Prof. Dr. Kruse, Referent:
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte mich
zunächst herzlich dafür bedanken, zu diesem Vortrag eingeladen worden zu sein.
Erlauben Sie mir, diesen Vortrag mit einem Beispiel aus der Praxis der
Versorgung demenzkranker Menschen, so wie wir diese an einem
Universitätsinstitut erleben können, zu beginnen.
Vor ungefähr anderthalb Jahren kam ein Ehepaar zu uns in das
Institut mit der Bitte, die von dem Ehemann geäußert wurde, dass bei der
Ehefrau mit bildgebenden Verfahren bzw. psychometrischen Verfahren eine Aussage
darüber getroffen werden solle, inwiefern es sich um eine demenzielle
Erkrankung bei der Frau handele, ob bei der Frau eine Alzheimerdemenz oder eine
andere Form der Demenz vorliege. Nachdem wir die Bildgebung hatten und nachdem
wir die psychometrischen Verfahren abgeschlossen hatten, mussten wir dem
Ehepaar mitteilen, dass die Ehefrau an einer weit fortgeschrittenen Alzheimerdemenz
leide, die ihre kognitive Leistungskapazität ebenso wie ihre Persönlichkeit zum
Teil erheblich verändert habe.
Als wir diese Aussage getroffen hatten, antwortete der Ehemann
in folgender Weise: Zunächst werde ich meine Frau töten, und in einem weiteren
Schritt werde ich mich selbst töten. Wir hatten dann eine sehr ausführliche
Diskussion darüber, auch mit den medizinischen Kollegen bei unserem Institut,
was dieses Ehepaar tun könne, damit die Frau eine adäquate
medizinisch-pflegerische Versorgung erhalte bzw. was das Ehepaar auch
psychologisch tun könne, damit die schwere Diagnose einer progredienten
Alzheimerdemenz psychologisch bzw. seelisch bewältigt werden könne.
In diesem Kontext wurde dann auch die Frage gestellt,
inwiefern Menschen mit einer schweren Demenz, die irgendwann einmal zum Tode
führen wird, ein menschenwürdiges Leben führen können bzw. inwiefern die
medizinisch-pflegerischen Maßnahmen die Möglichkeit eröffnen, ein Leben zu
führen, welches bestimmt ist von Lebensqualität.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich dieses Fallbeispiel
noch kurz kommentieren mit einem lyrischen Beitrag von Rainer Maria Rilke,
bevor ich dann in die fachliche Diskussion eintrete. Es gibt ein sehr
eindrucksvolles Gedicht von Rainer Maria Rilke, das für uns als Altersforscher
überaus bedeutsam ist, wenn es um die Frage geht, inwiefern es Menschen auch
dann, wenn sie an schweren körperlichen bzw. seelisch-geistigen Erkrankungen
leiden, möglich ist, ein gutes Leben im Alter führen zu können. Dieses Gedicht
– Sie werden es wahrscheinlich alle kennen – lautet:
Herr: es ist Zeit. Der
Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten
Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus
hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Meine Damen und Herren, warum konfrontiere ich Sie mit diesem
Gedicht? Der eigentliche Akzent liegt auf der Formulierung "dränge sie zur Vollendung
hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein". Was wir damit zum Ausdruck
bringen wollen – ich glaube, hier wird eine sehr wesentliche Komponente
der ärztlichen Tätigkeit angesprochen –, ist, dass wir den gesamten
Lebenslauf als eine Einheit betrachten, das Alter als eine bedeutsame
Komponente des Lebenslaufs, und dass eine zentrale Aufgabe des Menschen auch im
hohen und im höchsten Lebensalter darin zu sehen ist, sein Leben zu einer
Vollendung zu bringen.
Eine der größten Sorgen älterer Frauen und Männer besteht
darin, dass die Möglichkeit, den Lebenslauf zu einer Vollendung zu bringen,
nicht gelingt, weil möglicherweise eine Alzheimerdemenz oder eine vaskuläre
Demenz oder eine Demenz anderen Typs auftritt.
Ich darf Ihnen an dieser Stelle sagen, dass die
niedergelassenen Ärzte ebenso wie Klinikärzte, die sich mit Fragen der
Geriatrie und der Gerontopsychiatrie befassen, ebenso wie wir in der Forschung
mehr und mehr mit der Frage älterer Menschen konfrontiert werden: Werden wir
angesichts der Tatsache, dass wir eine solche bemerkenswerte Zunahme der
durchschnittlichen Lebenserwartung registrieren dürfen, mit dem erhöhten Risiko
der Demenzerkrankung konfrontiert sein? Wird dies dazu führen, dass wir eine
zentrale Aufgabe unseres Lebens, nämlich das Leben zu einer Abrundung, zu einer
Vollendung zu bringen, nicht erfüllen können?
Ich sage, dass hier eine wichtige ärztliche Tätigkeit
angesprochen ist, die man vielleicht in den 50er-, 60er- und Anfang der
70er-Jahre des letzten Jahrhunderts mit dem Begriff der ärztlichen Seelsorge
umschrieben hat. Lassen Sie mich an dieser Stelle eindeutig akzentuieren: Mit
derartigen Fragen wird die praktische Medizin in immer stärkerem Maße
konfrontiert. Ich möchte schon hier in Klammern sagen, meine Damen und Herren: Das
wird letzten Endes auch zu Finanzierungsfragen führen. Die Tatsache, dass wir
diese bemerkenswerte Zunahme bei der durchschnittlichen Lebenserwartung haben
– heute sind 4,2 Prozent der Bevölkerung 80 Jahre und älter; im Jahre
2040/2045 werden es circa 13 Prozent sein –, trägt dazu bei, dass uns
Aspekte der Multimorbidität, dass uns Aspekte der chronischen Erkrankungen und
dass uns vor allen Dingen Aspekte der hirnorganischen Erkrankungen auch im
praktischen Handeln immer stärker beschäftigen werden. Hier müssen aus unserer
Perspektive Medizinerinnen und Mediziner in einer ganz anderen Art und Weise
auch finanziell ausgestattet sein, um dieser bemerkenswerten Aufgabe, mit der
das hohe Alter im wachsenden Maße konfrontiert, gewachsen zu sein.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige Sätze zur
Entwicklung der Demenzerkrankung, was die Epidemiologie angeht, vortragen. Wir
gehen davon aus, dass in der Bundesrepublik Deutschland heute ungefähr 1,05
Millionen Menschen an einer demenziellen Erkrankung leiden, die symptomatisch
ist. Es ist für die Medizin überaus bedeutsam, hier zu differenzieren zwischen
einer stummen, subsymptomatisch verlaufenden Demenz auf der einen Seite und
einer symptomatischen Demenz auf der anderen Seite. Wir gehen nämlich davon
aus, dass vor dem Zeitpunkt, zu dem eine Demenz symptomatisch wird, diese
Erkrankung ungefähr acht bis zehn Jahre – einige Kollegen sagen sogar:
zehn bis 15 Jahre – stumm verläuft. Das heißt, wir können diese
Erkrankung noch nicht diagnostizieren, wir können sie vor dem Hintergrund der
bestehenden diagnostischen Möglichkeiten noch nicht eindeutig diagnostizieren.
Wenn die Demenz aufgetreten ist, und zwar in der Weise, dass sie symptomatisch
verläuft, sodass wir sie als Demenz diagnostizieren können, beträgt die durchschnittliche
Lebenserwartung, also von dem Zeitpunkt, an dem die Erkrankung symptomatisch
wurde, bis zum Zeitpunkt des Todes, ungefähr sieben bis neun Jahre. Es gibt
demenzkranke Patienten, die noch 12, 14 oder sogar 15 Jahre leben.
Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: Die demenzielle
Erkrankung ist eine chronisch progrediente Erkrankung, die einen überaus langen
und intensiven Versorgungsbedarf mit sich bringt.
Ich habe eben gesagt: Heute sind 1,05 Millionen Menschen in
der Bundesrepublik Deutschland demenzkrank, oder die Demenzdiagnose ist
eindeutig gesichert. Wir gehen davon aus, dass im Jahre 2040 2
Millionen, vielleicht auch über 2 Millionen Menschen in der Bundesrepublik
Deutschland an einer Demenz leiden werden.
Hier vielleicht noch eine ökonomische Position. Die
durchschnittlichen Behandlungskosten für einen demenzkranken Menschen betragen
im Jahr 43 367 Euro. Sie können sich also vorstellen, welche ökonomische
Versorgungslast auf die Bundesrepublik Deutschland allein aufgrund der Tatsache
zukommt, dass wir es mit einer deutlichen Zunahme bei der Anzahl demenzkranker
Menschen zu tun haben werden.
Ein weiterer Punkt sei an dieser Stelle artikuliert, nämlich
dass die meisten Demenzerkrankungen – das wird unseres Erachtens in der
Fachöffentlichkeit vielfach nicht richtig wiedergegeben – mit
Multimorbidität assoziiert sind. Wir haben ja noch vielfach die Vorstellung,
dass ein Mensch körperlich noch relativ gesund ist und nur eine schwere
hirnorganische Einschränkung hat, wenn wir bei ihm die Diagnose Demenz treffen
müssen. Diese Vorstellung ist vielfach falsch. Die meisten demenzkranken
Menschen leiden an mehreren körperlichen Erkrankungen. Das heißt, zur Demenz
gesellt sich noch die körperliche Multimorbidität.
Von den 1,05 Millionen Menschen, bei denen eine Demenz
gesichert ist, leben ungefähr 400 000 in einer stationären Einrichtung der
Altenhilfe. Diese stationären Einrichtungen sagen uns: Wir beobachten vielfach
einen eklatanten Mangel in der ärztlichen Kompetenz, wenn es darum geht, eine Demenz
zu diagnostizieren, wenn es darum geht, einen demenzkranken Menschen
therapeutisch-rehabilitativ bzw. pflegerisch zu begleiten.
Die anderen 605 000 demenzkranken Menschen leben im
ambulanten Bereich, das heißt, sie werden von Pflegenden oder von Angehörigen
betreut oder leben sogar ganz allein im Haushalt und erfahren eine zum Teil gar
nicht regelmäßig stattfindende Betreuung durch ambulante Dienste.
Ein nicht kleiner Teil der pflegenden Angehörigen
demenzkranker Menschen steht selbst im Alter.
Das soll Ihnen zeigen, wie ausgeprägt der Versorgungsbedarf
ist. Meine Damen und Herren, wir werden in den nächsten Jahren eine
hochbedeutsame ethische Diskussion zu erwarten haben, eine ethische Diskussion
über die Frage, ob unsere Gesellschaft in ein so schwerkrankes Leben
investieren soll. Wir werden eine Diskussion über das Thema bekommen, ob ein
Mensch mit einer schweren Demenzerkrankung überhaupt noch ein menschenwürdiges
Leben führt. Meine Damen und Herren, da erbitten wir als Altersforscher, die
viel in der Praxis tätig sind, Ihr klares Votum zu der Aussage, dass die
Gesellschaft bzw. dass der Mensch nicht die Menschenwürde eines anderen
definiert, diese nicht bestimmt.
(Beifall)
Wir erbitten Ihr Votum in der Richtung, um eine Aussage Ihres
Präsidenten, die ich heute im "Deutschen Ärzteblatt" lesen konnte,
aufzugreifen, dass der Aspekt der Daseinsvorsorge ein zentraler ist, der in dem
Maße an Zentralität gewinnt, in dem wir es mit schwerstkranken Menschen zu tun
haben, die ihre Bedürfnisse vielfach nicht selbst artikulieren können.
Schließlich sollten wir uns auf die Tatsache besinnen, dass
wir in einer Gesellschaft leben, der deutlich gemacht werden muss, dass in
einer Gesellschaft des langen Lebens der Einzelne sehr viel mehr in die
gesundheitliche Vorsorge investieren muss, dass der Einzelne sehr viel mehr in
eine gute Qualität der medizinischen Versorgung genauso wie in eine gute
Qualität der pflegerischen Versorgung investieren muss.
Meine Damen und Herren, hier sehen wir eine hochbedeutsame
Aufgabe für die Politik. Wir sehen diese Aufgabe darin, in der Öffentlichkeit
wahrhaftig zu kommunizieren, dass in einer Gesellschaft des langen Lebens der
einzelne Mensch in der individuellen Finanzplanung seines Lebens, in der
individuellen Antizipation der Aufgaben in seinem Leben sich viel mehr mit der
Frage auseinandersetzen muss: Was willst du in eine gute gesundheitliche und
was willst du in eine gute pflegerische Versorgung investieren? Auch dieser
Punkt muss viel mehr als heute in den öffentlichen Raum hineingetragen werden.
Wenn sich das einzelne Individuum nicht der Tatsache bewusst
ist, dass wir alle uns als Gemeinschaft, als Gesellschaft, als Polis
konstituieren, wenn es sich nicht der Tatsache bewusst ist, dass es auch selbst
durch Vorsorge in sein eigenes Alter investieren muss, ist es durchaus möglich,
dass wir später aufgrund großer Verlegenheit, aufgrund der Tatsache, dass keine
adäquaten Antworten mehr gegeben werden können, die Ausrede hören müssen: Es
gibt ein bestimmtes Leben, das hat keine Menschenwürde mehr, deshalb ist es
auch nicht nötig, dass wir uns in vollem Maße medizinisch oder pflegerisch
diesem Leben zuwenden und es unterstützen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in Bezug auf die
Demenzerkrankung einige Aspekte akzentuieren. Es ist meine Aufgabe, nur
bestimmte Akzente vorzutragen und sie nicht ausführlich zu explizieren. Sie
werden in Ihren Unterlagen eine Langfassung meines Vortrags finden, in der
viele Befunde aufgeführt sind, die die folgenden Akzentsetzungen stützen
sollen.
Die erste Akzentsetzung: Wenn Sie über Demenz sprechen, wenn
Sie vorhaben, sich in der Öffentlichkeit zum Thema Demenz zu äußern, bedenken
Sie bitte immer Folgendes: Demenz ist keine Erkrankung, sondern Demenz ist ein
Oberbegriff für zahlreiche Erkrankungen. Es gibt nicht die Demenz, sondern es gibt sehr verschiedenartige, ätiologisch
sehr verschiedenartige Demenzen. Das ist bedeutsam, denn eine sehr wichtige
Aufgabe der medizinischen Diagnostik ist allein schon darin zu sehen, genau zu
bestimmen, um welche Form der Demenz es sich handelt, welche Ätiologie die
bestimmte Demenzform, mit der man konfrontiert ist, hat.
Bitte bedenken Sie in diesem Kontext auch Folgendes: Nur 30
Prozent der demenzkranken Menschen in der Bundesrepublik Deutschland sind
adäquat diagnostiziert. Das ist ein Skandalon! Das heißt, 70 Prozent der
demenzkranken Menschen haben keine gesicherte Diagnose, sind nicht adäquat
diagnostiziert. Man geht vielfach davon aus, dass sie eine Demenz haben, ohne
aber eine Differentialdiagnostik zu versuchen.
Das ist, meine Damen und Herren, meines Erachtens nicht nur
ein fachliches Problem, sondern das ist ein sittliches bzw. auch ein ethisches
Problem.
Zweiter Punkt. Wir gehen davon aus, dass wir Teile der
Demenzerkrankungen, bestimmte Demenzformen prävenieren können. Hier wird der
Aspekt der Prävention sehr wichtig. Beispielsweise machen die gefäßbedingten
Demenzen ungefähr 18 bis 20 Prozent aller Demenzerkrankungen aus. Diese kann
man prävenieren. Mittlerweile sind wir sogar optimistisch, dass wir die Alzheimerdemenz,
also die neurodegenerative Demenz, durch gute kognitive Trainingsmaßnahmen,
also sehr anspruchsvolle kognitive Trainingsmaßnahmen, aber auch durch sehr
anspruchsvolle körperliche Trainingsmaßnahmen wenigstens in Teilen in der
Hinsicht prävenieren können, dass diese Demenzform erst später auftritt. Diese
Präventionspotenziale genau zu bestimmen bzw. Patientinnen und Patienten über
diese Präventionspotenziale genauer Auskunft zu geben, ist eine überaus
bedeutsame Aufgabe der ärztlichen Tätigkeit.
Ich sage das deswegen, weil sich Ihr Anliegen, in der
Öffentlichkeit darüber zu diskutieren, mit welchen finanziellen Ressourcen
Medizinerinnen und Mediziner ausgestattet sind, um eine fachlich und
sittlich-ethisch adäquate Arbeit leisten zu können, sich besonders am Beispiel
der Demenzerkrankung konkretisieren lässt, weil vielfach gesagt wird: Solche
Aussagen in Bezug auf die Prävention, solche Aussagen in Bezug auf die
Differentialdiagnostik sind Aussagen, die vielleicht gar nicht diese umfassende
fachliche Expertise brauchen. Wir hingegen würden sagen: Sie brauchen eine
besondere fachliche Expertise und damit natürlich auch eine adäquate
finanzielle Ausstattung jener Personen, die diese fachliche Expertise der
Öffentlichkeit zur Verfügung stellen.
Meine Damen und Herren, wir haben in Bezug auf die Demenz
mittlerweile die neurodegenerative Demenz vom Alzheimertyp, wir haben in Bezug
auf die Demenz mittlerweile einen gewissen Optimismus, dass wir beispielsweise
durch Azetylcholinesterasehemmer die Demenz in ihrer frühen Phase symptomatisch
beeinflussen können. Aber hier stehen wir vor dem nächsten ethischen Problem,
dass nicht wenige Krankenkassen sagen: Wir zahlen diese Azetylcholinesterasehemmer
deshalb nicht, weil sie unverhältnismäßig teuer sind. Aus der Perspektive der
demenzkranken Menschen, aus der Perspektive der Angehörigen hören Sie aber:
Wenn Sie den Symptomverlauf einer Demenz, den kognitiven Symptomverlauf ebenso
wie den verhaltensbezogenen Symptomverlauf, über anderthalb oder zwei Jahre,
vielleicht sogar über drei Jahre signifikant beeinflussen können, dann ist das
eine ganz bemerkenswerte Zunahme an Lebensqualität, und deshalb können wir
nicht verstehen, warum diese potenziell wirksamen Medikamente nicht verordnet
werden.
Sie sehen hier sofort wieder eine Güterabwägung, die uns nicht
nur in fachliche, sondern auch in ethische Problembereiche führt.
Kurz von der Therapie noch zur Rehabilitation und dann zur
Pflege. Wir haben mit Krankenkassen und Pflegekassen schon häufig Diskussionen
darüber geführt, dass es durchaus sinnvoll sein kann, bei Demenzerkrankungen
bzw. bei Menschen, die an einer Demenz leiden, Rehabilitationsmaßnahmen durchzuführen,
weil sie auch dazu führen können, dass wir den kognitiven Symptomverlauf ebenso
wie den verhaltensbezogenen und den persönlichkeitsbezogenen Symptomverlauf
positiv beeinflussen können. Wir haben als Institut häufig die Aufgabe, als
Obergutachter tätig zu werden, der sich mit der Frage auseinanderzusetzen hat:
Sind die abgelehnten Rehabilitationsanträge bzw. die diesen Anträgen zugrunde
liegenden Begründungen fachlich oder sittlich-ethisch zu akzeptieren? Wir haben
manchmal den Eindruck, dass gerade in Bezug auf Entscheidungen über die
Rehabilitation vielfach nicht fachlich adäquat und auch nicht differenziert geantwortet
wird, weil man es mit hochbetagten Menschen zu tun hat, vor allen Dingen mit
hochbetagten Menschen, die an einer Demenz leiden.
Damit komme ich zu meinem letzten Punkt, der Pflege. Das führt
uns zentral in das Problem der Menschenwürde. Bevor ich Ihnen zwei oder drei
Aussagen zu unseren Projekten mache, die wir mit schwerstkranken demenzkranken
Menschen durchführen, will ich zunächst einmal den großen Schriftsteller
Friedrich Schiller zu Wort kommen lassen, der in den Jahren 1789 und 1790 zur
Menschenwürde Folgendes geschrieben hat, was hochbedeutsam ist. Ich darf zitieren
– und erbitte Ihr völliges Schweigen, weil jetzt einer der ganz Großen zu
uns spricht –:
Nichts mehr davon, ich bitt Euch. Zu essen gebt ihm, zu
wohnen. Habt Ihr die Blöße bedeckt, ergibt sich die Würde von selbst.
Ein Jahr später:
Der Menschheit Würde ist in Eure Hand gegeben. Bewahret
sie! Sie sinkt mit Euch! Mit Euch wird sie sich heben!
Was meint Friedrich Schiller mit diesen beiden Zitaten? Zum
einen das, was für uns am Institut für Gerontologie das Leitbild ist: Dem
Menschen ist qua Mensch Würde gegeben. Das heißt, auch in den schwersten
Situationen der Palliation würden wir uns nie anheischig machen, die Würde
eines Menschen in Abrede zu stellen.
Aber es bedarf tiefgreifender, es bedarf umfassender
Betreuungs- bzw. Versorgungsleistungen, die hier in den Worten ausgedrückt
sind: "Zu essen gebt ihm, zu wohnen. Habt Ihr die Blöße bedeckt, ergibt sich
die Würde von selbst". Eine schönere Umschreibung dessen, was wir unter Palliativmedizin
verstehen, was wir unter Palliativpflege verstehen, kann man kaum geben.
Palliation kommt vom lateinischen "pallium". Das bedeutet übersetzt "Mantel".
Wir legen um einen Menschen den Mantel, und zwar mit dem Ziel, ihm eine
fundamentale Versorgung angedeihen zu lassen, auf dass sich die Würde des
Menschen auch in einer Grenzsituation des menschlichen Lebens verwirklichen
kann.
Wir haben dies in einem großen Projekt versucht, das von der
Bundesregierung sehr umfassend gefördert wurde. Wir haben es "Heidelberger
Instrument zur Erfassung der Lebensqualität demenzkranker Menschen" genannt. In
diesem Projekt haben wir mit vielen demenzkranken Menschen zu tun gehabt, die
nicht mehr in der Lage waren, verbal zu kommunizieren. Nicht wenige Kolleginnen
und Kollegen von uns im In- und Ausland haben gefragt: Warum beschäftigt ihr
euch mit dieser Problemgruppe, sie kann überhaupt nicht mehr verbal kommunizieren,
wir gehen davon aus, dass diese Menschen auch keine Affekte bzw. keine
Emotionen mehr haben.
Wir haben erklärt: Was ihr hier trefft, ist ein Werturteil.
Was ihr hier nicht trefft, ist ein Urteil, das auf der instrumentellen Vernunft
gründet. Das ist kein empirisch fundiertes Urteil. Wir werden uns jetzt in
jahrelanger Arbeit mit der Frage auseinanderzusetzen haben, inwieweit wir eurem
Werturteil ein empirisches Urteil hinzugesellen können, das möglicherweise euer
Werturteil sogar falsifiziert.
Wir hatten bei schwerstdemenzkranken Menschen Folgendes
beobachtet: Bei einer mimischen Ausdrucksanalyse, die wir vielfach videobasiert
durchgeführt haben, nachdem wir alle betreuungsrechtlichen Fragen geklärt
haben, wurde deutlich, dass demenzkranke Menschen über ein sehr viel
differenzierteres
emotionales und affektives Erleben verfügen, als wir es gemeinhin annehmen. Wir
haben festgestellt, dass man bei demenzkranken Menschen, bei denen man prima
facie sagen würde "Dort ist gar kein Leben mehr", durchaus den Nachweis
erbringen kann, wie differenziert diese Menschen in verschiedenartigen
Situationen reagieren.
Insofern haben wir gesagt: Die philosophisch-ideale Kategorie
der Selbstverantwortung können wir auch praktisch umsetzen, indem wir durch die
mimische Ausdrucksanalyse darzulegen versuchen, in welchen Situationen die
betreffende Person Freude und Glück empfindet und inwiefern wir solche
Situationen immer wieder mit den entsprechenden positiven Emotionen
konstituieren können. Dies gelingt uns immer besser. Es wird im nationalen und
internationalen Pflegekontext immer mehr angenommen.
Warum sage ich Ihnen das? Ich sage es, weil uns deutlich wird,
dass diese sehr rasche Aussage über das Alter, dass uns die sehr rasche Aussage
über medizinische, gesundheitliche Grenzsituationen im hohen Alter dazu
verführt, empirisch falsch zu argumentieren bzw. auch ethisch in höchstem Maße
problematisch zu argumentieren. Ich sage es Ihnen auch deswegen, weil wir in
der Kooperation mit Medizinern auf der einen Seite und Pflegefachkräften auf
der anderen Seite Folgendes haben feststellen können: Wenn gute Arbeitsbedingungen
für Mediziner im Bereich der Geriatrie, vor allem der Gerontopsychiatrie,
vorliegen, wenn gute Arbeitsbedingungen für die Pflegefachkräfte vorliegen,
sind die betreffenden Personen sehr viel mehr in der Lage, so etwas wie eine
mimische Ausdrucksanalyse zu betreiben, sind sie sehr viel mehr in der Lage,
sich viel intensiver mit dem Aspekt der Lebensqualität demenzkranker Menschen
auseinanderzusetzen. Wenn das der Fall ist – auch das können wir empirisch
sehr eindrucksvoll nachweisen –, werden wir sogar eine Steigerung der
Lebensqualität demenzkranker Menschen bewirken können.
Meine Damen und Herren, von Michelangelo Buonarroti, der ja
eigentlich durch seine Skulpturen bekannt geworden ist, gibt es wunderschöne
Sonette. In hervorragender Art und Weise sind seine 42 Sonette von Rainer Maria
Rilke übersetzt worden, erschienen im Insel-Verlag, sehr empfehlenswert. Wenn
Sie zu erhitzt sind und den Eindruck haben, wir beißen uns fest: Lesen Sie
diese Sonette; sie sind fantastisch. Es gibt ein Sonett, das ich Ihnen aus
Zeitgründen jetzt nicht in Gänze vortragen kann, das aus meiner Perspektive
eine Dimension des Alters zur Abbildung bringt, die die Medizin ebenso wie die
Pflege und ebenso wie die anderen Disziplinen zur Verwirklichung bringen muss.
Darin sehen Sie die große Aufgabe einer zugewandten, sich auf dem Prinzip der
Seelsorge definierenden medizinischen Tätigkeit. Die erste Strophe dieses Sonetts
lautet:
Des Todes sicher,
nicht der Stunde, wann.
Das Leben kurz, und wenig komm ich weiter;
den Sinnen zwar scheint diese Wohnung heiter,
der Seele nicht, sie bittet mich: stirb an.
Das ist eine für uns überaus bedeutsame Aussage, weil meiner
eigenen Theorie zufolge sich das Alter in besonderer Weise – hier bin ich
sehr stark beeinflusst von Viktor von Weizsäckers "Gestaltkreis" – durch
das Hervortreten zweier Ordnungen charakterisieren lässt: der Ordnung des
Lebens und der Ordnung des Todes. Das wird besonders sichtbar im Falle der
Demenz. Diese beiden Ordnungen zu verbinden, die Ordnung des Lebens und die
Ordnung des Todes, ist eigentlich eine Aufgabe, die uns im ganzen Lebenslauf
gestellt ist. Diese beiden Ordnungen miteinander zu verbinden, ist eine
Aufgabe, die uns im Alter in besonderer Weise entgegentritt und die in
besonderer Weise bewältigt werden muss, und zwar so, dass man sagt: Im hohen
Lebensalter, vor allem im sehr hohen Lebensalter, zieht sich die Persönlichkeit
immer weiter zurück, wird immer vulnerabler, immer verletzlicher, bis sie sich
irgendwann ganz zurückgezogen hat.
Das bedeutet aber nicht, dass wir sagen: In dieser
Persönlichkeit ist kein Leben mehr. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht den
Fehler begehen, künstlich das Alter in dem Sinne schönzureden: Der kann mit 95
oder 100 Jahren noch genauso durch das Leben schreiten, wie er das mit 50 oder
60 Jahren konnte.
Meine Damen und Herren, diese beiden Perspektiven miteinander
zu verbinden, ist eine große Leistung des hohen Lebensalters. Ich darf Ihnen an
dieser Stelle sagen: Wenn diese älteren Menschen eine Medizinerin bzw. einen
Mediziner gefunden haben, mit der bzw. mit dem sie über diese Leistungen sprechen
können, wie man sich auf die Vergänglichkeit vorbereitet, aber gleichzeitig die
Aspekte des Lebens in sich spürt und zur Verwirklichung bringt, ist das ein
substanzieller Beitrag zur Erhaltung und zur Förderung der Lebensqualität.
Seien Sie beglückwünscht, dass Sie einen so wunderschönen
Beruf haben. Ich hoffe, dass die Bedingungen so sein werden, dass Sie in
Zukunft diesen Beruf in jener Weise ausüben können, wie Sie sich das wünschen
und wie die Altersforschung dies von Ihnen wünscht.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Langanhaltender lebhafter Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Herzlichen
Dank, Herr Kruse, für diesen ergreifenden, eindrucksvollen, philosophisch und
auch literarisch hinterlegten Vortrag. Ich habe Sie schon öfter gehört, aber
noch nie so gut.
(Beifall)
Wir bedanken uns.
Nun wird Frau Dr. Goesmann, unsere Vizepräsidentin, zu dem
Thema "Betreuung pflegebedürftiger Patientinnen und Patienten – Neue
Versorgungskonzepte: Forderung an Beteiligte, Politik und Gesellschaft"
sprechen. Bitte, Frau Goesmann. |