TOP I: Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik - Gesundheitspolitische Leitsätze der Ärzteschaft

Dienstag, 20. Mai 2008, Nachmittagssitzung

Zimmer, Nordrhein: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das deutsche Gesundheitswesen ist schwer krank, es ist chronisch krank, es bedarf dringend einer ganzheitlichen Behandlung. Es droht massiv zu zerfallen. Allerorten werden Kliniken separiert in Einrichtungen für Privatpatienten mit entsprechendem wunderbaren räumlichen und pflegerischen Ambiente und in Einrichtungen der Regelversorgung. Herr Professor Hoppe, Ihr Modell würde ich in Anlehnung an das Atommodell von Niels Bohr eher als eine Art Schalenmodell beschreiben wollen. Das klingt nicht so verletzend, das ist weniger belastend. Ich habe mich dabei nämlich mit meiner eigenen Figur vorgestellt.

Ein Wort zu der von Ihnen angesprochenen 4. bis 6. Schale. Vielleicht erhalten Sie auch gelegentlich Post von einem sogenannten "Euroforum". Dort unterhalten sich Leute relativ autistisch über ein Gesundheitswesen, von dem sie glauben, es sei so, wie sie es dort beschreiben. Aber sie nehmen in der Regel im Kontakt mit den Patienten überhaupt nicht mehr an der Versorgung teil.

Das Ganze hat mittlerweile eine Spielvariante, die Sie vielleicht schon einmal bei Ihren Kindern gesehen haben. Man nennt sie "Second Life". Man gründet eine neue Vision, wie man auch leben könnte, mit eigener Identität usw.

Wenn diejenigen, die uns regieren, oder diejenigen, die die großen Geldmittel steuern, wirklich glauben, die Welt sei so, wie sie auf Kongressen von "Euroforum" dargestellt wird, dann lade ich herzlich ein, doch einmal in eine Praxis oder in ein Krankenhaus zu kommen. Dann werden wir uns den Problemen schon nähern.

(Beifall)

Das Krankenhaus sieht anders aus. Wenn ich heute einen 82-Jährigen zur
Hüft­endoprothese schicke, muss ich immer schauen: Fällt er bei den Orthopäden unter einen Integrationsvertrag, weil er noch relativ gesund und robust ist? Dann wird er dort eingeschleust und für viel Geld in Eigenregie operiert und relativ kompakt versorgt, weil er ja vorher gut mobil, Ski fahrend und Golf spielend dort aufgeschlagen ist. Ein nur 75 Jahre alter Patient, der aber bereits ein paar kleine kardiale Probleme hat, wird explizit in diesen gleichen Integrationsvertrag nicht übernommen; er gelangt in die Regelversorgung. In dieser Regelversorgung muss ihn dann ein Krankenhaus operieren, natürlich mit schlechtem Risiko. Der Outcome ist, statistisch übers Jahr gesehen, schlecht, weil die guten Patienten irgendwo anders operiert wurden.

Für uns in der Hausarztpraxis bedeutet das eine schnellere Entlassung in einem relativ schlechten Zustand. Wir brauchen plötzlich mehr Krankengymnastik, wir brauchen teure Thromboseprophylaxen, wir brauchen Laborkontrollen. Wir erfahren dann vom Patienten, dass er im Krankenhaus auch nicht regelmäßig Schwestern gesehen hat, die dort ständig arbeiteten, sondern dort Personal von Zeitarbeitsfirmen tätig ist. Das wird mittlerweile getoppt durch 1-Euro-Personen, die am Wochenende auf Stationen mit operierten Patienten arbeiten müssen.

Davon finde ich in dem Papier nichts. Aber das halte ich doch für einen Ausdruck massiver Rationierung, weil in demselben Krankenhaus zwei Stockwerke höher auf einer isolierten Privatstation die Versorgung anders abläuft.

Ich frage mich: Wie muss ein guter Arzt sein? Ich habe ja noch 15 Jahre Zeit, es zu werden. Ich habe heute die Antwort erhalten - dafür danke ich Herrn Professor Richter -: Es geht nach wie vor um die beste menschliche Zuwendung. Es ist nicht damit getan, die beste Therapie und die beste Diagnostik zu machen. Diesbezüglich hätte ich in dem Papier gern auch eine Präzisierung.

Ich habe den Eindruck, heute glauben viele Kollegen, dass sie den besten Job im Krankenhaus dann machen, wenn sie die beste DRG-Kodierung mit dem höchsten finanziellen Outcome für das Krankenhaus erledigen. Ich glaube, da müssen wir unseren Kollegen ein bisschen Hilfestellung geben.

(Beifall)

Ich persönlich glaube nicht, dass es nicht genügend Geld im Gesundheitssystem gibt. In meiner Heimatstadt - das ist eine relativ kleine Stadt - werden monatlich Hunderttausende von Euro für plastische chirurgische Eingriffe - Stichworte: Brust, Falten und Fett - ausgegeben. Wir können Diätenerhöhungen in respektabler Höhe immerhin im Deutschen Bundestag realisieren. Wenn die Firma Nokia eine Pleite hinlegt, sind plötzlich Steuergelder vorhanden, um diese Defizite aufzufangen. Dasselbe gilt, wenn eine Bank Pleite macht.

Ich bin der Meinung, wir haben schon noch eine ganze Menge Ressourcen, wo wir etwas abschöpfen können.

Ich möchte zum Schluss auf ein ganz kleines Problem des Papiers selber zu sprechen kommen. Auf Seite 11 heißt es in den Zeilen 36 ff.:

In Anbetracht der rückläufigen Hausarztzahlen wird insbesondere für den Primärversorgungsbereich die Einführung einer neuen, nichtärztlichen Leistungserbringergruppe mit Direktzugang für die Patienten nach dem Vorbild der Nurse Practitioner diskutiert.

Das halte ich für eine geradezu kontraproduktive Aussage. Dies bedeutet die Substitution des Hausarztes durch Nurse Practitioner. Wir reden davon, dass wir keine Rationierung haben wollen, fordern sie aber in unserem eigenen Papier.

(Beifall)

Ich habe den Antrag gestellt, diesen Satz zu streichen. Herr Crusius, zumindest bei Ihnen könnte ich ein bisschen Unterstützung erwarten. Die Delegation ärztlicher Leistungen ist überhaupt kein Problem, aber eine Substitution dieser Art halte ich für einen Einstieg.

Die nächste Frage lautet: Was machen wir, wenn wir nicht mehr genügend Gastroskopiker haben? Nehmen wir dann statt Gastroenterologen Endoskopieschwestern aus Japan? Nehmen wir dann für den Urologen den Katheterpfleger von der Intensivstation der letzten Urologie, die geschlossen wird?

Wir müssen uns schon überlegen, warum wir den Hausarzt plötzlich wieder zerlegen dürfen, während wir an anderen Stellen vielleicht noch gar nicht bemerkt haben, dass die Zerlegung kurzfristig zum Filetieren bereitsteht.

Danke schön. Ich hoffe auf Ihre Unterstützung.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Schönen Dank, Herr Zimmer. - Der nächste Redner ist Herr Professor Dietrich aus Bayern.

© Bundesärztekammer 2008