Zimmer, Nordrhein:
Herr Präsident, das ist gar kein Problem. Es ist ja alles gesagt worden, nur
nicht von jedem. Da meine Vorredner so gut waren, waren alle Argumente
erschöpft. Wir wollten ja nur sicherstellen, in die zweite Lesung zu kommen.
Herr Professor Kruse, ich freue mich über die Darstellung
Ihres Bildes vom alten Menschen. Um es klarzustellen: Ich bin nicht Mediziner,
ich bin mit Leib und Seele gerne Arzt. Das möchte ich auch gerne bleiben. Ich
finde es schön, dass Sie den Beruf des Mediziners so sehen; ich sehe den Beruf
des Arztes als noch viel schöner an, weil er den Teil der menschlichen
Zuwendung meiner Ansicht nach aus der Tradition von Jahrtausenden in sich
birgt, während der Mediziner mehr dem wissenschaftlichen Anspruch genügt, den
ich für mich in keinster Weise in Anspruch nehmen kann.
Ich möchte wissen, um für mich Ihre Aussage einschätzen zu
können, in welcher Schale der Versorgung Demenzkranker Sie sich bewegen. Das
möchte ich mit der Frage verbinden: In welcher Form und bei wie vielen
Patienten, die Sie kontinuierlich betreuen, entscheiden Sie
selbstverantwortlich über die ärztliche Behandlung? Grundsätzlich kann man
– das muss man wissen, wenn man über Demenzbehandlung redet – die
durchschnittliche Quote pro Hausarzt auf 25 Patienten herunterbrechen.
Würde man das auf die nervenärztlichen Disziplinen – Psychiater, Nervenärzte,
Neurologen – herunterbrechen, wären es 250 Patienten pro Arzt. Das
ist eine Dimension, bei der man, wenn man schon über Lebensqualität spricht,
die Frage stellen muss, ob bei 250 Patienten nicht die Lebensqualität der
versorgenden Ärzte relativ schnell in Gefahr ist.
Wir brauchen die von Frau Goesmann angesprochene Kooperation,
wir brauchen das Know-how, aber wir müssen sehr ressourcenschonend mit den sehr
wertvollen nervenärztlich tätigen Kollegen umgehen.
Positiv ist, nachdem gerade die Verlängerung der
Lebensarbeitszeit beschlossen wurde, dass das Alter zumindest bei uns der
einzige Lebensabschnitt ist, der verlängert wird. Die Zeit vor der Schule, an
die ich mich noch immer gern erinnere, ist nicht länger geworden, das Studium
wohl auch nicht.
Wenn man die Zahl 1 Million hört, ist das abstrakt. Das müssen
Sie sich anders vorstellen: Sie kennen im Schnitt 80 Personen so, dass Sie
diese relativ nah erleben. Genau einer von ihnen müsste theoretisch dement
sein. Bei einem Hausarzt sind es dann schon 25, bei einem Psychiater 250. Das
ist das gesellschaftliche Erleben. Das bestimmt sehr stark die Lebensqualität
in dieser Gesellschaft. 2040, nach einer Verdoppelung, können Sie dann zwei
solcher Menschen in Ihrem Bekanntenkreis haben.
Herr Professor Kruse, es hat mir wehgetan, dass Sie von der
Versorgungslast gesprochen haben. Sind denn die 43 000 Euro pro Jahr
– ich nehme an, diese Zahl stammt aus der Statistik von von der
Schulenburg – wirklich eine Last? Ist das nicht wirklich ein Ausdruck der
Wertschätzung, die wir einem alten Menschen, der ein Leben lang gearbeitet hat
und nach der Arbeit in Rente geht, schuldig sind, für ein Schicksal, das er in
keinster Weise selbst verschuldet hat?
Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Wir binden damit
Arbeitskräfte. Die von Frau Goesmann gewünschte Erhöhung des Personalbestands
in Altenheimen um 30 Prozent gehört dazu. Das ist ein Teil menschlichen Lebens
miteinander und wertvolle Arbeit. Ich halte diese Arbeit für sehr viel
wertvoller als die Arbeit der 4 000 neuen Verwaltungsangestellten, die die
Krankenkassen über Nacht zur Bewältigung von DMP-Formularen einstellen mussten.
(Beifall)
Wenn wir über Menschenwürde reden, müssen wir uns auch darüber
im Klaren sein, wohin man das Geld leitet.
Indianer hatten eine andere Vorstellung von Demenz als wir.
Auch die Indianer kannten die Demenz, sicherlich auch deshalb, weil die Lues
bei ihnen relativ weit verbreitet war. Man nahm an, dass ein Demenzkranker
Manitu näher war. Warum sieht man einen Demenzkranken nicht als einen Menschen
mit einem anderen Erleben an, mit einem für ihn durchaus mit positiven Signalen
besetzten Erleben? Ich danke Ihnen, Herr Professor Kruse, dass Sie diesen
Aspekt ein wenig angesprochen haben.
Ich bin immer ein wenig traurig, wenn der Eindruck entsteht,
die Hausärzte seien so schlecht. Wenn es heißt, nur ein Drittel stelle eine
adäquate Diagnose, muss man die Frage stellen: Waren die anderen überhaupt beim
Arzt? Konnten wir sie überhaupt erreichen? Ich behandele seit 20 Jahren alte
Menschen und habe den Eindruck, dass es unwahrscheinlich gut geworden ist. Man
sollte denjenigen Kollegen Mut machen und sie nicht beschimpfen, dass sie noch
Arbeit offen haben. Man sollte ihnen Gelegenheit bieten, an diesem schwierigen
Thema weiterzuarbeiten.
Die Prävention bei Alzheimererkrankungen halte ich für relativ
spekulativ. Ich glaube nicht, dass wir im Moment geeignete Konzepte haben, die
symptomatische Manifestation zu verzögern, allenfalls sehr begrenzt. Bei der
organischen Manifestation geht das überhaupt nicht. Dann kann ich eher sagen:
Versuchen wir bitte alle, Klavier zu spielen oder Dirigent zu werden; da sind
sicherlich Qualitäten gefragt, bei denen Körper und Geist so aggressiv
gefordert werden, dass diese Symptomatik verzögert werden kann.
Besonders Schmerzen hat es mir bereitet, dass Sie gesagt
haben, die Azetylcholinesterasehemmerindikation sei so niedrig. Ich habe keinen
an Demenz erkrankten Patienten, der nicht mindestens zwei andere
behandlungsbedürftige Krankheiten hat. Ein Teil dieser Komorbidität schließt
die Indikation der Cholinesteraseinhibitoren aus. Deswegen kann man es nicht
für alle fordern und für alle, die es nicht bekommen, sagen: Das ist inadäquat.
Man muss ärztlich sehr genau abwägen, ob der Patient das auch verträgt. Ich
glaube, darüber muss man sich noch einmal unterhalten.
Die Frage der Rehabilitation unterstütze ich vollinhaltlich.
Was mir völlig gefehlt hat, ist der Aspekt, der die Demenzerkrankung von fast
allen anderen Erkrankungen, die wir in der Hausarztpraxis erleben, wesentlich
unterscheidet. Es ist eine Erkrankung, die die Angehörigen hinsichtlich der
Lebensqualität schlagartig mit nach unten zieht. Dazu hätte ich gern ein paar
konkretere Daten gehabt. Herr Grässel und Herr Lehrl, die sich relativ viel
damit beschäftigt haben, zeigen, wie schnell die betreuenden Angehörigen krank
werden, wenn sie den Demenzkranken zu Hause versorgen. Insofern halte ich die
eine oder andere Maßnahme, einen Patienten zeitnah in eine weitere
professionelle Pflege zu geben, die ja auch nur halbtags erfolgen kann,
entlastend für den Angehörigen und damit die Lebensqualität des Angehörigen
steigernd. Das ist auch für den Patienten günstiger, denn meine persönliche
Überzeugung nach 20 Jahren der Behandlung Demenzkranker ist: Es geht dem
Demenzkranken immer dann bezüglich seiner Lebensqualität besser, wenn der
Angehörige psychisch und physisch stabil ist.
Die Vorstellung, ein Demenzerkrankter nehme nichts oder nur
begrenzt wahr, stimmt mit fortschreitender Erkrankung sicherlich für den
rational-kognitiven Anteil. Meine Erfahrung ist: Je weniger er kognitiv auf der
Höhe ist, desto stärker ist er emotional in der Lage, das Umfeld wahrzunehmen
und darauf zu reagieren, bis hin zu der immer wieder gefürchteten
Aggressivität.
Wenn wir die Lebensqualität der Menschen mit Demenz im Alter
erhöhen wollen, müssen wir in der Gesellschaft umdenken. Wir müssen die
Angehörigen, die diese Leistungen erbringen, in höchstem Maße schätzen. Wir
müssen ihre Leistung anerkennen. Wir müssen den Freunden der Demenzerkrankten
Mut machen, die Freundschaft aufrechtzuerhalten. Das ist ärztliches Moderieren
im Hausarztbereich. Wir sollten versuchen, Versorgungskonzepte für alle Bedürfnisse
der Demenzkranken konkret in den Regionen zu realisieren. Ich bin stolz, dass
wir in Nordrhein-Westfalen über Pflegeberatungsstellen und Demenzservicezentren
zumindest Einstiege in die Verbesserung der Lebensqualität von Betreuenden
erreicht haben. Ich bin stolz darauf, dass wir in der Lage sind, mit Verträgen
zwischen Hausärzten, Krankenkassen und Körperschaften Aufnahmebesuche bei
Demenzerkrankten im Krankenhaus und auch Abholbesuche organisieren zu können.
Das sind winzige Bausteine, aber elementare Schritte für die betreuenden
Angehörigen.
Ich glaube, wir müssen uns darüber klar werden: Ein Drittel
derjenigen, die hier sitzen, werden diese Krankheit bekommen. Wenn wir heute
Bedingungen schaffen, die die Qualität im Alter ermöglichen, die wir uns
wünschen, dann können wir – diese persönliche Erklärung gebe ich hier ab
– auch dieses Risiko für uns in Anspruch nehmen, demenzkrank zu werden.
Ich glaube für mich persönlich, dass das Leben mit einer Alzheimerdemenz sehr
wohl lebenswert ist. Ich erkläre das hiermit. Ich bin keineswegs ängstlich
– ich hoffe, Sie auch schon nicht mehr –, diese Krankheit erleben
zu wollen. Das müssen wir glauben. Erst wenn wir es glauben, können wir es
emotional dem Erkrankten vermitteln, können wir den Angehörigen stützend zur
Seite stehen.
Erst dann, wenn wir dort angekommen sind, dass wir die Demenz
für uns kognitiv nicht mehr ausblenden, sondern schon heute entsprechende
Rahmenbedingungen schaffen, kommen wir in eine gesunde Situation des Alterns
hinein, in der wir akzeptieren würden, dass auch uns diese Krankheit ereilt.
Ich glaube, da sind wir gefordert.
Abschließend möchte ich, nachdem hier so schön zitiert wurde,
ein Zitat der Freifrau von Eschenbach bringen: Menschen, denen wir eine Stütze
sind, geben uns Halt im Leben.
Vor diesem Hintergrund sollten wir uns Gedanken darüber
machen, wo wir unser ärztliches Arbeiten einbringen, auch bei den Erkrankungen,
wo wir nicht heilend tätig werden können.
Danke für Ihre Geduld, auch wenn ich Sie heute etwas
überfordert habe.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Schönen
Dank, Herr Zimmer. – Leider ist es so, dass uns Herr Professor Kruse
heute Nachmittag nicht mehr zur Verfügung stehen kann. Deswegen wird er jetzt
auf die Fragen, die ihm gestellt worden sind, eine Antwort geben. Dann treten
wir in die Mittagspause ein. Um 14 Uhr fahren wir mit der Wortmeldung von Herrn
Kollegen Lange aus Nordrhein fort.
Bitte, Herr Kruse. |