Henke, Vorstand der Bundesärztekammer:
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben uns, weil traditionell zu Beginn der Ärztetagswoche die
Hauptversammlung des Marburger Bundes stattfindet, am vergangenen Samstag und
Sonntag ausführlich mit der Vorbereitung des Ärztetages befasst. Wir haben uns
auch mit dem "Ulmer Papier" befasst. Wenn man berücksichtigt, dass es der
Ärzteschaft ja wenig einbringt, im Rahmen des "Ulmer Papiers" innerärztlich
kontroverse Themen als Konsens vorzuspiegeln, dann ist das Papier sehr gut
gelungen. Manche bisher zu der Vorfassung geäußerte Kritik läuft mit dem
aktuellen Text ins Leere. Der Text bringt insgesamt gut zum Ausdruck, wie wir
im ärztlichen Beruf denken und warum wir damit oft zu einem rein ökonomischen
Ansatz querliegen.
Jörg Hoppe hat darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, dieses
Papier als eine innerärztliche Ausgangsposition zu betrachten, dass der erste
Adressat, an den es sich richtet, die Ärzteschaft selbst ist. Ich glaube,
deshalb ist richtig, was unsere Hauptversammlung in Bewertung des Papiers
gesagt hat, nämlich dass sie in den vom Vorstand der Bundesärztekammer
entwickelten gesundheitspolitischen Leitsätzen die Grundlage und den Beginn der
innerärztlichen Diskussion sieht. Deswegen haben wir uns dafür ausgesprochen,
von diesem Ausgangspunkt her die gesundheitspolitischen Positionen der
Ärzteschaft kontinuierlich weiterzuentwickeln. Die Leitsätze sind also kein
Ersatz für das "Blaue Papier", sind keine umfassende programmatische
Standortbestimmung, aber doch eine Verständigung, die auch innerhalb der
Ärzteschaft erfolgen muss.
Ich glaube, deshalb sollten wir im Umgang mit dem Papier alle
Argumente berücksichtigen, die dazu führen, dass die Debatte über dieses Papier
innerhalb der Ärzteschaft, innerhalb der Landesärztekammern, innerhalb der
Verbände und innerhalb der interessierten Öffentlichkeit als eine kontinuierliche
Debatte geführt wird. Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, als sei diese
Diskussion mit dem Ende des Ärztetages praktisch abgehakt. Das kann sie nicht
sein, denn das Papier enthält ja viel zu viele Hinweise, die diese Frage in den
Blick nehmen: Wie sehr findet eigentlich eine Deformation des Arztbildes auch
in unserer eigenen Selbsteinschätzung durch die Rahmenbedingungen, unter denen
wir arbeiten müssen, statt? Die vom Vorstand der Bundesärztekammer eingesetzte
Arbeitsgruppe, die dieses Papier vorbereitet hat - ihr gehörten unter anderem
Präsident Professor Hoppe, Dr. Montgomery und Frau Dr. Goesmann an -, hatte den
Auftrag, dieses Papier zu entwickeln. Ich finde, es ist ihr sehr, sehr gut
gelungen, die Philosophie des ärztlichen Verhältnisses zum Patienten zum
Ausdruck zu bringen und damit auch deutlich zu machen, was uns als Resultat der
politischen Rahmenbedingungen und der ökonomischen Überantwortung eines großen
Teils der Verantwortung für das Arzt-Patient-Verhältnis in fremde Hände zugemutet
wird.
Wir erleben zum Teil unerträgliche Zumutungen, die dazu
führen, dass wir uns von dem eigentlichen Impuls, von dem Grundauftrag, der uns
einmal dazu geführt hat, das Medizinstudium zu ergreifen, entfernen und
distanzieren. Ich bin froh, dass auf der Eröffnungsveranstaltung durch die Rede
von Jörg Hoppe klar und deutlich geworden ist: Das haben wir satt, das wollen
wir nicht mehr mitmachen! Deshalb muss sich die Gesundheitspolitik mit der
Frage auseinandersetzen, mit welchen materiellen Grundlagen sie uns ausstattet,
um ein praktisch unbegrenztes Versprechen zu erfüllen.
(Beifall)
Frau Ministerin Schmidt hat uns ja eine Frage gestellt: Ist
Gesundheit wirklich das höchste Gut? Meine klare Antwort darauf lautet: Nein,
sicher ist Gesundheit nicht das höchste Gut. In meiner Wahrnehmung sind der
Schutz der Menschenrechte, die Menschenwürde, die Gewährleistung von Freiheit
und Frieden, eine Rechtsordnung zu haben höhere Güter als Gesundheit.
(Beifall)
Ich finde, Menschen, die Leib und Leben dafür einsetzen, die
ihre Gesundheit dafür hergeben, um so etwas zu verteidigen, haben alle Achtung
verdient. Wir sehen ja in diesen Tagen, wenn wir auf das Land schauen, in dem
die Olympischen Spiele stattfinden werden, dass dort Menschen ihr Leben
einsetzen, um das Leben anderer nach einem Erdbeben zu retten. Wir erleben, wie
empört wir sind, dass in Birma eine Militärjunta sich die Frechheit
herausnimmt, Menschen daran zu hindern, sich in Gefahr zu begeben, um andere zu
retten. Wir erleben auch, dass Menschen wie die Mönche in Tibet bereit sind,
für eine Freiheit zu kämpfen, die ihnen verweigert wird, und dass sie bereit
sind, dabei ihre Gesundheit zu riskieren.
Aber das darf man doch nicht als Argument dafür verwenden, um
zu sagen: Gesundheit genießt eine mindere Priorität und hat keine Bedeutung.
Gesundheit ist vielmehr genauso wie Gerechtigkeit, genauso wie Freiheit,
genauso wie die Möglichkeit, ein Gericht anzurufen, ein konditionales Gut. Ein
konditionales Gut, also ein Gut, ohne das alles andere nichts mehr ist, bedarf
der Daseinsvorsorge durch den Staat. Deswegen ist es unsere Verantwortung,
Medizin so gut wie möglich zu betreiben, und die Verantwortung der Politik ist,
dafür zu sorgen, dass die Rahmenbedingungen, auch die materiellen Rahmenbedingungen
stimmen.
Nun bin ich nicht der Hauptvertreter der niedergelassenen
Kassenärzte und will nicht in Konkurrenz zu Herrn Köhler treten. Für die
Krankenhausärzte hat die Rede von Frau Schmidt heute Vormittag einige Elemente
enthalten, die mindestens etwas Hoffnung aufkeimen lassen, dass das Problem der
materiellen Nöte in den Krankenhäusern langsam anerkannt wird. Warum formuliere
ich das ein bisschen zurückhaltend? Ich sage: Da wird eine Hand gereicht, da
muss man jetzt auch Gespräche führen. Die Tatsache, dass der Grundlohnsummenanstieg
dazu führt, dass die Krankenhäuser im nächsten Jahr mehr Geld bekommen könnten,
ist Ausdruck der gegebenen rechtlichen Situation. Dafür muss man keine Gesetze
ändern.
Bei mir beseitigt das die Zweifel nicht, dass die Frage der
Grundlohnsummenanbindung im Prinzip ein Fehler ist; denn gerade dieser Hinweis
zeigt ja, wie konjunkturabhängig die Finanzierung wird. Wir haben bei der
Befassung mit Arbeitslosigkeit und Armut gelernt, dass in Zeiten, in denen die
Konjunktur schlecht ist, die gesundheitliche Belastung zunimmt, mehr Menschen
krank werden. Insofern muss man sich wirklich fragen, ob diese prozyklische
Finanzierungsform das Richtige ist. Aber natürlich wird man dieses Geld gern nehmen.
Der Abschlag in Höhe von 0,5 Prozent endet per Gesetz sowieso;
dafür muss man kein Gesetz mehr ändern. Auch die 0,5 Prozent bei der
Integrationsversorgung müssten per Gesetz auslaufen. Ich finde es aber gut,
wenn nicht angekündigt wird, dass man diese Sonderopfer weiter bestehen lassen
will.
Für sehr gut halte ich die Positionierung, die
Tarifentwicklung im Krankenhaus in die Krankenkassenbudgets aufzunehmen. Das
ist richtig. Das muss auch geschehen. Leider hat Frau Schmidt davon gesprochen,
dass das anteilig erfolgen soll. Wenn es 85, 90 oder 95 Prozent Anteil sind,
ist das sicher anders zu bewerten als eine früher existierende Lösung, als es
nur um ein Drittel ging. Damit begann nämlich die Finanznot.
Pflegeneueinstellungsprogramm, Aus- und Weiterbildung
verlässlich finanzieren - das ist alles willkommen. Man muss sich auch das
Kleingedruckte anschauen. Es wird ja einen entsprechenden Gesetzentwurf geben.
Ich finde es gut, dass nach den Äußerungen vor der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung und nach den Äußerungen zu den
Krankenhäusern heute wenigstens klar wird: Man muss auch über die Dimension der
Finanzverteilung in Deutschland reden. Noch besser finde ich, dass Frau Schmidt
die Dimension klargemacht hat, denn sie hat gesagt - das sollten wir nicht mehr
vergessen -: Die 14 Milliarden Euro Steuermittel, die ja noch gar nicht
vorhanden sind, sondern die erst aufgebaut werden sollen, Jahr für Jahr um 1,5
Milliarden Euro steigend, die über den Gesundheitsfonds verteilt werden sollen,
sind noch nicht einmal die Hälfte der gesamtgesellschaftlich bedingten Finanzierungslasten
bei den gesetzlichen Krankenkassen. Eigentlich, sagt Frau Schmidt, müsste der
Steuerzuschuss nach dieser Systematik schon heute in einer Größenordnung
erfolgen, die doppelt so groß ist wie diese 14 Milliarden Euro. Damit wird die
Dimension der Probleme klar. Wir sollten den Ärztetag nutzen, um diese Dimension
der Probleme klarzumachen.
Ich glaube, der Schlüssel dazu, dass Bewegung in die Debatte
kommt, ist erstens, dass wir über Rationierung sprechen, ist zweitens, dass wir
klarmachen, was auf dem Spiel steht, wenn die Arzt-Patient-Beziehung, wie wir
sie in diesem "Ulmer Papier" beschrieben sehen, verwandelt wird in eine
Betreuung durch provisorische Lösungen oder durch industrielle Investoren, die
nur an der Rendite interessiert sind.
Deswegen lassen Sie uns ein klares Bekenntnis ablegen: Ja zu
einem Arztbild, das Arzt und Patient auf gleicher Ebene sieht, in einer
freundschaftlichen Beziehung, mit einem freundschaftlichen Berater, aber eben
nicht als Sachwalter fremder Interessen, die uns oktroyiert würden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Schönen
Dank, Rudolf Henke. - Als Nächster der Kammerpräsident von Berlin, Herr Kollege
Jonitz. |