Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich
Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages und
Präsident der Ärztekammer Nordrhein: Dann gucken wir mal, was
wir daraus machen, meine Damen und Herren.
(Beifall)
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister! Meine Damen und Herren
Abgeordneten aus Bund und Land! Frau Bundesministerin Schmidt! Frau Ministerin
und Kollegin Dr. Scholz! Frau Landesärztekammerpräsidentin Dr. Wahl! Liebe Ehrenpräsidenten!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde heute keine
Rede halten, sondern einen Vortrag. Ich habe mir gedacht, dass es ja eigentlich
nicht sinnvoll ist, ein "Ulmer Papier" von mehr als 35 Seiten zu verfassen und
die dort enthaltenen Aussagen jetzt hier noch einmal vorzutragen. Das, was wir
empfinden und wie es uns als Ärztinnen und Ärzten geht, steht in diesem Papier.
Was wir vorschlagen, damit es besser wird, steht auch in diesem Papier.
Deswegen möchte ich gern ein bisschen aphoristisch mit einigen Bemerkungen auf
die globale Situation hinweisen, in der sich unser Gesundheitswesen nach etwa
20 Jahren Baustellenzustand befindet.
Aber bevor ich dies tue, möchte ich mich herzlich bei Herrn
Oberbürgermeister Gönner für seinen Hinweis auf Einstein bedanken. Ich glaube
aber, niemand in der Politik geht davon aus, dass die deutsche Ärzteschaft
jemals die Fahnen nach dem Wind gehängt hat, wohlgemerkt: nach dem Zweiten
Weltkrieg. Wir haben aufgepasst, dass durch unser Gesundheitswesen eine gute
Patientenversorgung sichergestellt wird. Das war das Ziel, das war die
Richtung, die wir in all diesen Jahren eingeschlagen haben. Leider sind wir
nicht selten aneinandergeraten oder haben zumindest verschiedene Meinungen
gehabt. Wir haben uns aber nicht verbiegen lassen oder den Wind künstlich
umgelenkt, damit die Fahne in eine andere Richtung zeigt. Das ist nicht unsere
Art.
Liebe Frau Wahl, vielen Dank für die Einladung im Namen der
Landesärztekammer Baden-Württemberg. Wir freuen uns, dass wir hier tagen
können, und sind ganz sicher, dass die äußeren Umstände für den Ulmer Ärztetag
günstig sind. Vielen Dank auch für Ihre sehr prägnanten Ausführungen zu einigen
der Themen, die auf diesem Ärztetag eine Rolle spielen.
Frau Ministerin Stolz, ich bedanke mich sehr, dass Sie unter
anderem das Thema Patientenverfügung angesprochen haben. Wir stimmen, glaube
ich, wenn ich das richtig verstanden habe, darin überein, dass ein Gesetz zu diesem
Thema nicht nötig ist.
(Beifall)
Ich weiß auch aus juristischem Munde: Die Rechtslage ist
eigentlich klar, sie ist nur nicht bekannt genug. Deswegen haben wir als
Bundesärztekammer gemeinsam mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung unsere
Beschlüsse, unsere Grundsätze zu Fragen der ärztlichen Sterbebegleitung und die
Empfehlungen zum Umgang mit Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten im
Taschenbuchformat veröffentlicht und dies allen Ärztinnen und Ärzten durch das
"Deutsche Ärzteblatt" und darüber hinaus allen, die in der Patientenversorgung
tätig sind, zur Verfügung gestellt.
Wir haben schnell bemerkt, dass das Interesse viel größer ist
als von uns angenommen. Wir mussten die Auflage erhöhen. Mittlerweile
interessieren sich viele Institutionen außerhalb der originären Ärzteschaft für
diese Publikation, weil dort wirklich alles enthalten ist, was für ärztliches
Handeln in den jeweiligen Situationen wichtig und hilfreich ist. Das kann durch
ein Gesetz nicht verbessert werden. Ein Gesetz brächte nach meiner Meinung eher
wieder Unruhe, weil dann alle meinten: Das ist überholt, es gibt neue
Situationen, wir haben neue Dinge zu beachten. Dies ist aber gar nicht der
Fall. Wir sind uns ja im Prinzip völlig einig.
Ich habe früher gesagt: Ich habe keine Patientenverfügung, ich
habe eine Vorsorgevollmacht. Ich gestehe ganz offen: Ich habe jetzt doch eine
Patientenverfügung. Sie beinhaltet ganz schlicht, notariell beglaubigt: Ich
möchte gerne, dass meine mich eines Tages behandelnden Ärztinnen und Ärzte mich
nach diesen Grundsätzen betreuen. Das steht dort expressis verbis. Vielleicht machen
das ganz viele; dann entfällt manchmal auch die Unklarheit darüber, wie
Ärztinnen und Ärzte mit demjenigen umgehen sollen, der diese Verfügung ausgestellt
hat. Ich glaube, das ist ein guter Weg, mit diesem Thema umzugehen.
Natürlich dürfen Ärztinnen und Ärzte ihre Patienten nicht
gegen deren Willen behandeln. Das ist selbstverständlich. Ich mache aber auch
immer darauf aufmerksam: Ärztinnen und Ärzte müssen sich auch nicht gegen ihren
Willen und ihre Überzeugungen zu Behandlungen zwingen lassen oder Behandlungen
durchführen bzw. unterlassen, wenn das eine Angelegenheit ist, die sie beschwert.
Die Ärzte sind in diesen Fällen - außer in Notfällen - berechtigt, den
Behandlungsvertrag aufzulösen, weil das entsprechende Vertrauensverhältnis
nicht vorhanden ist. Es gibt nicht nur auf der einen Seite Rechte und
Pflichten, sondern es gibt auch auf der anderen Seite Rechte und Pflichten.
Darauf sollte man in der Öffentlichkeit doch intensiv hinweisen.
(Beifall)
Ich glaube nicht, dass es nach einer Gesetzgebung so sein
wird, dass derselbe Vorgang von dem einen Gericht als Körperverletzung
betrachtet wird, weil der Arzt seine Fürsorgepflicht im Vordergrund gesehen
hat, während ein anderes Gericht diesen Vorgang als unterlassene Hilfeleistung
einstuft, wenn man nicht hilft. Insofern glaube ich - da stimmen wir völlig
überein, Frau Ministerin Stolz -, dass diese millionenfach vorkommenden Fälle
nicht gesetzlich regelbar sind. Das, was bis heute durch Gesetz und
Rechtsprechung festgelegt und in unseren Grundsätzen und in dem erwähnten
Papier zusammengefasst ist, reicht völlig aus und sorgt dafür, dass wir nicht
in eine neue Verwirrung geraten. Herzlichen Dank dafür, dass Sie sich auch so
geäußert haben.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, unser Gesundheitswesen ist seit
nunmehr fast 20 Jahren im Umbau. Eine stabile Neuordnung ist noch nicht zu
entdecken. Das möchte ich kurz darlegen.
Die Historie ist ja, dass wir eine Daseinsvorsorge durch den
Staat hatten und diese eigentlich auch haben müssten, weil nach dem Grundgesetz
der Staat dafür zu sorgen hat, dass die gesundheitliche Betreuung der
Bevölkerung durch den Bund einerseits und durch die Länder andererseits
sichergestellt ist. Die Selbstverwaltung hatte - das sage ich jetzt mit Absicht
so - justierende und feinsteuernde Funktion, und zwar als gestaltende
Selbstverwaltung und nicht als Auftragsselbstverwaltung, die Aufträge zu
erledigen hat.
(Beifall)
Der Gesetzgeber hat diese Funktion der Selbstverwaltung
übertragen, die mit Personen besetzt war, die, wie man sagt, an der Front tätig
waren, beispielsweise in der individuellen Patient-Arzt-Beziehung, und deswegen
Erfahrungen aus dem Alltag einbringen konnten. Das hatte sich eigentlich immer
bewährt. Warum das aufgegeben wurde, werden wir gleich sehen.
Im Zentrum steht bei diesem Denken - da stimme ich den
Ausführungen von Herrn Professor Richter ausdrücklich zu - die individuelle
Situation, das individuelle Patient-Arzt-Verhältnis. Professor Beske hat das
immer wieder geschrieben. Die Begriffe "notwendig", "ausreichend", "zweckmäßig"
und "wirtschaftlich" bezogen sich auf Individuen, auf den einzelnen Patienten.
Das, was notwendig ist, musste dem einzelnen Menschen
zuteil werden.
Das war mit Absicht - ich hoffe, die Juristen stimmen mir hier
zu - ein sogenannter unbestimmter Rechtsbegriff, weil sich das, was notwendig
ist, immer aus der Situation ergab. Äußere Einflüsse darauf gab es früher
nicht. Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt, der uns nach diesen eben
genannten 20 Jahren der Umbruchsphase nunmehr beschwert. Es steht nicht
mehr sosehr die Betrachtung der millionenfachen individuellen Patient-Arzt-Beziehungen
im Vordergrund, sondern eine kollektivistische Sicht des Gesamtsystems.
Früher war der Staat für die Sicherstellung zuständig; er hat
dafür gesorgt, dass Krankenhäuser zur Verfügung standen - übrigens nach dem
"Feuerwehrprinzip" -, und er hat die ambulante Versorgung den
Kassenärztlichen Vereinigungen übertragen. Die Kassenärztliche Vereinigung
erhielt den Sicherstellungsauftrag. Daran hing auch ihr Status als Körperschaft
des öffentlichen Rechts. Das sind Geschwister. Man kann nicht sagen: Du hast
den Sicherstellungsauftrag, du bist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts,
aber in dieser und in jener Frage wollen wir Vielfalt. Das geht nicht. Entweder
ist man vollständig für die Sicherstellung zuständig oder man beseitigt diese
Situation und muss sich dann überlegen, wie man diese wertvolle Einrichtung
künftig behandeln will.
(Beifall)
Jetzt lässt man hier und da Kolibrisituationen entstehen und
erklärt: Für den Rest ist immer noch die Kassenärztliche Vereinigung als
Körperschaft des öffentlichen Rechts da. Das wird auf die Dauer nicht
funktionieren. Wenn sie von innen und von außen so stark demoliert wird, dass
sie eines Tages nicht mehr zur Verfügung steht, wäre das für die Bundesrepublik
Deutschland ein schwerer Schaden.
(Beifall)
Was in der individuellen Patient-Arzt-Beziehung passierte, war
früher eine Angelegenheit dieser beiden Partner. Daran hat auch niemand Anstoß
genommen. Zwar wurden auch früher Kontrollen durchgeführt, ob irgendwelche Fehlentwicklungen
entstanden, aber man hat nicht etwa Ärztinnen und Ärzten vorgeworfen, sie
ließen ihren Patientinnen und Patienten aus Gründen, die in ganz anderen Dingen
liegen, bestimmte Behandlungen zuteil werden bzw. enthielten sie ihnen vor.
Die Situation hat sich in diesem Jahrzehnt nachhaltig durch
zwei Dinge verändert: durch die Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen
in den Krankenhäusern, bei denen es ja nicht nur um eine Geldsumme geht,
sondern zu dieser Geldsumme gehört immer ein Leistungspaket, und durch
Disease-Management-Programme, die mir immer ein Dorn im Auge waren, weil sie
die Eigenschaft haben, Patientinnen und Patienten schematisch zu behandeln.
Je länger sie existieren und je stringenter sie gefasst
werden, desto mehr wird der Patient zum Programmteilnehmer, aber er ist kein
individueller Kranker mehr.
(Beifall)
Da diese und andere Vorgaben für die Betreuung durch
Rechtsverordnungen - das sind untergesetzliche Anordnungen, die beispielsweise
das Ministerium erlässt, manchmal mit Zustimmung des Bundesrats, manchmal nicht
- entstehen, darf man das als planwirtschaftliche Politik bezeichnen. Und weil
der Staat dabei eine Rolle spielt, darf man das auch als Staatsmedizin
bezeichnen. So ist das zu verstehen.
(Beifall)
Frau Ministerin, Sie haben es eben dargestellt: Der Staat
bestimmt zukünftig auch die Finanzausstattung der gesetzlichen
Krankenversicherung, weil von dort die Beiträge festgelegt werden, weil der
Fonds mit Steuern gefüttert wird und den Krankenkassen nur noch ein minimaler
Spielraum bleibt, wobei sie sich allerdings in einer Situation befinden, im
Wettbewerb, in der sie beinahe gezwungen sind, sich ähnlich zu verhalten wie
die Mineralölgesellschaften. Es wird eine Wettbewerbssituation entstehen, die
sich auf die Dauer mit einem Gesundheitswesen nicht verträgt. Das kann man in
anderen Geschäftsbereichen tun, aber nicht bei der gesundheitlichen Versorgung
der Bevölkerung. Dort ist das fehl am Platze.
(Beifall)
Nun kommt der Gegenzug: Was bisher vom Staat im Rahmen der
Daseinsvorsorge vorgehalten wurde, wird - das erleben wir sozusagen an der
Front ein ums andere Mal - zunehmend dem Wettbewerb überantwortet. Das Wettbewerbsdenken
im Gesundheitswesen hat ja eine ganz besondere Bedeutung. Auch dazu gibt es
Literatur; das weiß ich.
Was wir uns dabei besonders anschauen müssen, ist die
Tatsache, dass Freiberufler ihr Geld für Investitionen entweder durch ihre
Arbeit im Gesundheitswesen verdienen oder Kredite aufnehmen müssen, die sie
dann wiederum durch ihre Arbeit refinanzieren müssen, dass mildtätige,
karitativ eingestellte Einrichtungen, die sich in einer ähnlichen Situation
befinden - sie haben vielleicht durch Spendengelder eine etwas bessere Position
als die Freiberufler -, dass Non-Profit-Unternehmen - damit meine ich in erster
Linie kommunale Einrichtungen - und Profit-Unternehmen miteinander im
Wettbewerb stehen und konkurrieren.
Der große Unterschied ist allerdings, dass profitorientierte
Unternehmen das Geld, das sie für ihre Investitionen einbringen, von außen
mitbringen können. Die Investoren interessieren sich für das deutsche
Gesundheitswesen und die Möglichkeiten, dort eine Rendite zu erwirtschaften.
Sie werden natürlich streng darauf achten, dass in ihren Einrichtungen, in die
sie investiert haben, überwiegend nur das passiert, was tatsächlich Gewinn
bringt. Den Rest werden sie den anderen überlassen.
(Beifall)
Das kann man ihnen nicht vorwerfen, das ist völlig normal.
Wir beobachten, dass ein Krankenhaus nach dem anderen, das der
Insolvenz entgegengeht oder sich schon in ihr befindet, übernommen wird, wenn
es erfolgversprechend ist, durch organisatorische Maßnahmen in eine gewinnbringende
Situation zu gelangen. Es ist ja auch schon vorgekommen - ich glaube, das
geschah sogar hier in Baden-Württemberg -, dass ein solcher Investor das
Krankenhaus anschließend wieder an den Staat zurückgegeben hat, weil die
Erfolge nicht eintraten.
Sie merken: Hier sind völlig ungleiche Spieße vorhanden.
Die Einrichtungen in unserem Gesundheitswesen arbeiten auf
völlig unterschiedlichen Ebenen, mit völlig unterschiedlicher Ausstattung. Ich
weiß nicht, wohin das auf die Dauer führen soll. Meines Erachtens sind die
mildtätigen Einrichtungen und die Freiberufler hier am meisten gefährdet,
obwohl sie für unseren Staat eine so große Bedeutung haben.
(Beifall)
Man kann auch beobachten - das ist ebenfalls normal -: Selbst
mildtätig eingestellte Krankenhäuser werden durch diese politische Entwicklung
zunehmend zu Werbe- und Verkaufsstrategien gezwungen, die wir bisher bei den
Pharmaunternehmen heftigst kritisiert haben. Das muss man sich einmal überlegen.
(Beifall)
Die Folgen der Entwicklung sind, Frau Ministerin: Wir haben
eine chronische, und zwar eine chronisch wachsende Unterfinanzierung in unserem
System. Das ist einfach so. Sie haben gerade einige Perspektiven dargestellt,
wie sich das bessern könnte. Wir haben in unserem Papier auch Vorschläge
gemacht, wie man ganz viele Tropfen auf heiße Steine tun könnte. Aber eine
grundlegende Besserung ist, glaube ich, nicht in Sicht. Da macht uns der Fonds
auch nicht viel Hoffnung, weil ja das oberste Ziel deutscher Gesundheitspolitik
immer noch die Beitragssatzstabilität ist. Ich weiß nicht, wie das
funktionieren soll, es sei denn, der Staat ist ganz spendabel und überlegt sich
noch einmal die Staffelung mit den Steuerzuflüssen.
Wir haben das, was man in der Wissenschaft als implizite
Rationierung bezeichnet. Das haben wir, das erleben wir: eine heimliche
Rationierung in vielfältigster Form. Das bedeutet nicht, dass ein
Leistungskatalog oder etwas Ähnliches erstellt wird, in dem steht, was man
bekommt, was man nicht bekommt, was man aus der eigenen Tasche zahlen muss, wo
man etwas zuzahlen muss. Diese Rationierung macht sich ganz anders bemerkbar,
beispielsweise durch einen Personalabbau in den Krankenhäusern, die mit den
DRG-Einnahmen nicht zurechtkommen und dadurch eine verminderte Möglichkeit der
Patientenversorgung haben. Die Patienten haben den Nachteil, weil die
Versorgung im Zweifelsfall nicht so schnell geschieht, wie sie geschehen
müsste. Das zeigt sich auch in vielen anderen Punkten; das können wir in den
Schriften von Professor Beske nachlesen.
Diese Form der sogenannten heimlichen, der verdeckten
Rationierung erleben wir jetzt seit Jahren und müssen sie ertragen. Aber das
wollen wir nicht mehr!
(Beifall)
Frau Ministerin, ich möchte Sie bitten - wir haben ja schon
einmal darüber gesprochen -, darüber ganz offen mit uns zu diskutieren.
Ich darf ein Zitat wiederholen, das ich schon einmal benutzt
habe. Der US-amerikanische Philosoph an der Rice University in Houston, Texas,
Tristram Engelhardt jr., schreibt in seinem Beitrag "Das Recht auf
Gesundheitsversorgung, soziale Gerechtigkeit und Fairness bei der Erteilung
medizinischer Leistungen": "Frustration im Angesicht der Endlichkeit" in einer
Fußnote Folgendes:
Der unglückliche Vorschlag von Clinton für Veränderungen
im Gesundheitswesen liefert ein moralisches Beispiel dafür, wie man eine
Gesundheitsreform nicht anpacken sollte. Von der anfänglichen Behauptung,
- das ist jetzt etwas, was uns an sich nicht so interessiert,
aber es gehört halt zum Text -
dass es möglich sei, innerhalb von 100 Tagen eine
brauchbare Gesundheitsreform für eine Viertelbillion Menschen auf die Beine zu
stellen - ohne öffentliche Diskussionen und ohne sorgfältigen Vergleich der
amerikanischen und ausländischen Erfahrungen -, bis hin zu der tatsächlichen
Formulierung eines Vorschlags, der sich an der irreführenden Ideologie
orientierte, die das Eingeständnis von Rationierung verbot, war der Vorschlag
eine Studie der Unaufrichtigkeit. Dieses Vorgehen sollte in der Zukunft in Fallsammlungen
zur Bioethik als Beispiel dafür stehen, wie man es nicht machen sollte.
Ich denke, das sollten wir uns zu Herzen nehmen und offen
darüber diskutieren. Zu nichts anderem haben wir, habe ich in den letzten Tagen
aufgefordert, weil dieses Thema Deutschland genauso erreicht hat wie
beispielsweise Großbritannien, Schweden, Finnland, auch Teile der Vereinigten
Staaten von Amerika, zumindest was Bevölkerungsteile angeht.
Wir haben diese implizite heimliche Rationierung. Wir sollten
sie öffentlich und ehrlich diskutieren, damit sich die Bevölkerung klar darüber
werden kann, ob es wirklich richtig ist, davon auszugehen, dass sie nicht
bereit ist, mehr für das Gesundheitswesen zu investieren. Wir kennen ja die
Umfragen, die immer wieder das Ergebnis haben: lieber Beitragserhöhungen als
Leistungseinschränkungen. Die Menschen möchten keine Leistungseinschränkungen,
sie möchten auch keine Einschränkung der Arztwahlfreiheit, sie möchten keine
Einschränkung der Therapiewahlfreiheit.
(Beifall)
Deswegen meine ich, wir sollten das, wir müssen das einfach
vielleicht sogar zu einem Wahlkampfthema machen, damit diese Diskussion
öffentlich stattfindet.
(Beifall)
Wir haben als weitere Folge dieser Veränderungen eine
mittlerweile nicht mehr zu verantwortende Überforderung - ich sage auch:
Ausbeutung - der Angehörigen der Gesundheitsberufe, nicht nur der Ärztinnen und
Ärzte.
(Beifall)
Wir haben auch - und das stimmt mich traurig - eine Förderung
des Misstrauens. Wenn nämlich eine Ärztin oder ein Arzt in der Praxis oder am Krankenbett
dem Patienten beibringen muss, dass es dieses und jenes nicht mehr gibt, dann
wird der Patient misstrauisch und fragt: Warum gibt es das nicht mehr? Hast du
eventuell einen Vorteil davon, wenn du mir das nicht mehr gibst? Das ist eine
Entwicklung, die schlimm ist. Es wäre schlimm, wenn sie sich weiterhin so
fortsetzte. Diese Entwicklung müssen wir bremsen.
(Beifall)
Jetzt komme ich zu einem Punkt, der Sie überraschen wird. Es
gibt indirekte Indikatoren dafür, dass wir eine Mangelverwaltung haben, dass
unser System unterfinanziert ist. Der erste Punkt eines solchen indirekten
Indikators ist, dass die Absicht besteht, kodierte Patientenrechte zu fixieren.
Das bedeutet eine Aushebelung der Sozialgerichtsbarkeit oder eine Schwächung
der Sozialgerichtsbarkeit, sonst wäre es ja Symbolpolitik. Die Ausformulierung
kodierter Patientenrechte ist ein typisches Merkmal unterfinanzierter - in der
Regel: steuerfinanzierter - Gesundheitssysteme.
Das brauchen wir eigentlich nicht, wenn die Versorgung
ordentlich ist, wie sie es früher einmal war, und alle mit der Versorgung
zufrieden sind.
(Beifall)
Wenn aber immer irgendwo die Decke zu kurz ist, dann müssen
wir forschen, wo sie zu kurz ist, warum sie zu kurz ist und was wir tun können,
damit sie an dieser Stelle wieder ausreicht - aber dann wird sie woanders zu
kurz sein.
Das ist das typische Ergebnis eines solchen Prozesses, der
meines Erachtens nicht nötig wäre, wenn wir uns in anderer Weise um unser
Gesundheitswesen kümmern würden.
Der zweite Punkt ist die Frage der Versorgungsforschung. Auch
so etwas wie die Patientenrechte brauchte man eigentlich nicht, wenn die
Versorgung komplett und gut wäre. Denn das ergäbe sich von alleine.
(Beifall)
Auch das ist ein typisches Merkmal von steuerfinanzierten
Gesundheitssystemen. Wir machen sie mit, weil es sich als notwendig erweist.
Uns wird immer wieder vorgeworfen, wir seien Hinterwäldler und Nachzügler, was
die Versorgungsforschung angeht. Ja, das stimmt; aber nicht deswegen, weil wir
diesen wissenschaftlichen Zweig verpasst haben, sondern weil das früher bei uns
nicht nötig war, weil unser Gesundheitswesen auf die einzelne Person
konzentriert war, auf den Kranken, und nicht auf irgendeine kollektivistische
Sicht.
(Beifall)
Der dritte Indikator, der mich, ehrlich gesagt, sehr irritiert
und auch bedrückt, ist die Entwicklung unserer spezifischen Variante des grauen
Marktes, genannt IGeL. Ich weiß, dass dies ein Thema ist, das hochverletzlich
sein kann, hochsensibel ist. Aber wir haben als Ärztekammer mit diesen
Problemen sehr viel zu tun, weil auch dadurch Vertrauensschwund,
Vertrauenseinbußen zwischen Patientinnen und Patienten auf der einen Seite und
Ärztinnen und Ärzten auf der anderen Seite entstehen - und dies nicht nur
individuell, sondern schließlich auch überindividuell. Das betrifft den ganzen
Berufsstand. Das möchte ich im Zaum halten. Darüber haben wir uns bereits in
Magdeburg intensiv unterhalten und Beschlüsse gefasst, wir haben Aktivitäten
entfaltet, um das Thema im Zaum zu halten.
Dieses Thema wäre aber nicht vorhanden, sondern irrelevant,
wenn unser Gesundheitssystem in Ordnung wäre. Graue Märkte gibt es sonst nur in
Ländern, in denen es eine massive Unterfinanzierung gibt, oder in korrupten
Ländern.
(Beifall)
Auch das Thema Patientensicherheit wird gelegentlich
missbraucht. Frau Ministerin, Sie haben das nie getan, sondern andere. Auch
dies ist ein Indikator dafür, dass etwas nicht stimmt. Das betrifft uns aber
nicht; ich freue mich über die gute Zusammenarbeit bei diesem Thema.
Diejenigen von uns, die im Krankenhaus arbeiten, haben einen
typischen Wechsel, was die Krankenhaushygiene angeht, miterlebt. Die
krankenhauseigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die das Krankenhaus
gepflegt haben, wurden, wenn sie in den Ruhestand gingen, nicht durch Personen
ersetzt, die sich mit diesem Krankenhaus identifizieren, die das als ihre
Einrichtung betrachten, die sich darüber freuen, dass das Krankenhaus sauber
ist, wenn alle Leitungen blinken, sondern durch Reinigungsfirmen. Die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Reinigungsfirmen arbeiten unter einem
unglaublichen Druck. Sie müssen Quadratmeter abliefern, die sie nass und dann
wieder trocken gemacht haben. Wenn das vorbei ist, sind sie weg.
(Beifall)
Frühere Aktivitäten wie das Reinigen der Rohre und dergleichen
mehr kommen in deren Programm nicht mehr vor. Auch diese Situation trägt dazu
bei, dass wir bei der Krankenhaushygiene Probleme haben, nicht weil sich die
Ärztinnen und Ärzte angeblich die Hände nicht waschen.
Diese Probleme beseitigen wir nicht dadurch, dass wir
irgendwelche Vorschriften erlassen und erklären, jetzt müsse da jeden Tag
kontrolliert werden. Statt des Kontrolleurs können wir gleich jemanden
hinschicken, der weiß, wie man richtig saubermacht. Insofern brauchen wir
keinen Kontrolleur.
(Beifall)
Unser derzeitiges System lebt von Vorschriften, Kontrollen und
viel Bürokratie. Das haben wir oft genug gesagt, ich will es nicht mehr
wiederholen.
Wir haben noch eine weitere Entwicklung festzustellen, die
auch Ihnen, Frau Ministerin, nicht gefallen kann, Frau Stolz ebenso wenig, dem
Herrn Oberbürgermeister auch nicht, überhaupt niemandem. Ich meine eine
Entwicklung, die ich einmal den Speckgürtel im Gesundheitswesen nennen möchte.
Ich versuche, das zu erklären. Das habe ich schon einmal bei den Internisten getan.
Da hat man es sofort verstanden; dann wird das hier wohl auch so sein.
(Heiterkeit)
Wir einigen uns darauf, dass der Kern die individuelle
Patientenversorgung ist, aus unserer Sicht die individuelle
Patient-Arzt-Beziehung. Der erste Ring, der dort herumgelegt ist und hilft,
dass diese Beziehung funktioniert, besteht aus Zuarbeitern, die aus der Technik
kommen, aus der EDV - im Wesentlichen aus der Software -, aus der Verwaltung,
aus dem Controlling, aus der internen Qualitätssicherung, wie man das heute
nennt.
Der zweite Ring, der dort herumgelegt ist, ist auch nötig; das
sind diejenigen, die die Medizintechnik und die Logistik liefern. Dazu gehört auch die Pharmaindustrie und die Hardware der
elektronischen Datenverarbeitung.
Dann kommt der dritte Ring. Das ist die externe
Qualitätssicherung, die ja primär gut gemeint war. Aber daraus hat sich eine
Industrie entwickelt, die unglaublich teuer ist, die Auflagen erteilt, wenn man
zertifiziert und akkreditiert werden will. Diese Ausgaben sind nicht mehr verantwortbar.
Dieses Geld fehlt in der Patientenversorgung.
(Beifall)
Das Geld geht an Zertifizierer und, wie gestern Fritz Kolkmann
so schön sagte, "Onkozerten", also diejenigen, die zum Beispiel
Tumorbehandlungseinrichtungen zertifizieren, Brustkrebszentren usw. Das alles
ist superteuer.
Dann bekommt man auch noch gesagt: Sie müssten eigentlich eine
Stelle einrichten, die kostet aber 50 000 Euro. Darauf würde ich
antworten: Das sind genau diejenigen 50 000 Euro, die Sie jetzt
wegschleppen. Diese Summe hätte ich dafür benutzen können.
(Beifall)
Den vierten Ring bilden die überindividuellen Entscheider. Ich
formuliere das jetzt mit Absicht etwas abstrakt. Sie können im "Ulmer Papier"
auf den Seiten 38 bis 47 nachlesen, wer das ist. Dazu gehören natürlich auch
die Politik, die Auftragsselbstverwaltung und viele andere, die über die
individuelle Patient-Arzt-Beziehung hinaus Entscheidungen über das treffen, was
in dieser Beziehung passiert.
Der fünfte Ring sind die ganz Besonderen, das sind
Consulting-Firmen, Experten aller Art, Sachverständige, übrigens auch
Mediziner, denen es leider nicht vergönnt war, Arzt zu werden.
(Beifall)
Sie haben die Eigenschaft, für viel Geld sowohl die Politik
als auch die späteren Anwender von Politik, von politischen Entscheidungen,
also sozusagen uns zu beraten. Sie verdienen also zweimal an der ganzen
Unternehmung.
Jetzt stellt man fest, dass die Ringe 4, 5 und 6 mittlerweile
eigene Kongresse veranstalten. Bei diesen eigenen Kongressen kommen Kranke und
diejenigen, die sie betreuen, schon gar nicht mehr vor. Sie haben ein
Eigenleben entwickelt, sie leben für sich selbst.
(Beifall)
Ich verstehe, warum Professor Unschuld, der frühere
Medizinhistoriker aus München, der jetzt in Berlin an der Charité arbeitet, ein
Buch mit dem Titel "Der Arzt als Fremdling in der Medizin?" geschrieben hat.
Man kann das erweitern: "Der Arzt als Fremdling im Gesundheitswesen?" Aber das
ist nicht ganz richtig, weil dort ja viele mitspielen.
Anders formuliert - wir sind jetzt insofern schon
angloamerikanisiert, als wir immer in Gewinner- und Verliererdimensionen
rechnen -: Gewinner dieser Reform seit den 90er-Jahren - es hat 1993 markant
angefangen - sind die Beitragszahler der GKV - das hat sich bewährt, wenn man
das als etwas Gutes empfindet -, die Planwirtschaftler, die Investoren und die
sogenannte spezielle Variante des grauen Marktes.
Die Verlierer sind die Patienten, die Gesundheitsberufe,
darunter auch wir Ärztinnen und Ärzte, und mildtätig-karitativ eingestellte
Menschen und Organisationen. Das ist die Diagnose, die man nach dieser
Entwicklung stellen muss.
(Beifall)
Der Aufsichtsratsvorsitzende der Rhön-Klinikum AG, Herr Eugen
Münch, hat sinngemäß - es ist kein wörtliches Zitat - gesagt: Gerhart Hauptmann
würde heute statt "Die Weber" "Die Ärzte" schreiben - weil wir die
Industrialisierung im Gesundheitswesen verschlafen hätten. Er irrt. Wir haben
sie nicht verschlafen, wir haben sie mit Schmerzen beobachtet, weil wir sahen,
wie sie slippery-slope-artig weitergeht. Wir wollen keine Industrialisierung im
Gesundheitswesen, sondern wir wollen eine zeitgerechte individuelle Versorgung
unserer Patienten. Und dafür kämpfen wir. Das ist auch der Sinn unseres "Ulmer
Papiers".
Vielen Dank.
(Langanhaltender lebhafter Beifall -
Die Anwesenden erheben sich)
Damit, meine Damen und Herren, ist der 111. Deutsche Ärztetag
2008 in Ulm eröffnet. Ich danke Ihnen.
Ich bitte Sie alle, sich zum Singen der Nationalhymne von
Ihren Plätzen zu erheben.
Im Anschluss sind alle Teilnehmer der Eröffnungsveranstaltung
herzlich zum Empfang der Landesärztekammer Baden-Württemberg in das Foyer
eingeladen.
(Die Anwesenden singen die Nationalhymne)
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