Eröffnungsveranstaltung

Dienstag, 20. Mai 2008, Vormittagssitzung

Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages und Präsident der Ärztekammer Nordrhein: Dann gucken wir mal, was wir daraus machen, meine Damen und Herren.

(Beifall)

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister! Meine Damen und Herren Abgeordneten aus Bund und Land! Frau Bundesministerin Schmidt! Frau Ministerin und Kollegin Dr. Scholz! Frau Landesärztekammerpräsidentin Dr. Wahl! Liebe Ehrenpräsidenten! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde heute keine Rede halten, sondern einen Vortrag. Ich habe mir gedacht, dass es ja eigentlich nicht sinnvoll ist, ein "Ulmer Papier" von mehr als 35 Seiten zu verfassen und die dort enthaltenen Aussagen jetzt hier noch einmal vorzutragen. Das, was wir empfinden und wie es uns als Ärztinnen und Ärzten geht, steht in diesem Papier. Was wir vorschlagen, damit es besser wird, steht auch in diesem Papier. Deswegen möchte ich gern ein bisschen aphoristisch mit einigen Bemerkungen auf die globale Situation hinweisen, in der sich unser Gesundheitswesen nach etwa 20 Jahren Baustellenzustand befindet.

Aber bevor ich dies tue, möchte ich mich herzlich bei Herrn Oberbürgermeister Gönner für seinen Hinweis auf Einstein bedanken. Ich glaube aber, niemand in der Politik geht davon aus, dass die deutsche Ärzteschaft jemals die Fahnen nach dem Wind gehängt hat, wohlgemerkt: nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir haben aufgepasst, dass durch unser Gesundheitswesen eine gute Patientenversorgung sichergestellt wird. Das war das Ziel, das war die Richtung, die wir in all diesen Jahren eingeschlagen haben. Leider sind wir nicht selten aneinandergeraten oder haben zumindest verschiedene Meinungen gehabt. Wir haben uns aber nicht verbiegen lassen oder den Wind künstlich umgelenkt, damit die Fahne in eine andere Richtung zeigt. Das ist nicht unsere Art.

Liebe Frau Wahl, vielen Dank für die Einladung im Namen der Landesärztekammer Baden-Württemberg. Wir freuen uns, dass wir hier tagen können, und sind ganz sicher, dass die äußeren Umstände für den Ulmer Ärztetag günstig sind. Vielen Dank auch für Ihre sehr prägnanten Ausführungen zu einigen der Themen, die auf diesem Ärztetag eine Rolle spielen.

Frau Ministerin Stolz, ich bedanke mich sehr, dass Sie unter anderem das Thema Patientenverfügung angesprochen haben. Wir stimmen, glaube ich, wenn ich das richtig verstanden habe, darin überein, dass ein Gesetz zu diesem Thema nicht nötig ist.

(Beifall)

Ich weiß auch aus juristischem Munde: Die Rechtslage ist eigentlich klar, sie ist nur nicht bekannt genug. Deswegen haben wir als Bundesärztekammer gemeinsam mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung unsere Beschlüsse, unsere Grundsätze zu Fragen der ärztlichen Sterbebegleitung und die Empfehlungen zum Umgang mit Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten im Taschenbuchformat veröffentlicht und dies allen Ärztinnen und Ärzten durch das "Deutsche Ärzteblatt" und darüber hinaus allen, die in der Patientenversorgung tätig sind, zur Verfügung gestellt.

Wir haben schnell bemerkt, dass das Interesse viel größer ist als von uns angenommen. Wir mussten die Auflage erhöhen. Mittlerweile interessieren sich viele Institutionen außerhalb der originären Ärzteschaft für diese Publikation, weil dort wirklich alles enthalten ist, was für ärztliches Handeln in den jeweiligen Situationen wichtig und hilfreich ist. Das kann durch ein Gesetz nicht verbessert werden. Ein Gesetz brächte nach meiner Meinung eher wieder Unruhe, weil dann alle meinten: Das ist überholt, es gibt neue Situationen, wir haben neue Dinge zu beachten. Dies ist aber gar nicht der Fall. Wir sind uns ja im Prinzip völlig einig.

Ich habe früher gesagt: Ich habe keine Patientenverfügung, ich habe eine Vorsorgevollmacht. Ich gestehe ganz offen: Ich habe jetzt doch eine Patientenverfügung. Sie beinhaltet ganz schlicht, notariell beglaubigt: Ich möchte gerne, dass meine mich eines Tages behandelnden Ärztinnen und Ärzte mich nach diesen Grundsätzen betreuen. Das steht dort expressis verbis. Vielleicht machen das ganz viele; dann entfällt manchmal auch die Unklarheit darüber, wie Ärztinnen und Ärzte mit demjenigen umgehen sollen, der diese Verfügung ausgestellt hat. Ich glaube, das ist ein guter Weg, mit diesem Thema umzugehen.

Natürlich dürfen Ärztinnen und Ärzte ihre Patienten nicht gegen deren Willen behandeln. Das ist selbstverständlich. Ich mache aber auch immer darauf aufmerksam: Ärztinnen und Ärzte müssen sich auch nicht gegen ihren Willen und ihre Überzeugungen zu Behandlungen zwingen lassen oder Behandlungen durchführen bzw. unterlassen, wenn das eine Angelegenheit ist, die sie beschwert. Die Ärzte sind in diesen Fällen - außer in Notfällen - berechtigt, den Behandlungsvertrag aufzulösen, weil das entsprechende Vertrauensverhältnis nicht vorhanden ist. Es gibt nicht nur auf der einen Seite Rechte und Pflichten, sondern es gibt auch auf der anderen Seite Rechte und Pflichten. Darauf sollte man in der Öffentlichkeit doch intensiv hinweisen.

(Beifall)

Ich glaube nicht, dass es nach einer Gesetzgebung so sein wird, dass derselbe Vorgang von dem einen Gericht als Körperverletzung betrachtet wird, weil der Arzt seine Fürsorgepflicht im Vordergrund gesehen hat, während ein anderes Gericht diesen Vorgang als unterlassene Hilfeleistung einstuft, wenn man nicht hilft. Insofern glaube ich - da stimmen wir völlig überein, Frau Ministerin Stolz -, dass diese millionenfach vorkommenden Fälle nicht gesetzlich regelbar sind. Das, was bis heute durch Gesetz und Rechtsprechung festgelegt und in unseren Grundsätzen und in dem erwähnten Papier zusammengefasst ist, reicht völlig aus und sorgt dafür, dass wir nicht in eine neue Verwirrung geraten. Herzlichen Dank dafür, dass Sie sich auch so geäußert haben.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, unser Gesundheitswesen ist seit nunmehr fast 20 Jahren im Umbau. Eine stabile Neuordnung ist noch nicht zu entdecken. Das möchte ich kurz darlegen.

Die Historie ist ja, dass wir eine Daseinsvorsorge durch den Staat hatten und diese eigentlich auch haben müssten, weil nach dem Grundgesetz der Staat dafür zu sorgen hat, dass die gesundheitliche Betreuung der Bevölkerung durch den Bund einerseits und durch die Länder andererseits sichergestellt ist. Die Selbstverwaltung hatte - das sage ich jetzt mit Absicht so - justierende und feinsteuernde Funktion, und zwar als gestaltende Selbstverwaltung und nicht als Auftragsselbstverwaltung, die Aufträge zu erledigen hat.

(Beifall)

Der Gesetzgeber hat diese Funktion der Selbstverwaltung übertragen, die mit Personen besetzt war, die, wie man sagt, an der Front tätig waren, beispielsweise in der individuellen Patient-Arzt-Beziehung, und deswegen Erfahrungen aus dem Alltag einbringen konnten. Das hatte sich eigentlich immer bewährt. Warum das aufgegeben wurde, werden wir gleich sehen.

Im Zentrum steht bei diesem Denken - da stimme ich den Ausführungen von Herrn Professor Richter ausdrücklich zu - die individuelle Situation, das individuelle Patient-Arzt-Verhältnis. Professor Beske hat das immer wieder geschrieben. Die Begriffe "notwendig", "ausreichend", "zweckmäßig" und "wirtschaftlich" bezogen sich auf Individuen, auf den einzelnen Patienten. Das, was notwendig ist, musste dem einzelnen Menschen zuteil werden.

Das war mit Absicht - ich hoffe, die Juristen stimmen mir hier zu - ein sogenannter unbestimmter Rechtsbegriff, weil sich das, was notwendig ist, immer aus der Situation ergab. Äußere Einflüsse darauf gab es früher nicht. Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt, der uns nach diesen eben genannten 20 Jahren der Umbruchsphase nunmehr beschwert. Es steht nicht mehr sosehr die Betrachtung der millionenfachen individuellen Patient-Arzt-Beziehungen im Vordergrund, sondern eine kollektivistische Sicht des Gesamtsystems.

Früher war der Staat für die Sicherstellung zuständig; er hat dafür gesorgt, dass Krankenhäuser zur Verfügung standen - übrigens nach dem "Feuerwehrprinzip" -, und er hat die ambulante Versorgung den Kassenärztlichen Vereinigungen übertragen. Die Kassenärztliche Vereinigung erhielt den Sicherstellungsauftrag. Daran hing auch ihr Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Das sind Geschwister. Man kann nicht sagen: Du hast den Sicherstellungsauftrag, du bist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, aber in dieser und in jener Frage wollen wir Vielfalt. Das geht nicht. Entweder ist man vollständig für die Sicherstellung zuständig oder man beseitigt diese Situation und muss sich dann überlegen, wie man diese wertvolle Einrichtung künftig behandeln will.

(Beifall)

Jetzt lässt man hier und da Kolibrisituationen entstehen und erklärt: Für den Rest ist immer noch die Kassenärztliche Vereinigung als Körperschaft des öffentlichen Rechts da. Das wird auf die Dauer nicht funktionieren. Wenn sie von innen und von außen so stark demoliert wird, dass sie eines Tages nicht mehr zur Verfügung steht, wäre das für die Bundesrepublik Deutschland ein schwerer Schaden.

(Beifall)

Was in der individuellen Patient-Arzt-Beziehung passierte, war früher eine Angelegenheit dieser beiden Partner. Daran hat auch niemand Anstoß genommen. Zwar wurden auch früher Kontrollen durchgeführt, ob irgendwelche Fehlentwicklungen entstanden, aber man hat nicht etwa Ärztinnen und Ärzten vorgeworfen, sie ließen ihren Patientinnen und Patienten aus Gründen, die in ganz anderen Dingen liegen, bestimmte Behandlungen zuteil werden bzw. enthielten sie ihnen vor.

Die Situation hat sich in diesem Jahrzehnt nachhaltig durch zwei Dinge verändert: durch die Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen in den Krankenhäusern, bei denen es ja nicht nur um eine Geldsumme geht, sondern zu dieser Geldsumme gehört immer ein Leistungspaket, und durch Disease-Management-Programme, die mir immer ein Dorn im Auge waren, weil sie die Eigenschaft haben, Patientinnen und Patienten schematisch zu behandeln.

Je länger sie existieren und je stringenter sie gefasst werden, desto mehr wird der Patient zum Programmteilnehmer, aber er ist kein individueller Kranker mehr.

(Beifall)

Da diese und andere Vorgaben für die Betreuung durch Rechtsverordnungen - das sind untergesetzliche Anordnungen, die beispielsweise das Ministerium erlässt, manchmal mit Zustimmung des Bundesrats, manchmal nicht - entstehen, darf man das als planwirtschaftliche Politik bezeichnen. Und weil der Staat dabei eine Rolle spielt, darf man das auch als Staatsmedizin bezeichnen. So ist das zu verstehen.

(Beifall)

Frau Ministerin, Sie haben es eben dargestellt: Der Staat bestimmt zukünftig auch die Finanzausstattung der gesetzlichen Krankenversicherung, weil von dort die Beiträge festgelegt werden, weil der Fonds mit Steuern gefüttert wird und den Krankenkassen nur noch ein minimaler Spielraum bleibt, wobei sie sich allerdings in einer Situation befinden, im Wettbewerb, in der sie beinahe gezwungen sind, sich ähnlich zu verhalten wie die Mineralölgesellschaften. Es wird eine Wettbewerbssituation entstehen, die sich auf die Dauer mit einem Gesundheitswesen nicht verträgt. Das kann man in anderen Geschäftsbereichen tun, aber nicht bei der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung. Dort ist das fehl am Platze.

(Beifall)

Nun kommt der Gegenzug: Was bisher vom Staat im Rahmen der Daseinsvorsorge vorgehalten wurde, wird - das erleben wir sozusagen an der Front ein ums andere Mal - zunehmend dem Wettbewerb überantwortet. Das Wettbewerbsdenken im Gesundheitswesen hat ja eine ganz besondere Bedeutung. Auch dazu gibt es Literatur; das weiß ich.

Was wir uns dabei besonders anschauen müssen, ist die Tatsache, dass Freiberufler ihr Geld für Investitionen entweder durch ihre Arbeit im Gesundheitswesen verdienen oder Kredite aufnehmen müssen, die sie dann wiederum durch ihre Arbeit refinanzieren müssen, dass mildtätige, karitativ eingestellte Einrichtungen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden - sie haben vielleicht durch Spendengelder eine etwas bessere Position als die Freiberufler -, dass Non-Profit-Unternehmen - damit meine ich in erster Linie kommunale Einrichtungen - und Profit-Unternehmen miteinander im Wettbewerb stehen und konkurrieren.

Der große Unterschied ist allerdings, dass profitorientierte Unternehmen das Geld, das sie für ihre Investitionen einbringen, von außen mitbringen können. Die Investoren interessieren sich für das deutsche Gesundheitswesen und die Möglichkeiten, dort eine Rendite zu erwirtschaften. Sie werden natürlich streng darauf achten, dass in ihren Einrichtungen, in die sie investiert haben, überwiegend nur das passiert, was tatsächlich Gewinn bringt. Den Rest werden sie den anderen überlassen.

(Beifall)

Das kann man ihnen nicht vorwerfen, das ist völlig normal.

Wir beobachten, dass ein Krankenhaus nach dem anderen, das der Insolvenz entgegengeht oder sich schon in ihr befindet, übernommen wird, wenn es erfolgversprechend ist, durch organisatorische Maßnahmen in eine gewinnbringende Situation zu gelangen. Es ist ja auch schon vorgekommen - ich glaube, das geschah sogar hier in Baden-Württemberg -, dass ein solcher Investor das Krankenhaus anschließend wieder an den Staat zurückgegeben hat, weil die Erfolge nicht eintraten.

Sie merken: Hier sind völlig ungleiche Spieße vorhanden.

Die Einrichtungen in unserem Gesundheitswesen arbeiten auf völlig unterschiedlichen Ebenen, mit völlig unterschiedlicher Ausstattung. Ich weiß nicht, wohin das auf die Dauer führen soll. Meines Erachtens sind die mildtätigen Einrichtungen und die Freiberufler hier am meisten gefährdet, obwohl sie für unseren Staat eine so große Bedeutung haben.

(Beifall)

Man kann auch beobachten - das ist ebenfalls normal -: Selbst mildtätig eingestellte Krankenhäuser werden durch diese politische Entwicklung zunehmend zu Werbe- und Verkaufsstrategien gezwungen, die wir bisher bei den Pharmaunternehmen heftigst kritisiert haben. Das muss man sich einmal überlegen.

(Beifall)

Die Folgen der Entwicklung sind, Frau Ministerin: Wir haben eine chronische, und zwar eine chronisch wachsende Unterfinanzierung in unserem System. Das ist einfach so. Sie haben gerade einige Perspektiven dargestellt, wie sich das bessern könnte. Wir haben in unserem Papier auch Vorschläge gemacht, wie man ganz viele Tropfen auf heiße Steine tun könnte. Aber eine grundlegende Besserung ist, glaube ich, nicht in Sicht. Da macht uns der Fonds auch nicht viel Hoffnung, weil ja das oberste Ziel deutscher Gesundheitspolitik immer noch die Beitragssatzstabilität ist. Ich weiß nicht, wie das funktionieren soll, es sei denn, der Staat ist ganz spendabel und überlegt sich noch einmal die Staffelung mit den Steuerzuflüssen.

Wir haben das, was man in der Wissenschaft als implizite Rationierung bezeichnet. Das haben wir, das erleben wir: eine heimliche Rationierung in vielfältigster Form. Das bedeutet nicht, dass ein Leistungskatalog oder etwas Ähnliches erstellt wird, in dem steht, was man bekommt, was man nicht bekommt, was man aus der eigenen Tasche zahlen muss, wo man etwas zuzahlen muss. Diese Rationierung macht sich ganz anders bemerkbar, beispielsweise durch einen Personalabbau in den Krankenhäusern, die mit den DRG-Einnahmen nicht zurechtkommen und dadurch eine verminderte Möglichkeit der Patientenversorgung haben. Die Patienten haben den Nachteil, weil die Versorgung im Zweifelsfall nicht so schnell geschieht, wie sie geschehen müsste. Das zeigt sich auch in vielen anderen Punkten; das können wir in den Schriften von Professor Beske nachlesen.

Diese Form der sogenannten heimlichen, der verdeckten Rationierung erleben wir jetzt seit Jahren und müssen sie ertragen. Aber das wollen wir nicht mehr!

(Beifall)

Frau Ministerin, ich möchte Sie bitten - wir haben ja schon einmal darüber gesprochen -, darüber ganz offen mit uns zu diskutieren.

Ich darf ein Zitat wiederholen, das ich schon einmal benutzt habe. Der US-amerikanische Philosoph an der Rice University in Houston, Texas, Tristram Engelhardt jr., schreibt in seinem Beitrag "Das Recht auf Gesundheitsversorgung, soziale Gerechtigkeit und Fairness bei der Erteilung medizinischer Leistungen": "Frustration im Angesicht der Endlichkeit" in einer Fußnote Folgendes:

Der unglückliche Vorschlag von Clinton für Veränderungen im Gesundheitswesen liefert ein moralisches Beispiel dafür, wie man eine Gesundheitsreform nicht anpacken sollte. Von der anfänglichen Behauptung,

- das ist jetzt etwas, was uns an sich nicht so interessiert, aber es gehört halt zum Text -

dass es möglich sei, innerhalb von 100 Tagen eine brauchbare Gesundheitsreform für eine Viertelbillion Menschen auf die Beine zu stellen - ohne öffentliche Diskussionen und ohne sorgfältigen Vergleich der amerikanischen und ausländischen Erfahrungen -, bis hin zu der tatsächlichen Formulierung eines Vorschlags, der sich an der irreführenden Ideologie orientierte, die das Einge­ständnis von Rationierung verbot, war der Vorschlag eine Studie der Unaufrichtigkeit. Dieses Vorgehen sollte in der Zukunft in Fallsammlungen zur Bioethik als Beispiel dafür stehen, wie man es nicht machen sollte.

Ich denke, das sollten wir uns zu Herzen nehmen und offen darüber diskutieren. Zu nichts anderem haben wir, habe ich in den letzten Tagen aufgefordert, weil dieses Thema Deutschland genauso erreicht hat wie beispielsweise Großbritannien, Schweden, Finnland, auch Teile der Vereinigten Staaten von Amerika, zumindest was Bevölkerungsteile angeht.

Wir haben diese implizite heimliche Rationierung. Wir sollten sie öffentlich und ehrlich diskutieren, damit sich die Bevölkerung klar darüber werden kann, ob es wirklich richtig ist, davon auszugehen, dass sie nicht bereit ist, mehr für das Gesundheitswesen zu investieren. Wir kennen ja die Umfragen, die immer wieder das Ergebnis haben: lieber Beitragserhöhungen als Leistungseinschränkungen. Die Menschen möchten keine Leistungseinschränkungen, sie möchten auch keine Einschränkung der Arztwahlfreiheit, sie möchten keine Einschränkung der Therapiewahlfreiheit.

(Beifall)

Deswegen meine ich, wir sollten das, wir müssen das einfach vielleicht sogar zu einem Wahlkampfthema machen, damit diese Diskussion öffentlich stattfindet.

(Beifall)

Wir haben als weitere Folge dieser Veränderungen eine mittlerweile nicht mehr zu verantwortende Überforderung - ich sage auch: Ausbeutung - der Angehörigen der Gesundheitsberufe, nicht nur der Ärztinnen und Ärzte.

(Beifall)

Wir haben auch - und das stimmt mich traurig - eine Förderung des Misstrauens. Wenn nämlich eine Ärztin oder ein Arzt in der Praxis oder am Krankenbett dem Patienten beibringen muss, dass es dieses und jenes nicht mehr gibt, dann wird der Patient misstrauisch und fragt: Warum gibt es das nicht mehr? Hast du eventuell einen Vorteil davon, wenn du mir das nicht mehr gibst? Das ist eine Entwicklung, die schlimm ist. Es wäre schlimm, wenn sie sich weiterhin so fortsetzte. Diese Entwicklung müssen wir bremsen.

(Beifall)

Jetzt komme ich zu einem Punkt, der Sie überraschen wird. Es gibt indirekte Indikatoren dafür, dass wir eine Mangelverwaltung haben, dass unser System unterfinanziert ist. Der erste Punkt eines solchen indirekten Indikators ist, dass die Absicht besteht, kodierte Patientenrechte zu fixieren. Das bedeutet eine Aushebelung der Sozialgerichtsbarkeit oder eine Schwächung der Sozialgerichtsbarkeit, sonst wäre es ja Symbolpolitik. Die Ausformulierung kodierter Patientenrechte ist ein typisches Merkmal unterfinanzierter - in der Regel: steuerfinanzierter - Gesundheitssysteme.

Das brauchen wir eigentlich nicht, wenn die Versorgung ordentlich ist, wie sie es früher einmal war, und alle mit der Versorgung zufrieden sind.

(Beifall)

Wenn aber immer irgendwo die Decke zu kurz ist, dann müssen wir forschen, wo sie zu kurz ist, warum sie zu kurz ist und was wir tun können, damit sie an dieser Stelle wieder ausreicht - aber dann wird sie woanders zu kurz sein.

Das ist das typische Ergebnis eines solchen Prozesses, der meines Erachtens nicht nötig wäre, wenn wir uns in anderer Weise um unser Gesundheitswesen kümmern würden.

Der zweite Punkt ist die Frage der Versorgungsforschung. Auch so etwas wie die Patientenrechte brauchte man eigentlich nicht, wenn die Versorgung komplett und gut wäre. Denn das ergäbe sich von alleine.

(Beifall)

Auch das ist ein typisches Merkmal von steuerfinanzierten Gesundheitssystemen. Wir machen sie mit, weil es sich als notwendig erweist. Uns wird immer wieder vorgeworfen, wir seien Hinterwäldler und Nachzügler, was die Versorgungsforschung angeht. Ja, das stimmt; aber nicht deswegen, weil wir diesen wissenschaftlichen Zweig verpasst haben, sondern weil das früher bei uns nicht nötig war, weil unser Gesundheitswesen auf die einzelne Person konzentriert war, auf den Kranken, und nicht auf irgendeine kollektivistische Sicht.

(Beifall)

Der dritte Indikator, der mich, ehrlich gesagt, sehr irritiert und auch bedrückt, ist die Entwicklung unserer spezifischen Variante des grauen Marktes, genannt IGeL. Ich weiß, dass dies ein Thema ist, das hochverletzlich sein kann, hochsensibel ist. Aber wir haben als Ärztekammer mit diesen Problemen sehr viel zu tun, weil auch dadurch Vertrauensschwund, Vertrauenseinbußen zwischen Patientinnen und Patienten auf der einen Seite und Ärztinnen und Ärzten auf der anderen Seite entstehen - und dies nicht nur individuell, sondern schließlich auch überindividuell. Das betrifft den ganzen Berufsstand. Das möchte ich im Zaum halten. Darüber haben wir uns bereits in Magdeburg intensiv unterhalten und Beschlüsse gefasst, wir haben Aktivitäten entfaltet, um das Thema im Zaum zu halten.

Dieses Thema wäre aber nicht vorhanden, sondern irrelevant, wenn unser Gesundheitssystem in Ordnung wäre. Graue Märkte gibt es sonst nur in Ländern, in denen es eine massive Unterfinanzierung gibt, oder in korrupten Ländern.

(Beifall)

Auch das Thema Patientensicherheit wird gelegentlich missbraucht. Frau Ministerin, Sie haben das nie getan, sondern andere. Auch dies ist ein Indikator dafür, dass etwas nicht stimmt. Das betrifft uns aber nicht; ich freue mich über die gute Zusammenarbeit bei diesem Thema.

Diejenigen von uns, die im Krankenhaus arbeiten, haben einen typischen Wechsel, was die Krankenhaushygiene angeht, miterlebt. Die krankenhauseigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die das Krankenhaus gepflegt haben, wurden, wenn sie in den Ruhestand gingen, nicht durch Personen ersetzt, die sich mit diesem Krankenhaus identifizieren, die das als ihre Einrichtung betrachten, die sich darüber freuen, dass das Krankenhaus sauber ist, wenn alle Leitungen blinken, sondern durch Reinigungsfirmen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Reinigungsfirmen arbeiten unter einem unglaublichen Druck. Sie müssen Quadratmeter abliefern, die sie nass und dann wieder trocken gemacht haben. Wenn das vorbei ist, sind sie weg.

(Beifall)

Frühere Aktivitäten wie das Reinigen der Rohre und dergleichen mehr kommen in deren Programm nicht mehr vor. Auch diese Situation trägt dazu bei, dass wir bei der Krankenhaushygiene Probleme haben, nicht weil sich die Ärztinnen und Ärzte angeblich die Hände nicht waschen.

Diese Probleme beseitigen wir nicht dadurch, dass wir irgendwelche Vorschriften erlassen und erklären, jetzt müsse da jeden Tag kontrolliert werden. Statt des Kontrolleurs können wir gleich jemanden hinschicken, der weiß, wie man richtig saubermacht. Insofern brauchen wir keinen Kontrolleur.

(Beifall)

Unser derzeitiges System lebt von Vorschriften, Kontrollen und viel Bürokratie. Das haben wir oft genug gesagt, ich will es nicht mehr wiederholen.

Wir haben noch eine weitere Entwicklung festzustellen, die auch Ihnen, Frau Ministerin, nicht gefallen kann, Frau Stolz ebenso wenig, dem Herrn Oberbürgermeister auch nicht, überhaupt niemandem. Ich meine eine Entwicklung, die ich einmal den Speckgürtel im Gesundheitswesen nennen möchte. Ich versuche, das zu erklären. Das habe ich schon einmal bei den Internisten getan. Da hat man es sofort verstanden; dann wird das hier wohl auch so sein.

(Heiterkeit)

Wir einigen uns darauf, dass der Kern die individuelle Patientenversorgung ist, aus unserer Sicht die individuelle Patient-Arzt-Beziehung. Der erste Ring, der dort herumgelegt ist und hilft, dass diese Beziehung funktioniert, besteht aus Zuarbeitern, die aus der Technik kommen, aus der EDV - im Wesentlichen aus der Software -, aus der Verwaltung, aus dem Controlling, aus der internen Qualitätssicherung, wie man das heute nennt.

Der zweite Ring, der dort herumgelegt ist, ist auch nötig; das sind diejenigen, die die Medizintechnik und die Logistik liefern. Dazu gehört auch die Pharmaindustrie und die Hardware der elektronischen Datenverarbeitung.

Dann kommt der dritte Ring. Das ist die externe Qualitätssicherung, die ja primär gut gemeint war. Aber daraus hat sich eine Industrie entwickelt, die unglaublich teuer ist, die Auflagen erteilt, wenn man zertifiziert und akkreditiert werden will. Diese Ausgaben sind nicht mehr verantwortbar. Dieses Geld fehlt in der Patientenversorgung.

(Beifall)

Das Geld geht an Zertifizierer und, wie gestern Fritz Kolkmann so schön sagte, "Onkozerten", also diejenigen, die zum Beispiel Tumorbehandlungseinrichtungen zertifizieren, Brustkrebszentren usw. Das alles ist superteuer.

Dann bekommt man auch noch gesagt: Sie müssten eigentlich eine Stelle einrichten, die kostet aber 50 000 Euro. Darauf würde ich antworten: Das sind genau diejenigen 50 000 Euro, die Sie jetzt wegschleppen. Diese Summe hätte ich dafür benutzen können.

(Beifall)

Den vierten Ring bilden die überindividuellen Entscheider. Ich formuliere das jetzt mit Absicht etwas abstrakt. Sie können im "Ulmer Papier" auf den Seiten 38 bis 47 nachlesen, wer das ist. Dazu gehören natürlich auch die Politik, die Auftragsselbstverwaltung und viele andere, die über die individuelle Patient-Arzt-Beziehung hinaus Entscheidungen über das treffen, was in dieser Beziehung passiert.

Der fünfte Ring sind die ganz Besonderen, das sind Consulting-Firmen, Experten aller Art, Sachverständige, übrigens auch Mediziner, denen es leider nicht vergönnt war, Arzt zu werden.

(Beifall)

Sie haben die Eigenschaft, für viel Geld sowohl die Politik als auch die späteren Anwender von Politik, von politischen Entscheidungen, also sozusagen uns zu beraten. Sie verdienen also zweimal an der ganzen Unternehmung.

Jetzt stellt man fest, dass die Ringe 4, 5 und 6 mittlerweile eigene Kongresse veranstalten. Bei diesen eigenen Kongressen kommen Kranke und diejenigen, die sie betreuen, schon gar nicht mehr vor. Sie haben ein Eigenleben entwickelt, sie leben für sich selbst.

(Beifall)

Ich verstehe, warum Professor Unschuld, der frühere Medizinhistoriker aus München, der jetzt in Berlin an der Charité arbeitet, ein Buch mit dem Titel "Der Arzt als Fremdling in der Medizin?" geschrieben hat. Man kann das erweitern: "Der Arzt als Fremdling im Gesundheitswesen?" Aber das ist nicht ganz richtig, weil dort ja viele mitspielen.

Anders formuliert - wir sind jetzt insofern schon angloamerikanisiert, als wir immer in Gewinner- und Verliererdimensionen rechnen -: Gewinner dieser Reform seit den 90er-Jahren - es hat 1993 markant angefangen - sind die Beitragszahler der GKV - das hat sich bewährt, wenn man das als etwas Gutes empfindet -, die Planwirtschaftler, die Investoren und die sogenannte spezielle Variante des grauen Marktes.

Die Verlierer sind die Patienten, die Gesundheitsberufe, darunter auch wir Ärztinnen und Ärzte, und mildtätig-karitativ eingestellte Menschen und Organisationen. Das ist die Diagnose, die man nach dieser Entwicklung stellen muss.

(Beifall)

Der Aufsichtsratsvorsitzende der Rhön-Klinikum AG, Herr Eugen Münch, hat sinngemäß - es ist kein wörtliches Zitat - gesagt: Gerhart Hauptmann würde heute statt "Die Weber" "Die Ärzte" schreiben - weil wir die Industrialisierung im Gesundheitswesen verschlafen hätten. Er irrt. Wir haben sie nicht verschlafen, wir haben sie mit Schmerzen beobachtet, weil wir sahen, wie sie slippery-slope-artig weitergeht. Wir wollen keine Industrialisierung im Gesundheitswesen, sondern wir wollen eine zeitgerechte individuelle Versorgung unserer Patienten. Und dafür kämpfen wir. Das ist auch der Sinn unseres "Ulmer Papiers".

Vielen Dank.

(Langanhaltender lebhafter Beifall - Die Anwesenden erheben sich)

Damit, meine Damen und Herren, ist der 111. Deutsche Ärztetag 2008 in Ulm eröffnet. Ich danke Ihnen.

Ich bitte Sie alle, sich zum Singen der Nationalhymne von Ihren Plätzen zu erheben.

Im Anschluss sind alle Teilnehmer der Eröffnungsveranstaltung herzlich zum Empfang der Landesärztekammer Baden-Württemberg in das Foyer eingeladen.

(Die Anwesenden singen die Nationalhymne)

© Bundesärztekammer 2008