TOP II: Situation pflegebedürftiger Menschen in Deutschland am Beispiel Demenz

Mittwoch, 21. Mai 2008, Vormittagssitzung

Zimmer, Nordrhein: Herr Präsident, das ist gar kein Problem. Es ist ja alles gesagt worden, nur nicht von jedem. Da meine Vorredner so gut waren, waren alle Argumente erschöpft. Wir wollten ja nur sicherstellen, in die zweite Lesung zu kommen.

Herr Professor Kruse, ich freue mich über die Darstellung Ihres Bildes vom alten Menschen. Um es klarzustellen: Ich bin nicht Mediziner, ich bin mit Leib und Seele gerne Arzt. Das möchte ich auch gerne bleiben. Ich finde es schön, dass Sie den Beruf des Mediziners so sehen; ich sehe den Beruf des Arztes als noch viel schöner an, weil er den Teil der menschlichen Zuwendung meiner Ansicht nach aus der Tradition von Jahrtausenden in sich birgt, während der Mediziner mehr dem wissenschaftlichen Anspruch genügt, den ich für mich in keinster Weise in Anspruch nehmen kann.

Ich möchte wissen, um für mich Ihre Aussage einschätzen zu können, in welcher Schale der Versorgung Demenzkranker Sie sich bewegen. Das möchte ich mit der Frage verbinden: In welcher Form und bei wie vielen Patienten, die Sie kontinuierlich betreuen, entscheiden Sie selbstverantwortlich über die ärztliche Behandlung? Grundsätzlich kann man – das muss man wissen, wenn man über Demenzbehandlung redet – die durchschnittliche Quote pro Hausarzt auf 25 Patienten herunterbrechen. Würde man das auf die nervenärztlichen Disziplinen – Psychiater, Nervenärzte, Neurologen – herunterbrechen, wären es 250 Patienten pro Arzt. Das ist eine Dimension, bei der man, wenn man schon über Lebensqualität spricht, die Frage stellen muss, ob bei 250 Patienten nicht die Lebensqualität der versorgenden Ärzte relativ schnell in Gefahr ist.

Wir brauchen die von Frau Goesmann angesprochene Kooperation, wir brauchen das Know-how, aber wir müssen sehr ressourcenschonend mit den sehr wertvollen nervenärztlich tätigen Kollegen umgehen.

Positiv ist, nachdem gerade die Verlängerung der Lebensarbeitszeit beschlossen wurde, dass das Alter zumindest bei uns der einzige Lebensabschnitt ist, der verlängert wird. Die Zeit vor der Schule, an die ich mich noch immer gern erinnere, ist nicht länger geworden, das Studium wohl auch nicht.

Wenn man die Zahl 1 Million hört, ist das abstrakt. Das müssen Sie sich anders vorstellen: Sie kennen im Schnitt 80 Personen so, dass Sie diese relativ nah erleben. Genau einer von ihnen müsste theoretisch dement sein. Bei einem Hausarzt sind es dann schon 25, bei einem Psychiater 250. Das ist das gesellschaftliche Erleben. Das bestimmt sehr stark die Lebensqualität in dieser Gesellschaft. 2040, nach einer Verdoppelung, können Sie dann zwei solcher Menschen in Ihrem Bekanntenkreis haben.

Herr Professor Kruse, es hat mir wehgetan, dass Sie von der Versorgungslast gesprochen haben. Sind denn die 43 000 Euro pro Jahr – ich nehme an, diese Zahl stammt aus der Statistik von von der Schulenburg – wirklich eine Last? Ist das nicht wirklich ein Ausdruck der Wertschätzung, die wir einem alten Menschen, der ein Leben lang gearbeitet hat und nach der Arbeit in Rente geht, schuldig sind, für ein Schicksal, das er in keinster Weise selbst verschuldet hat?

Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Wir binden damit Arbeitskräfte. Die von Frau Goesmann gewünschte Erhöhung des Personalbestands in Altenheimen um 30 Prozent gehört dazu. Das ist ein Teil menschlichen Lebens miteinander und wertvolle Arbeit. Ich halte diese Arbeit für sehr viel wertvoller als die Arbeit der 4 000 neuen Verwaltungsangestellten, die die Krankenkassen über Nacht zur Bewältigung von DMP-Formularen einstellen mussten.

(Beifall)

Wenn wir über Menschenwürde reden, müssen wir uns auch darüber im Klaren sein, wohin man das Geld leitet.

Indianer hatten eine andere Vorstellung von Demenz als wir. Auch die Indianer kannten die Demenz, sicherlich auch deshalb, weil die Lues bei ihnen relativ weit verbreitet war. Man nahm an, dass ein Demenzkranker Manitu näher war. Warum sieht man einen Demenzkranken nicht als einen Menschen mit einem anderen Erleben an, mit einem für ihn durchaus mit positiven Signalen besetzten Erleben? Ich danke Ihnen, Herr Professor Kruse, dass Sie diesen Aspekt ein wenig angesprochen haben.

Ich bin immer ein wenig traurig, wenn der Eindruck entsteht, die Hausärzte seien so schlecht. Wenn es heißt, nur ein Drittel stelle eine adäquate Diagnose, muss man die Frage stellen: Waren die anderen überhaupt beim Arzt? Konnten wir sie überhaupt erreichen? Ich behandele seit 20 Jahren alte Menschen und habe den Eindruck, dass es unwahrscheinlich gut geworden ist. Man sollte denjenigen Kollegen Mut machen und sie nicht beschimpfen, dass sie noch Arbeit offen haben. Man sollte ihnen Gelegenheit bieten, an diesem schwierigen Thema weiterzuarbeiten.

Die Prävention bei Alzheimererkrankungen halte ich für relativ spekulativ. Ich glaube nicht, dass wir im Moment geeignete Konzepte haben, die symptomatische Manifestation zu verzögern, allenfalls sehr begrenzt. Bei der organischen Manifestation geht das überhaupt nicht. Dann kann ich eher sagen: Versuchen wir bitte alle, Klavier zu spielen oder Dirigent zu werden; da sind sicherlich Qualitäten gefragt, bei denen Körper und Geist so aggressiv gefordert werden, dass diese Symptomatik verzögert werden kann.

Besonders Schmerzen hat es mir bereitet, dass Sie gesagt haben, die Azetylcholinesterasehemmerindikation sei so niedrig. Ich habe keinen an Demenz erkrankten Patienten, der nicht mindestens zwei andere behandlungsbedürftige Krankheiten hat. Ein Teil dieser Komorbidität schließt die Indikation der Cho­linesteraseinhibitoren aus. Deswegen kann man es nicht für alle fordern und für alle, die es nicht bekommen, sagen: Das ist inadäquat. Man muss ärztlich sehr genau abwägen, ob der Patient das auch verträgt. Ich glaube, darüber muss man sich noch einmal unterhalten.

Die Frage der Rehabilitation unterstütze ich vollinhaltlich. Was mir völlig gefehlt hat, ist der Aspekt, der die Demenzerkrankung von fast allen anderen Erkrankungen, die wir in der Hausarztpraxis erleben, wesentlich unterscheidet. Es ist eine Erkrankung, die die Angehörigen hinsichtlich der Lebensqualität schlagartig mit nach unten zieht. Dazu hätte ich gern ein paar konkretere Daten gehabt. Herr Grässel und Herr Lehrl, die sich relativ viel damit beschäftigt haben, zeigen, wie schnell die betreuenden Angehörigen krank werden, wenn sie den Demenzkranken zu Hause versorgen. Insofern halte ich die eine oder andere Maßnahme, einen Patienten zeitnah in eine weitere professionelle Pflege zu geben, die ja auch nur halbtags erfolgen kann, entlastend für den Angehörigen und damit die Lebensqualität des Angehörigen steigernd. Das ist auch für den Patienten günstiger, denn meine persönliche Überzeugung nach 20 Jahren der Behandlung Demenzkranker ist: Es geht dem Demenzkranken immer dann bezüglich seiner Lebensqualität besser, wenn der Angehörige psychisch und physisch stabil ist.

Die Vorstellung, ein Demenzerkrankter nehme nichts oder nur begrenzt wahr, stimmt mit fortschreitender Erkrankung sicherlich für den rational-kognitiven Anteil. Meine Erfahrung ist: Je weniger er kognitiv auf der Höhe ist, desto stärker ist er emotional in der Lage, das Umfeld wahrzunehmen und darauf zu reagieren, bis hin zu der immer wieder gefürchteten Aggressivität.

Wenn wir die Lebensqualität der Menschen mit Demenz im Alter erhöhen wollen, müssen wir in der Gesellschaft umdenken. Wir müssen die Angehörigen, die diese Leistungen erbringen, in höchstem Maße schätzen. Wir müssen ihre Leistung anerkennen. Wir müssen den Freunden der Demenzerkrankten Mut machen, die Freundschaft aufrechtzuerhalten. Das ist ärztliches Moderieren im Hausarztbereich. Wir sollten versuchen, Versorgungskonzepte für alle Bedürfnisse der Demenzkranken konkret in den Regionen zu realisieren. Ich bin stolz, dass wir in Nordrhein-Westfalen über Pflegeberatungsstellen und Demenzservicezentren zumindest Einstiege in die Verbesserung der Lebensqualität von Betreuenden erreicht haben. Ich bin stolz darauf, dass wir in der Lage sind, mit Verträgen zwischen Hausärzten, Krankenkassen und Körperschaften Aufnahmebesuche bei Demenzerkrankten im Krankenhaus und auch Abholbesuche organisieren zu können. Das sind winzige Bausteine, aber elementare Schritte für die betreuenden Angehörigen.

Ich glaube, wir müssen uns darüber klar werden: Ein Drittel derjenigen, die hier sitzen, werden diese Krankheit bekommen. Wenn wir heute Bedingungen schaffen, die die Qualität im Alter ermöglichen, die wir uns wünschen, dann können wir – diese persönliche Erklärung gebe ich hier ab – auch dieses Risiko für uns in Anspruch nehmen, demenzkrank zu werden. Ich glaube für mich persönlich, dass das Leben mit einer Alzheimerdemenz sehr wohl lebenswert ist. Ich erkläre das hiermit. Ich bin keineswegs ängstlich – ich hoffe, Sie auch schon nicht mehr –, diese Krankheit erleben zu wollen. Das müssen wir glauben. Erst wenn wir es glauben, können wir es emotional dem Erkrankten vermitteln, können wir den Angehörigen stützend zur Seite stehen.

Erst dann, wenn wir dort angekommen sind, dass wir die Demenz für uns kognitiv nicht mehr ausblenden, sondern schon heute entsprechende Rahmenbedingungen schaffen, kommen wir in eine gesunde Situation des Alterns hinein, in der wir akzeptieren würden, dass auch uns diese Krankheit ereilt. Ich glaube, da sind wir gefordert.

Abschließend möchte ich, nachdem hier so schön zitiert wurde, ein Zitat der Freifrau von Eschenbach bringen: Menschen, denen wir eine Stütze sind, geben uns Halt im Leben.

Vor diesem Hintergrund sollten wir uns Gedanken darüber machen, wo wir unser ärztliches Arbeiten einbringen, auch bei den Erkrankungen, wo wir nicht heilend tätig werden können.

Danke für Ihre Geduld, auch wenn ich Sie heute etwas überfordert habe.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Schönen Dank, Herr Zimmer. – Leider ist es so, dass uns Herr Professor Kruse heute Nachmittag nicht mehr zur Verfügung stehen kann. Deswegen wird er jetzt auf die Fragen, die ihm gestellt worden sind, eine Antwort geben. Dann treten wir in die Mittagspause ein. Um 14 Uhr fahren wir mit der Wortmeldung von Herrn Kollegen Lange aus Nordrhein fort.

Bitte, Herr Kruse.

© Bundesärztekammer 2008