TOP I: Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik - Gesundheitspolitische Leitsätze der Ärzteschaft

Dienstag, 20. Mai 2008, Nachmittagssitzung

Prof. Dr. Fischer, geladener Gast: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank dafür, dass Sie mir als Gast Gelegenheit zu einem kurzen Statement geben.

Das "Ulmer Papier" ist aus meiner Sicht die Möglichkeit zu einem wirklichen Durchbruch, zu einer neuen Positionierung der Medizin. Ich möchte Ihnen zu diesem Papier ausdrücklich gratulieren.

Zivilisierte Gesellschaften, namentlich in Europa, messen sich gern daran, wie sie mit den schwächsten ihrer Mitglieder umgehen. Dies ist gewiss eine ihrer wertvollsten Traditionen. Heute aber müssen wir uns in unserer Gesellschaft vor allem die Frage stellen, wie wir mit unseren Eliten umgehen. Kaum ein Berufsstand hat die reale Bedeutung dieser Frage so bitter erfahren wie die Medizin. Wenn wir den skandalösen Zustand verhindern wollen, dass ärztliches
Ethos und guter Wille, namentlich auch unserer jungen Kollegen, in einem alle Kräfte übersteigenden Alltag von Gleichgültigkeit über Demotivation bis zur Demoralisation zermürbt werden, müssen wir versuchen, unsere Identität neu zu bestimmen. Sie schreiben im "Ulmer Papier" sehr richtig, dass die Ärzteschaft bereit ist, die Mitverantwortung bei der Gestaltung des Gesundheitswesens zu übernehmen. Ich möchte einen Schritt weitergehen und anregen - hier kann ich an eine Bemerkung des Kollegen Pickerodt anknüpfen -, eine gesellschaftliche Mitverantwortung zu übernehmen.

Gesundheit ist untrennbar verwoben mit zentralen Lebensbereichen wie Arbeitsfähigkeit, Bildung, Wirtschaft - Stichwort: Humanpotenzial -, Humanität. Das haben wir heute Morgen bereits gehört.

Bereits in wenigen Jahren wird es eine Überlebensfrage nicht nur des Wirtschaftsstandorts, sondern auch der Qualität des Lebens in dieser Gesellschaft sein, inwieweit wir hierüber ausreichend verfügen. Die Medizin hat dabei eine Schlüsselfunktion. Gesundheit ist ein konstitutives gesellschaftliches Element.

Deshalb muss es, meine Damen und Herren, uns interessieren, was in den Schulen vorgeht, weil Bildung einer der sichersten Garanten für Gesundheit ist. Deshalb muss es uns interessieren, welche Welt-, Wert- und Menschenbilder sich in der Gesellschaft entwickeln, weil sie die Grundlage für die politische Ordnung unseres Gesundheitswesens bilden. Denken Sie an das Spannungsfeld zwischen protektivem Wohlfahrtsstaat versus eigenverantwortlicher Daseinsvorsorge.

Andererseits offenbart das Gesundheitswesen wie kaum ein anderes Politikfeld etwas über die innere Verfasstheit unserer Gesellschaft. Dies legitimiert uns, diese Zusammenhänge offenzulegen.

Weitere Legitimationen für diese Art der Einmischung: Wir erreichen alle gesellschaftlichen Schichten, und wir haben ein durch Forschung gesichertes Wissen darüber, wie sich Gesundheit im Lebenslauf herausbildet, wie sie zu bewahren und als gesellschaftliche Kraft freizusetzen ist.

Dieses Wissen, das wir tagtäglich unseren Studierenden beibringen - es ist Bestandteil des Gegenstandskatalogs, meine Damen und Herren -, verpflichtet uns zu einer über den klinischen Alltag hinausweisenden Verantwortung, nämlich gesellschaftliche Mitgestaltung und Umgestaltung nicht nur der Medizin und des Gesundheitswesens, sondern durch Medizin. Dies bedeutet, Gesundheit als kulturelle Kraft zu begreifen und offensiv als solche zu vertreten. Darin liegt meines Erachtens eine der Chancen der Aufwertung unserer Arbeit und der Potenziale, die von ihr ausgehen.

Unsere Partner auf diesem Weg sollten wir nicht nur bei den möglicherweise geneigten Politikern suchen, sondern wir brauchen auch hier aus gesellschaftlichen Kräften eine neue Form der Zusammenarbeit. Wir haben unsere Partner in der Philosophie zu suchen. Das hat in der Medizin eine lange Tradition. Von Platon bis heute befasst sich die Philosophie mit dem Faszinosum Krankheit und Heilung.

Darüber hinaus haben wir sie zu suchen in der Sozialpolitik und anderen sogenannten Lebenswissenschaften.

Ein Partner, meine Damen und Herren, ist Ihnen sicher, nämlich das Medium, in dem auch ich persönlich versuche, Sie auf diesem Weg zu unterstützen: die Deutsche Gesellschaft für Gesundheit. Wie wir das anstellen möchten, können Sie morgen um 13 Uhr gern bei einem kleinen Empfang miterleben.

Mich hat heute Morgen die Darstellung von Herrn Professor Richter und sein Satz "Es gibt keine humane Gesellschaft ohne humane Medizin" beeindruckt. Dazu werden wir gebraucht. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg auf dem Weg, dies offensiv in der Gesellschaft darzustellen. Ich glaube, wir haben heute Morgen gesehen: Wir sind in der glücklichen Position, einen Präsidenten zu haben, der dieses vermag.

Vielen Dank.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Schönen Dank, Frau Professor Fischer. Frau Fischer war übrigens lange Jahre Inhaberin des Lehrstuhls für Allgemeinmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover.

Jetzt bitte Herr Clever.

© Bundesärztekammer 2008