer Entwicklung Gewalt als gewissermaßen
"normale" Form von Konfliktlösung kennengelernt haben, werden mit großer
Wahrscheinlichkeit als Eltern ihren Kindern vergleichbar ungünstige,
deprivierende Lebensweltbedingungen bieten und dazu beitragen, die Probleme
generationsübergreifend weiterzugeben. In der Zeit zwischen früher Kindheit und
Adoleszenz sind solche Kinder sehr häufig sowohl Opfer als auch Ausübende von
Gewalt, eine besonders problembeladene Gruppe. Die Opferrolle ist die Folge
jahrelanger Demütigung und fehlender Entwicklung von Selbstwert und
Selbstvertrauen, und in die Täterrolle wechseln sie, sobald sie sich jemandem
Schwächeren überlegen fühlen und ihre Frustration abreagieren können.
Der Blick auf die Bedingungen, welche der Vernachlässigung und
Misshandlung von Kindern Vorschub leisten, lässt zwei Handlungsebenen erkennen:
zum einen die bevölkerungsbezogene politische Ebene, zum anderen den Auftrag
zur Hilfeleistung im Einzelfall, ein essenzieller Teil des ärztlichen Selbstverständnisses.
Die Forderung nach politischen Lösungen zur Eindämmung der Kinderarmut, zur
Verbesserung der Bildungschancen in den ersten Lebensjahren, generell zu einer
besseren Koordination von Gesundheits-, Sozial- und Familienpolitik, ist
berechtigt. Noch ist die Politik allerdings sehr zögerlich und uneinig in der
Umsetzung der dringend notwendigen Maßnahmen. Gleichzeitig geht es aber auch
darum, im Bereich der ärztlichen Verantwortung hier und jetzt das Mögliche zu
tun.
Verbesserungsbedarf besteht unter anderem auf folgenden
Gebieten:
Die Repräsentanz sozialmedizinischer Aspekte in der ärztlichen
Aus- und Weiterbildung ist nicht ausreichend; Gesundheitswissenschaft und
Sozialepidemiologie werden im Spektrum der Medizinischen Fakultäten nicht
angemessen gewürdigt.
Kinder, die aufgrund psychosozialer Risiken einer hohen Gefahr
von Vernachlässigung und Misshandlung ausgesetzt sind, können nur durch
aufsuchende und nachsorgende Dienste einigermaßen zuverlässig erreicht werden.
Solche Dienste von Gesundheits-, Jugend- und Sozialämtern sind aber vor allem
in den letzten beiden Jahrzehnten bei kurzsichtigen Sparmaßnahmen massiv abgebaut
worden, sodass fast nirgendwo noch die Personalkapazität vorgehalten wird, die
für eine bedarfsgerechte Prävention von Vernachlässigung und Misshandlung
notwendig wäre.
Die Mitwirkung niedergelassener Kinder- und Jugendärzte in
regionalen Netzwerken zur Prävention von Vernachlässigung und Misshandlung in
konkreten Gefahrensituationen wäre in großem Umfang erforderlich. Eine solche
Mitwirkung ist jedoch sehr zeitaufwendig und deshalb nicht ohne eine
angemessene Vergütungsregelung dauerhaft zu leisten.
Kinder- und Jugendärzte sind als Fachleute für Fragen der
kindlichen Entwicklung in besonderer Weise disponiert, sich auf diesem Gebiet
zu engagieren. In absehbar naher Zukunft ist jedoch die flächendeckende
Versorgung durch Kinder- und Jugendärzte in ländlichen Gebieten gefährdet durch
den Verlust von Weiterbildungsstellen in Krankenhäusern und durch fehlende
Förderung der Weiterbildung in kinder- und jugendärztlichen Praxen analog zur
Förderung der Weiterbildung in der Allgemeinmedizin.
Die "neue Morbidität", das heißt die enorme Zunahme von
Störungsbildern, die mittelbar oder direkt mit soziogenen Faktoren
zusammenhängen, hat das Aufgabenspektrum der Kinder- und Jugendärzte in
Deutschland in wesentlichem Umfang verändert. An einigen Beispielen soll
erläutert werden, dass sich die Kinder- und Jugendmedizin dieser
Herausforderung gestellt hat:
Flächendeckend wird seit mehreren Jahren ein umfangreiches
Fortbildungsangebot auf dem hier besprochenen Gebiet vorgehalten und in
eindrucksvollem Umfang in Anspruch genommen. Auch die wissenschaftlichen
Fachkongresse haben die neue Morbidität und ihre Prävention zum Thema gemacht.
Dadurch wird dafür gesorgt, dass der Qualitätsstandard der fachärztlichen
Versorgung dem Wandel des Morbiditätsspektrums gerecht wird.
In mehreren Städten werden Kooperationsmodelle zwischen
Kinder- und Jugendmedizin, Geburtshilfe, Jugend- und Gesundheitsämtern nach dem
Düsseldorfer Konzept praktiziert. Dieses Konzept gründet sich auf die
Initiative des Düsseldorfer Kinder- und Jugendmediziners
Dr. Kratzsch. Bereits in der Entbindungsklinik erhalten Mütter mit
hoher psychosozialer Risikobelastung oder bei erkennbaren Problemen
der Interaktion mit dem neugeborenen Kind sozialpädiatrische und
sozialpädagogische Angebote. Dabei wird auch für die Informationsver-mittlung
an den weiterbetreuenden niedergelassenen Kinder- und Jugendarzt
gesorgt, damit die gefährdeten Kinder nicht aus der Beobachtung
fallen und dann erst viele Jahre später wieder mit massiven Entwicklungs-
und Verhaltensdefiziten in den Sprechstunden auftauchen. Die Erfahrung
hat gezeigt, dass Mütter aus Hochrisikofamilien gerade in der Postnatalphase
bereit sind, solche Hilfsangebote anzunehmen, auch über längere
Zeit. Wenn diese sensible Periode nicht genutzt wird, ist es in
der Folgezeit wesentlich schwerer, die Kooperation der Mütter zu
erreichen.
Mit dem inzwischen flächendeckenden Aufbau Sozialpädiatrischer
Zentren wurde ein Netz bewährter, interdisziplinär arbeitender Institutionen
mit einem vorbildlichen Konzept der Qualitätssicherung geschaffen. Die
Sozialpädiatrischen Zentren spielen eine wichtige Rolle bei der Diagnostik und
Therapie von Kindern mit Entwicklungsstörungen aller Art und in zunehmendem
Umfang mit Störungsbildern der neuen Morbidität. Wie zum Beispiel im
Düsseldorfer Modell sind Sozialpädiatrische Zentren auch an der frühen
präventiven Vernetzung der Maßnahmen für psychosozial gefährdete Kinder
beteiligt.
Unter der Regie des öffentlichen Gesundheitsdienstes sind in
mehreren Kommunen, beispielsweise in Bremen, Familienhebammen im Einsatz, die
nach der Geburt eines Kindes mit psychosozialer Gefährdung aufsuchende
Betreuung leisten. Das Bremer Familien-Hebammen-Projekt ist ein langjährig
durchgeführtes und wissenschaftlich evaluiertes Projekt, das ursprünglich als
flächendeckendes Frühwarnsystem angelegt war. Aus Kostengründen ist es
inzwischen auf Stadtteile mit ungünstigem Sozialindex begrenzt. Dort wird auch
durch den Gesundheitsdienst gewährleistet, dass die Hebammen sich bei der
Beratung an anerkannte Standards halten und zum Beispiel nicht von einzelnen
oder gar allen Impfungen abraten.
Die Einsicht, dass ein beträchtlicher Anteil jedes
Geburtsjahrgangs durch Vernachlässigung und Misshandlung seiner
Entwicklungsmöglichkeiten beraubt und auf diese Weise zu einer "verlorenen
Generation" wird, ist bei den politisch Verantwortlichen offenbar angekommen;
bleibt zu hoffen, dass daraus auch die praktischen Konsequenzen mit der
erforderlichen Priorität gezogen werden.
Folgende Forderungen sind aus der Sicht der Kinder- und
Jugendmedizin zu erheben:
Die begonnene Überarbeitung des Kinder-Früherkennungsprogramms
gemäß § 26 SGB V muss zügig zu Ende gebracht und inhaltlich den aktuellen
Erfordernissen angepasst werden. Wichtig ist insbesondere die Integration primärpräventiver
Inhalte.
Die vorgesehene Neufassung eines Präventionsgesetzes muss den
Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen besser gerecht werden; in der
ursprünglichen Fassung waren junge Familien als Zielgruppe der Prävention
schlicht vergessen worden, obwohl dort die entscheidenden Weichen für die Verhaltensprävention
gestellt werden.
Der öffentliche Jugendgesundheitsdienst muss so weit gestärkt
und wieder ausgebaut werden, dass er die Aufgaben einer sozialkompensatorischen
aufsuchenden Gesundheitsfürsorge auch wirksam erfüllen kann.
Das Angebot an qualifizierten Kindertageseinrichtungen, die
dem Auftrag zur frühkindlichen Bildung und Erziehung entsprechen können, muss
verbessert werden.
Die wohnortnahe Versorgung der Bevölkerung durch Kinder- und
Jugendärzte muss dauerhaft gesichert werden bei klarer Aufgabenteilung
mit den Fachärzten für Allgemeinmedizin auf der Ebene der hausärztlichen
Versorgung, entsprechend den unterschiedlichen Weiterbildungsin-halten.
Schließlich sollte die Bundesregierung es als ihre Aufgabe
ansehen, in jedem Jahr und nicht nur in mehrjährigen Abständen einen Bericht
zur Lage der Kinder und Jugendlichen in Deutschland abzugeben, sodass die
Öffentlichkeit feststellen kann, was auch wirklich von den angekündigten
Maßnahmen umgesetzt worden ist.
Meine Damen und Herren, abschließend sei nochmals betont, dass
die Kinder- und Jugendmedizin eine Schlüsselrolle in der Betreuung von Kindern
spielt, da sie eine kompetente, niedrigschwellige und fast überall verfügbare
Anlaufstelle ist, an der aufgrund der Weiterbildung, der stetigen Fortbildung
wie auch der Erfahrung eine kompetente Beurteilung der Entwicklung des Kindes
und deren Störungen gegeben ist. Die Ausbildung einer derartigen Kompetenz muss
aber nach meiner Ansicht auch von Hausärzten erwartet werden, wenn sie sich mit
gleicher Qualität an der Versorgung von Kindern beteiligen wollen. Die während
des Medizinstudiums gewonnenen Einsichten in die Kinder- und Jugendmedizin
langen als einzige Basis dafür in keiner Weise aus.
Vielen Dank.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank,
Herr Professor Niethammer, für Ihren Vortrag, der uns insbesondere die
Situation aus der Sicht der Pädiatrie und die dort vorkommenden besonderen
Fragestellungen verdeutlicht hat. Ihre Schlussausführungen leiten nahtlos über
zum Tagesordnungspunkt III c:
Das Wort hat Frau Dr. Goesmann, unsere Vizepräsidentin. Bitte
schön.
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