Prof.
Dr. Dr. Horst-Eberhard Richter: Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Zugleich im Namen der eben auch
ausgezeichneten Herren Professor Fritz Beske, Professor Heyo Eckel und Dr.
Siegmund Kalinski spreche ich hiermit unseren gemeinsamen herzlichen Dank für
die uns zuteil gewordene hohe Ehrung aus, die wir auch immer noch als Ansporn
auffassen. Denn alle vier sehen wir uns trotz unseres fortgeschrittenen Alters
noch imstande, etwas davon weiterzugeben, was uns in unserem schönen Beruf an
Einsichten zuteil geworden ist.
In der mir von den drei Kollegen übertragenen kleinen Dankrede
kann ich nun allerdings nur für mich selbst sprechen, dennoch in der Hoffnung,
Sie mit Gedanken zu erreichen, die sich aus unserer derzeitigen beruflichen und
gesellschaftlichen Lage aufdrängen.
Vor fast 60 Jahren habe ich
von meinem damaligen Lehrer Viktor von Weizsäcker den Satz gehört und dann auch
gelesen: "Medizin ist eine Weise des Umgangs des Menschen mit dem Menschen."
Das ist scheinbar eine ganz banale Aussage. Doch aus ihr sprach die Sorge, dass
dieser menschliche Umgang gefährdet werde durch Ökonomisierung,
Bürokratisierung und totale Technisierung, also durch Einschränkung der Freiheiten
der Arzt-Patient-Beziehung auf Kosten persönlicher Nähe im Umgang miteinander.
Diese Nähe ist aber Voraussetzung für das Entstehen von Vertrauen und für das
Spüren von Verantwortung, denn diese wird uns immer erst im Gegenüber von
Angesicht zu Angesicht voll bewusst.
Im Würgegriff einer überhandnehmenden Fremdbestimmung der
ärztlichen Tätigkeit schrumpft die Chance für geduldige Zuwendung, für
Einfühlung und persönliche Anteilnahme.
(Beifall)
Das muss und darf nicht die korrekte naturwissenschaftlich-technische
Versorgung der Kranken beeinträchtigen. Aber die Medizin ist ein
gesellschaftlicher Raum, in dem uns auf besondere Weise unser wechselseitiges
Aufeinander-angewiesen-Sein fühlbar wird. Der eine begibt sich in die Hand des
anderen, der in der Situation als der Mächtigere in Erscheinung tritt, sich
dennoch dem Wohl des Kranken dienend unterordnet. Der Austausch zwischen
Hilfesuche und Fürsorglichkeit, Leiden und Ermutigung, Angst und Beschützung,
Ohnmacht und Stärkung bringt uns unsere existenzielle Vernetzung in der Welt so
eindringlich wie nirgendwo sonst zum Bewusstsein. Das gewagte und das belohnte
Vertrauen stiften ein Grundmuster von Humanität. Diese in der Medizin zu
erfahren und zu stärken, ist Richtschnur für die moralische Bewährung einer
zivilisierten Gesellschaft. Es gibt keine humane Gesellschaft ohne eine humane
Medizin.
(Beifall)
Diese Feststellung verlangt allerdings auch, die Erinnerung an
schwerwiegende Verletzungen unserer Standesethik unvermindert wachzuhalten, die
in dunkler Zeit geschehen sind. Drei internationale Kongresse der IPPNW zum
Thema "Medizin und Gewissen" in Erlangen und Nürnberg wurden insgesamt von mehreren
Tausend überwiegend jungen Medizinerinnen und Medizinern und Angehörigen
anderer Gesundheitsberufe besucht, die sich im Erinnern vor allem der
Widerstandskraft zum Verhüten versichern wollten.
Es gibt keine Grenze der Mitverantwortlichkeit, wo überall es
um die Bewahrung oder Stärkung des ethischen Geistes geht, zu dem uns unser
Arzttum verpflichtet. Albert Schweitzer, Empfänger der ersten
Paracelsus-Medaille 1952, hat uns mit seiner "Ethik der Ehrfurcht vor dem
Leben" einen bis heute und weiterhin gültigen Weg gewiesen. Das fängt bei der
Gerechtigkeit des Gesundheitssystems an und setzt sich in der Sozialpolitik
fort.
Aber Albert Schweitzer musste erleben, dass sich in der
geistigen Situation seiner und unserer Zeit ein unheimlicher Wandel vollzog,
der mit einer Errungenschaft der wissenschaftlich-technischen Revolution
einherging: Das war die Erfindung und der Einsatz der Atombombe, ein Triumph
menschlichen Eroberergeistes, allerdings mit der zunächst übersehenen Kehrseite
der möglichen Selbstversklavung an eine verheerende technische
Vernichtungsenergie. Die Unterdrückung dieses Aspekts bedeutete, wie Schweitzer
sogleich erkannte, eine radikale Missachtung der Ethik der Ehrfurcht vor dem
Leben.
Als er 1952, also im gleichen Jahr wie die Verleihung der
Paracelsus-Medaille, den Friedensnobelpreis in Empfang nahm, stellte er fest:
"Was uns eigentlich ins Bewusstsein kommen sollte und schon lange hätte kommen
sollen, ist dies, dass wir als Übermenschen zu Unmenschen geworden sind. Die
Erkenntnis, die uns heute nottut, ist dies, dass wir miteinander der
Unmenschlichkeit schuldig sind."
Nicht der Arzt Albert Schweitzer, sondern der Physiker und
Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker war es dann, der in der Schuld eine Art
Krankheit erkannte, die er die "seelische Krankheit Friedlosigkeit" nannte. Ist
es nicht in der Tat ein Zeichen von Krankheit, wenn in den USA die Bombardierung
von Hiroshima mit über 200 000 Opfern nach wie vor als nationale Ruhmestat
gilt?
Indessen hat der Glaube an die Heilbarkeit dieser Krankheit
bekanntlich eine weltweite ärztliche Friedensbewegung entstehen lassen. Deren einer Ansatz sind präventive Aufklärung und
aufrüttelnde Demonstrationen. Ein anderer ist internationale Hilfe für die
Opfer von Krieg, auch von nuklearen Katastrophen wie Tschernobyl.
Vornean in dieser Bewegung steht jedoch der urärztliche Ansatz
der Versöhnung; denn für ärztliche Friedensarbeit muss immer ein Pro und nicht
ein Anti vornean stehen. Wenn einer der Ausgezeichneten, beinahe selbst, wie
seine Angehörigen, Opfer von Vernichtung, sich in diesem Land außer um das Gesundheitswesen
darüber hinaus um die Versöhnung zwischen Juden und Deutschen sowie Polen und
Deutschen besonders verdient gemacht hat, so zeugt allein dies davon, dass
gerade Ärzte eine Chance haben, etwas zur Überwindung der Krankheit
Friedlosigkeit zu tun.
(Beifall)
Der Arzt Albert Schweitzer hat sich in alter Sprache auf das
Herz berufen, das von uns zu tun verlange, was den tiefsten Regungen unseres
geistigen Wesens entspreche. Die Humanität gebiete, so schrieb er, auf das Herz
zu hören. "Das Herz", sagte Paracelsus in der Philosophia sagax, "ist die Seele
im Menschen." "So nun die Lieb in Gott im ganzen Herzen gehen soll, so muss da
weichen von der Seel alle Widerwärtigkeit Gottes", also alles, was Gott zuwider
ist.
Herz und Liebe im Sinne von Paracelsus und Schweitzer und fast
auch schon das Wort Humanität kommen uns heute nicht mehr so leicht über die
Lippen, weil wir uns selbst nicht mehr so recht trauen, ob wir noch einlösen
können, was in diesen Begriffen an Anspruch steckt.
"Das Gute missfällt uns, wenn wir ihm nicht gewachsen sind",
sagte Nietzsche.
Doch an den Arztberuf knüpft sich nun einmal seit alter Zeit
die Erwartung, dass er dem Guten diene. Das kommt übrigens nicht nur aus der
Gesellschaft, sondern steckt auch offenbar ursprünglich als Wunsch in denen,
die diesen schönen Beruf anstreben. Denn in einer von mir selbst zusammen mit
meinen Mitarbeitern durchgeführten älteren Studie haben wir ermittelt, dass
Abiturientinnen und Abiturienten, die sich für das Medizinstudium entscheiden,
sich mehr fürsorgliche Gedanken um andere Menschen machen als andere
Studienanwärter. Was an äußerer Unfreiheit, Verflachung des Zeitgeistes oder
individueller Ernüchterung zu einem späteren Einstellungswandel beitragen kann,
muss hier unerörtert bleiben, zumindest von mir jetzt. Zu wiederholen ist nur,
dass wir uns als Ärztinnen und Ärzte unserer hohen Verantwortung nicht nur für
das physische Wohl, sondern ganz besonders auch für die Menschlichkeit unserer
Gesellschaft bewusst bleiben müssen. Dass von dieser Sensibilität bei unserem
professionellen Nachwuchs mehr vorhanden ist, als es mitunter nach außen den
Anschein hat, ist mein persönlicher psychologischer Eindruck. Das mag wieder
nach Gutmenschen-Optimismus klingen, wenn ich das sage. Aber ich hoffe,
zugleich im Namen der anderen drei Ausgezeichneten zu sprechen, wenn ich sage,
dass ein praktischer Optimismus im ärztlichen Engagement ein geeignetes Mittel
ist, einem heute weitverbreiteten theoretischen Pessimismus zu widersprechen.
Ich danke Ihnen.
(Langanhaltender lebhafter Beifall -
Die Anwesenden erheben sich)
(Wolfgang Amadeus Mozart: Konzert für Klavier und
Orchester Nr. 12 A-Dur in der Klavierquintettfassung des Komponisten, 3. Satz:
Rondeau. Allegro) |