Prof. Dr. Dr. habil. Dietrich,
Bayern: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hoppe,
nachdem Sie jetzt so viel Lob erfahren haben, gestatten Sie mir, dass ich
vielleicht etwas Essig in Ihren Wein gieße und etwas kritische Anmerkungen
mache. Sie haben Ihr Papier, das "Ulmer Papier", einen ersten Aufschlag genannt.
Meiner Meinung nach ging dieser Aufschlag voll ins Netz. Bei der Technik, die
Sie beim Aufschlag haben, fürchte ich, dass auch Ihr zweiter Aufschlag ins Netz
gehen wird und Sie hier einen fürchterlichen Doppelfehler produziert haben.
Lassen Sie mich das an zwei Beispielen klarmachen. Der erste
Punkt ist die Diskussion über Rationierung im Gesundheitswesen, die wir während
der vergangenen zwei Tage hatten. Herr Hoppe, Sie reden schon seit Jahren über
die schleichende Rationierung, die wir haben. Jetzt auf einmal kommt dieses Thema
auf: Es ist die offene Rationierung.
Es ist doch eine Bankrotterklärung, wenn wir mit unserem
deutschen Gesundheitswesen nicht in der Lage sind, unsere Patienten adäquat zu
behandeln. Wir haben das drittteuerste Gesundheitswesen der Welt. Nur zwei
Länder auf der Welt geben mehr Geld für Gesundheit aus als wir. Und dann sagt
unser Präsident: Das Geld reicht nicht, wir müssen Mangelmedizin betreiben.
Das ist eine Bankrotterklärung, die ich beschämend und
fürchterlich finde. Herr Hoppe, Sie hätten stattdessen lieber auf alle Probleme
der Über- und Fehlversorgung eingehen können.
(Widerspruch)
- Ich glaube, ein bisschen Selbstkritik täte nicht nur Ihnen,
sondern auch dem Papier ganz gut.
Auch Sie wissen, dass heute kaum noch ein Kopfschmerzpatient
durch die Praxis gehen kann, ohne in ein CT zu kommen. Sie wissen, dass man
sich nicht mehr das Knie verrenken kann, ohne durch ein MRR geschoben zu
werden, oder dass man keinen Herzkasper mehr haben kann, ohne einen
Herzkatheter zu bekommen. Das ist doch die Wirklichkeit bei uns. Darauf müssen
wir eingehen, dass einfach nicht alles, was möglich ist, für den Patienten auch
gut ist Das fehlt mir völlig in dem Papier und auch in der Kritik von Herrn
Hoppe.
Natürlich können wir bei jedem Patienten jeden Tag drei
Ultraschalluntersuchungen machen, aber der Patient wird davon nie und nimmer
gesünder. Ich glaube, das ist der wesentliche Punkt. Und das hätte Herr Hoppe
ansprechen können.
Neben dieser Bankrotterklärung ist das Papier auch eine
Vorlage für das, was Sie, Herr Hoppe, "grauen Markt" genannt haben. Jetzt kann
jeder unserer Kollegen - Sie hier natürlich nicht, Sie sind ja alle gute
Kollegen, aber die bösen Kollegen, die es vielleicht auch noch gibt - kommen
und dem Patienten sagen: Kassenmedizin ist Mist, das ist Unterversorgung, das
ist Mangelversorgung, das ist Grundversorgung. Wenn ihr richtige Medizin haben
wollt, dann müsst ihr leider zuzahlen. Zahlt einen Hunderter und ihr bekommt
die bessere Medizin. Schließt eine Zusatzversorgung bei der Privatversicherung
ab, dann bekommt ihr eine richtige Medizin.
Das ist eine Desavouierung unserer gesetzlichen
Krankenversicherung und der Beginn einer Untergrabung unseres solidarischen
Gesundheitssystems, in dem jeder Patient das gleiche Recht auf eine gute und
ausreichende Versorgung haben sollte. Mit dieser Polemik, die nach außen getragen
wird, wird das meines Erachtens untergraben.
Ich finde diesen Punkt fürchterlich und schlimm. Es tut mir
sehr, sehr leid, dass das so in die Öffentlichkeit getragen wird.
Ein weiterer Punkt: die evidenzbasierte Medizin. Sie legen
sehr viel Wert auf das Arzt-Patient-Verhältnis, das ja auch sehr wichtig ist.
Das ist lobenswert und gut. Nur, meine Damen und Herren, wer heute noch meint,
dass Medizin eine Kunst ist, in der jeder Künstler frei gestalten kann, was er
will, wo jeder sein Bild malen kann, wo er die Farben bestimmt, täuscht sich.
Wir haben eine Naturwissenschaft, und Naturwissenschaft ist eine mehr oder
weniger exakte Medizin. Diese exakte Medizin funktioniert nach bestimmten
Spielregeln. Eine tiefe Beinvenenthrombose ist eine tiefe Beinvenenthrombose,
und wer sie mit Brennnesselextrakt behandeln will, soll es tun, aber er
entfernt sich einfach von der Grundlage der naturwissenschaftlichen Medizin.
Das ist evidenzbasierte Medizin. Das haben wir, das müssen wir verteidigen, das
müssen wir ausbauen.
Das heißt natürlich nicht, dass jeder Patient gleichbehandelt
wird, das ist eine antiwissenschaftliche Polemik. Natürlich heißt
evidenzbasierte Medizin, dass das, was evident ist, was aus den Studien und den
wissenschaftlichen Untersuchungen herausgekommen ist, individuell an den
Patienten angepasst werden muss. Natürlich muss ich schauen: Passt das zu
diesem Patienten? Wenn ein Kolonkarzinom festgestellt wird, dann beginnt die
Kunst des Arztes erst dann, wenn ich den Patienten mit seinem Schicksal begleiten
kann, wenn ich ihm sagen kann: Sie können dieses und jenes noch tun. Aber zu
erklären, evidenzbasierte Medizin sei eine schematisierte Medizin, womöglich
eine Staatsmedizin, ist das Schlimmste, das es überhaupt gibt. Das ist schlecht
und schlimm und antiwissenschaftlich. Es bleibt weit hinter dem zurück, was wir
in der Wissenschaft in den letzten 20, 30 Jahren erreicht haben.
Insgesamt handelt es sich meiner Ansicht nach um ein extrem
rückwärtsgewandtes Papier: Vor 20 Jahren war alles gut, wir konnten alles tun,
wir brauchten keine Versorgungsforschung, die Ärzte waren gut, die Patienten
waren zufrieden, die Politik brauchte kein Geld, in den Krankenkassen saßen die
Gewerkschaftsfunktionäre, alles war toll und gut. Seit der Großen Koalition
kommt die böse Politik - das fing schon mit Herrn Seehofer an -, alles ist
böse, wir haben eine Staatsmedizin, wir haben Dirigismus, wir haben fast wieder
die DDR, alles ist schlecht.
Herr Hoppe, wir sollten nach vorn schauen. Es hat doch
überhaupt keinen Zweck, immer nach hinten zu schauen und zu sagen: Wie schön
war doch die Vergangenheit! Ich erwarte, dass wir fantasievolle Lösungen für
die Probleme finden, die wir im Gesundheitswesen haben. Aber immer zu sagen -
wie Sie es heute Morgen auch wieder getan haben -, gestern war alles gut, heute
ist es schlecht, morgen wird es noch schlechter - meine Damen und Herren, das
wird uns überhaupt nicht weiterbringen, das schadet unserem Gesundheitswesen,
das untergräbt das solidarische Krankenversicherungssystem.
Dieses Vorgehen fördert letztendlich die Privatinitiative, die
Privatwirtschaft, die Industrialisierung, also genau das, wogegen Sie in meines
Erachtens richtiger Art und Weise argumentieren. Aber genau das wird gefördert:
Der Staat kann es nicht, die Krankenkassen wollen es nicht, wir dürfen es
nicht, also muss es die private Industrie übernehmen. Schon haben wir die
Gesundheitsindustrie, die wir alle nicht haben möchten.
Mein Vorschlag lautet, nach vorne zu schauen und nicht immer
rückwärtsgewandt zu argumentieren und uns gegenseitig auf die Schulter zu
klopfen und uns zu sagen: Wie schön war es doch gestern! Schauen Sie nach
morgen!
Danke schön.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Schönen
Dank. - Jetzt kommt Frau Haus aus Nordrhein. |