 Prof. Dr. Dr. h. c.
Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen
Ärztetages und Präsident der Ärztekammer Nordrhein: Sehr verehrte Frau
Staatsministerin Dreyer! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete des
Deutschen Bundestages – auch Herr Dr. Koschorrek, der unter uns ist, soll
erwähnt werden –! Sehr geehrter Herr Europaabgeordneter! Meine Damen und Herren
Abgeordneten aus den Ländern! Herr Staatssekretär Dr. Schröder! Meine sehr
verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst vielen
Dank, Frieder Hessenauer, für deine Begrüßung hier und den Einblick in die
Mainzer Geschichte, der äußerst bildend war und den wir so schnell nicht
vergessen werden. Für mich besonders interessant war die Interpretation der
Zahl 11 in der Mainzer Fassenacht.
Wenn ich mit dieser Interpretation
ein bisschen rheinabwärts ankomme, werden die mich wahrscheinlich aufzuklären
versuchen oder mich vielleicht sogar therapeutisch zu beeinflussen versuchen,
dass ich auf solche Ideen lieber verzichten soll.
(Heiterkeit)
Aber diese Interpretation ist so
eindringlich und so logisch, dass ich sie sogar glaube.
(Heiterkeit)
Man muss sich einmal überlegen: Aus
dieser Zeit ist ja nicht nur die Zahl 11 übrig geblieben, sondern auch die
Kostüme. Die Kostüme der Funken in Köln und anderswo stammen alle aus der
napoleonischen Zeit, von den Truppen, die damals hier im Lande waren.
Frau Ministerin Dreyer, ich möchte
Sie sehr herzlich bitten, Herrn Ministerpräsident Kurt Beck noch einmal unseren
Dank dafür auszusprechen, dass er trotz seiner wirklich schwierigen Situation
zu uns gekommen ist. Er hatte ja ursprünglich abgesagt, dann hat er doch
zugesagt. Darüber freuen wir uns ganz besonders, auch darüber, dass er so hohen
Wert darauf gelegt hat, dass die Vertrauensbeziehungen zwischen den Patienten
und der Ärzteschaft eine große Rolle spielen. Wir haben als Vorstand der
Bundesärztekammer bereits ein Gespräch mit ihm gehabt. Wir wissen, dass er sehr
gesprächsbereit ist und sehr gut zuhören kann.
Wenn ihm das Wort „Rationierung“
als furchtbar vorkommt: Das geht uns auch so.
(Beifall)
Aber wenn es sie gibt – darauf
komme ich gleich zurück –, dann muss man dieses Wort auch gebrauchen. Deswegen
müssen wir, glaube ich, noch viel diskutieren; das werden wir auch tun.
Herr Staatssekretär, vielen Dank
dafür, dass Sie heute gekommen sind. Die Ministerin hat mich vorige Woche
angerufen und mir ausführlich erklärt, warum sie doch bevorzugen muss, in Genf
zu sein, weil sie gern mit den anderen Ministerinnen und Ministern aus den
Ländern, die sie dort trifft, als Ministerin dort sein will. Sie hat gesagt,
das ist einfach auch eine Demonstration, welche Bedeutung die Bundesrepublik
Deutschland diesem Thema beimisst. Dafür müssen wir natürlich Verständnis
haben.
Wenn Sie eben vom KV-System und
seiner Bedeutung gesprochen haben, darf ich vielleicht erwähnen: Es hat am
besten funktioniert, als es nur die Kollektivverträge gab, die zwischen dem
KV-System und den Krankenkassen abgeschlossen wurden. Da gab es keine Probleme.
(Beifall)
Die heutige Koexistenz von
Selektiv- und Kollektivverträgen bedeutet ja, dass das Aschenputtelprinzip gilt
und die Kassenärztlichen Vereinigungen das aufputzen müssen,
was übrig bleibt, wenn Selektivverträge nicht vorkommen. Wir empfinden das
nicht so, dass das Ergänzungen sind, sondern das ist das Primäre. Das wird sich
durchsetzen und die KV ist überall dort noch gefragt, wo Reste übrig geblieben
sind. Diese Funktion wird sie, wie ich glaube, auf Dauer nicht am Leben
erhalten können, auch nicht mit der Bedeutung am Leben erhalten können, wie sie
sie in der Vergangenheit hatte. Da würde ich doch überlegen, ob man das nicht
noch einmal hinterfragt, ob diese Entwicklung nicht doch eher schädlich ist.
(Beifall)
Der Deutsche Ärztetag beschäftigt
sich fast nicht mit Honorierung, höchstens dann, wenn es um die Amtliche
Gebührenordnung für Ärztinnen und Ärzte geht. Da haben wir ja mehrere Gespräche
geführt und sind eigentlich vom Grundsatz her in Übereinstimmung. Insofern ist
das, glaube ich, kein Thema, das uns entzweit. Die Frage ist nur, wie es dann
irgendwann aussehen wird. Ansonsten sind für die Honorare die Kassenärztlichen
Vereinigungen und – für die angestellten Ärztinnen und Ärzte – der Marburger
Bund zuständig. Da mischen wir uns mit Absicht nicht hinein.
Ich darf an dieser Stelle offiziell
sagen, dass wir uns über das Abstimmungsergebnis im Deutschen Bundestag zum
Schwangerschaftskonfliktgesetz und der Änderung dieses Gesetzes freuen. Das
haben wir lange gewünscht. Die Verhandlungen haben fünf Jahre gedauert. Sie
sind zu einem guten Ergebnis geführt worden. Wir sind dankbar dafür, dass der
Deutsche Bundestag so abgestimmt hat.
(Beifall)
Meine Damen und Herren,
manchmal schmerzt die Wahrheit, aber manchmal muss man auch den Mut haben, sie
trotzdem auszusprechen. Ich weiß, dass ich mit meinen Ausführungen zur Priorisierung
ein Tabu gebrochen habe – und zwar das Tabu, das unbegrenzte
Leistungsversprechen der Politik nicht infrage zu stellen.
Aber, meine Damen und Herren, wenn
wir nicht mehr die ausreichenden Mittel für die Versorgung der Patienten
bekommen, wenn also der jetzige Mangel von der Politik zementiert wird, dann
müssen wir einfach offen und ehrlich reden und zu gerechten
Verteilungsmechanismen kommen.
Wir Ärztinnen und Ärzte in
Deutschland – um das noch einmal ganz klar zu sagen – wollen keine
Rationierung, keine Streichung von medizinischen Leistungen, aber wir wollen
auch nicht weiter für den staatlich verordneten Mangel in den Praxen und in den
Kliniken verantwortlich gemacht werden.
(Beifall)
Und deshalb habe ich das Thema jetzt ganz bewusst angesprochen. Ich
will eine Diskussion provozieren, in der die Politik Farbe bekennen muss. Und
ich will eine Diskussion in der gesamten Gesellschaft anstoßen, wie viel diese
bereit ist, für Gesundheit auszugeben. Danach ist sie noch nie gefragt worden.
Das ist ein wichtiger Punkt.
(Beifall)
Der eine oder andere mag sich noch
an Minister Dr. Norbert Blüm erinnern, den quirligen Sozialminister unter
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, der vor über 20 Jahren im ganzen Land
plakatieren ließ: „Die Rente ist sicher.“ Er hat es in Rüsselsheimer Sprache
ausgedrückt; die klingt so ähnlich wie die Mainzer. Die Experten wussten schon
damals, dass das ein unhaltbares Versprechen ist.
Aber die Öffentlichkeit ist lange genug so informiert und damit auch
geblendet worden. Und wer sich heute wie damals Dr. Blüm hinstellt und
behauptet, die umfassende Gesundheitsversorgung sei sicher, der sagt schlicht
und einfach nicht die Wahrheit.
(Beifall)
Damit will ich nicht sagen, dass er
lügt; das ist etwas anderes.
Mit den Mitteln, die uns heute zur
Verfügung stehen, werden wir den medizinischen Fortschritt zukünftig nicht mehr
in den Praxen und Kliniken abbilden können – erst recht nicht in einer
Gesellschaft des langen Lebens.
Darüber müssen wir jetzt reden und
nicht erst in 20 Jahren. Das ist es, was ich fordere, wenn ich von Priorisierung
rede: den Mut, unbequeme Wahrheiten offen zu diskutieren.
Und das ist es, was ich auch von
der Politik erwarte: Sagen Sie unseren lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern die
Wahrheit, übernehmen Sie endlich Verantwortung und lassen Sie uns Ärztinnen und
Ärzte, die ja mit dem Thema tagtäglich konfrontiert werden, nicht im Regen
stehen!
(Beifall)
Der richtige Umgang mit der
Mittelknappheit wird zweifellos eine der wichtigsten Herausforderungen für
unser Gesundheitswesen in den nächsten Jahren sein.
Wenn die Mangelverwaltung zum
Dauerzustand wird, müssen wir uns mit der Priorisierung auseinandersetzen, auch
wenn wir wissen, dass der Diskussionsprozess bis zur wirklichen
gesellschaftlich akzeptierten Erkenntnis oftmals ein sehr schmerzhafter ist.
Denn die Prozeduren und Reflexe bei der Behandlung eines solchen schwerwiegenden
Problems sind ja immer die gleichen:
Zunächst gibt es ein sogenanntes
gefühltes Problem. Bei unklarer Analyse nimmt man zumindest schon mal die
Symptome zur Kenntnis. Das ist für mich das erste Talkshow-Stadium – und das
haben wir schon hinter uns.
(Vereinzelt Beifall)
Dann wird das Problem von der
wissenschaftlichen Community aufgegriffen. Ich habe hier ein Heft, das unlängst
erschienen ist und hervorragend zusammenfasst, was in den letzten Monaten und
auch schon Jahren an Ideen entwickelt worden ist, um mit der Mittelknappheit
fertig zu werden. Das Thema der Priorisierung spielt dabei eine besondere
Rolle. Das ganze Heft beschäftigt sich nur mit diesem Thema. Das ist höchst
lesenswert. Wir fangen also nicht bei null an, sondern wir haben bereits
erhebliche Vorlagen.
Das Problem wird, wie gesagt, von
der wissenschaftlichen Community aufgegriffen. Es werden allfällige, durchaus
auch interessengesteuerte Kongresse veranstaltet, wie das auch nach dem Ulmer
Ärztetag der Fall war. Ich bin zu vielen Kongressen eingeladen worden, um zu
dem Thema der Rationierung Stellung zu nehmen. Es werden dann in der Regel
erste Therapievorschläge entwickelt. Spätestens dann beginnt das zweite
Talkshow-Stadium, die Phase der öffentlichen Empörung und der politischen Reflexe.
In diesem Stadium befinden wir uns derzeit.
Meine Absicht war es, dieses zweite
Stadium in Sachen Priorisierung schon vor Beginn dieses 112. Deutschen
Ärztetages zu erreichen. Ich denke, dieses Ziel kann man als erreicht ansehen.
(Beifall)
Erst nach diesem zweiten Stadium
setzt eine mehr oder weniger offene Diskussion über die Problembewältigung ein.
Dann kommt es zu wissenschaftlicher Arbeit, zu fundierter Analyse und zu
möglichen Optionen. Und dann erst, ganz am Ende des Prozesses, gibt es manchmal
die Bereitschaft der Politik, dieses Thema aufzugreifen und Therapieoptionen in
Augenschein zu nehmen und möglicherweise sogar zu realisieren.
Sie sehen, meine Damen und Herren:
Wir haben einen langen Weg vor uns, aber ein erster Schritt ist getan!
Aber was versteht man nun genau unter
Priorisierung und was würde sie für das Gesundheitswesen in Deutschland
bedeuten?
Im Prinzip bedeutet Priorisierung,
dass ärztliches Handeln in Diagnostik und Therapie im Rahmen der zur Verfügung
stehenden Leistungsmöglichkeiten eine Auswahl trifft, welche
Therapiemöglichkeiten für welche Patientinnen und Patienten in Zukunft zur
Verfügung stehen und worauf unter Umständen verzichtet werden muss. Eine
Teilmenge bewältigt ja auch der Gemeinsame Bundesausschuss.
Unter Priorisierung versteht man
die ausdrückliche Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter Indikationen,
Patientengruppen oder Verfahren vor anderen. Dabei entsteht eine mehrstufige
Rangreihe, in der nicht nur Methoden, sondern auch Krankheitsfälle, Kranken- und
Krankheitsgruppen, Versorgungsziele und vor allem Indikationen in einer
Rangfolge angeordnet werden.
Am Ende dieser Rangreihe finden
sich dann solche Verfahren wieder, die keine messbar nachweisbare Wirkung mehr
haben. Die Rangfolge kann innerhalb eines bestimmten Versorgungsbereichs, etwa
im Hinblick auf die Versorgung von Herzerkrankungen, erfolgen. Diese Form wird
als vertikale Priorisierung bezeichnet. Werden verschiedene Krankheitsgruppen
oder Versorgungsziele in einen Kontext gestellt, spricht man von horizontaler Priorisierung.
Diese differenzierte Betrachtung,
meine Damen und Herren, muss man kennen, wenn man über Priorisierung spricht.
Sonst redet man zu schnell nicht von Priorisierung, sondern man betreibt
Polemisierung. Das habe ich diese Woche erlebt.
Wie Priorisierung aussehen kann,
zeigt das schwedische Beispiel. Dort hat der Reichstag nach 15 Jahren
Diskussion vier Priorisierungsgruppen verabschiedet, nämlich
1.
die Versorgung lebensbedrohlicher akuter
Krankheiten und solcher, die ohne Behandlung zu dauerhafter Invalidität führen,
sowie die palliativmedizinische Versorgung
2.
Prävention und Rehabilitation
3.
die Versorgung weniger schwerer akuter und
chronischer Erkrankungen
4.
die Versorgung aus anderen Gründen als Krankheit
oder Schaden.
Wichtig scheint mir dabei auch der
Hinweis, dass sich die Schweden für Priorisierung entschieden haben, obwohl sie
ungefähr 9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Gesundheitsversorgung
ausgeben.
Meine Damen und Herren, wir hier in
Deutschland geben nur etwa 6, vielleicht 6,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
für die gesetzliche Krankenversicherung aus. Das ist ein Vergleichsmaßstab, der
mehr stimmt als die 11 Prozent, wobei viele Leistungen inkludiert sind, die es
in anderen Ländern gar nicht gibt. Die 6 Prozent für 92 Prozent der
Bevölkerung – 70 Millionen Menschen – müssen in Vergleich gesetzt werden mit
den 8, 9, 9,5 Prozent, die in den skandinavischen Ländern, in Großbritannien
oder den Niederlanden ausgegeben werden. Wir müssen mit weniger
auskommen und sollen dasselbe leisten. Das ist der Punkt.
(Beifall)
Wir sollen also das unbegrenzte
Leistungsversprechen der Politik mit diesem Geld tagtäglich erfüllen – und das
geht nicht mehr.
(Beifall)
Diesen zerstörerischen Widerspruch
zwischen Anspruch und Wirklichkeit halten wir in der täglichen Praxis nicht
länger aus – und mittlerweile sind die Laune und die Stimmung auch so: Wir
wollen ihn nicht mehr aushalten!
(Beifall)
Priorisierung kann dazu beitragen,
die knappen Mittel nach gesellschaftlich konsentierten Kriterien möglichst
gerecht zu verteilen. Deshalb fordern wir die Errichtung eines Gesundheitsrats – dann können andere Räte
weitgehend verschwinden –, in dem Ärztinnen und Ärzte gemeinsam mit
Ethikern, Juristen, Gesundheitsökonomen, Philosophen, Theologen, Sozialwissenschaftlern
und vor allem auch Patientenvertretern Empfehlungen für die Politik entwickeln,
wie es zu einer gerechteren Verteilung der knappen Mittel kommen kann.
Wir können helfen, vernünftige
Entscheidungen vorzubereiten, die Letztverantwortung liegt aber nun einmal bei
der Politik. Das heißt nicht, dass wir Ärztinnen und Ärzte Verantwortung
abgeben; wir haben ja die Verantwortung für jeden einzelnen konkreten
Behandlungsfall. Und deshalb ist es genauso unabdingbar, dass für die einzelne
Ärztin und den einzelnen Arzt im begründeten Einzelfall eine abweichende
Therapiemaßnahme nach wie vor möglich bleiben muss.
Es liegt in der Natur des
Arztberufs als freier Beruf, dass er seine Patienten bestmöglich behandeln
möchte. Darauf vertrauen die Patienten und diesem Vertrauen wollen Ärztinnen
und Ärzte gerecht werden. Das ist
unser berufliches Ethos, das ist
unsere Selbstverpflichtung als freier Beruf, so wie es Professor Bialas eben
gesagt hat.
Deshalb auch legen wir großen Wert
darauf, dass die professionelle Autonomie, diese Weisungsunabhängigkeit in
medizinisch-fachlichen Fragen erhalten bleibt. Die Freiberuflichkeit des Arztes
– das muss ich noch einmal ganz deutlich sagen – ist nicht gebunden an die Form
des Arbeitsverhältnisses. Sie besteht an sich.
(Beifall)
Und
deshalb wenden wir uns auch vehement gegen jeglichen Ansatz, Ärztinnen und
Ärzte als Dienstleister in einem industrialisierten Medizinbetrieb zu
definieren.
(Beifall)
Diese persönliche
Verantwortlichkeit von Ärztinnen und Ärzten ist untrennbar mit der persönlichen
Leistungserbringung verbunden. Freiheit und Verantwortung, meine Damen und
Herren, sind das Fundament der Vertrauensbeziehung zwischen Patient und Arzt
und damit auch zwischen Gesellschaft und Ärzteschaft.
Meine Damen und Herren, die
Freiheit der Berufsausübung ist natürlich nicht grenzenlos. Es gibt klare
Regeln, die wir uns gemeinsam gegeben haben, und es gibt Grundsätze ärztlichen
Handelns, die keiner weiteren Festlegung bedürfen, weil sie seit Hippokrates
zum Ethos des Berufs gehören.
Wir Ärztinnen und Ärzte sind dem
Leben verpflichtet, wir wollen Krankheiten heilen, Schmerzen lindern und den
Menschen in ihrer ganz individuellen, in ihrer persönlichen Not beistehen, so
gut es geht. Zum Leben gehört aber auch das Sterben. Unsere Aufgabe ist es,
dann nicht nur Trost zu spenden, sondern mit den Mitteln der modernen
Palliativmedizin die Lebensqualität unheilbar kranker Menschen bis zuletzt zu
erhalten.
Deshalb auch wenden wir uns mit
aller Deutlichkeit gegen Überlegungen, die ärztliche Hilfe zum Sterben
salonfähig zu machen.
(Beifall)
Da spielt es auch keine Rolle, ob
die Möglichkeit eines assistierten Suizids nach geltendem Recht straffrei
bleibt, denn jeder Suizidversuch, jeder Wunsch nach einem Suizid ist immer auch
ein Hilfeschrei.
Nur extrem selten ist doch der
Suizid eines Menschen wirklich frei verantwortlich. Weit mehr als 90 Prozent
aller Suizide sind durch Depressionen verursacht, bedingt durch schwere
Erkrankungen mit hohem Leidensdruck und oft auch mit wirtschaftlichen
Belastungen und mit sozialer Einsamkeit, also auch mit Missverstandenheit.
Diese Menschen brauchen ärztlich-psychotherapeutische Hilfe und sie brauchen
menschliche Nähe.
Da wirkt der 66. Deutsche
Juristentag mit seiner Positionierung, ich möchte mal sagen, sehr distanziert,
wenn er fordert, dass die Mitwirkung eines Arztes an einem Suizid eines
unheilbar Kranken eine nicht nur strafrechtlich zulässige, sondern sogar als
ethisch vertretbare Form der Sterbebegleitung zu tolerieren sei.
Meine Damen und Herren, dieser Weg
zerstört nicht nur unser Arztbild als Heiler, Helfer und Tröster – dieser Weg
muss das Vertrauen der Patientinnen und Patienten und der Bevölkerung in die
Ärzteschaft zerstören.
(Beifall)
Wir
aber wollen eine gänzlich andere Richtung, wir wollen die gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen für die Betreuung Schwerstkranker und Sterbender verbessert
wissen. Und dazu brauchen wir mehr Palliativmedizin und endlich eine
ausreichende Zahl von ambulanten und stationären Palliativdiensten. Dass sich
die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag da bereits angestrengt haben,
erkennen wir hoch an. Hier ist weiterer Handlungsbedarf und nicht etwa in einer
zweifelhaften Interpretation des Strafgesetzbuchs.
Wir Ärztinnen und Ärzte wollen
keine Sterbegehilfen sein, auch wenn uns so mancher Rechtsgelehrter diese Rolle
gerne zuschreiben möchte. Es widerspricht zutiefst Geist und Inhalt unseres
ärztlichen Auftrags. Um es klar und deutlich zu sagen: Assistierter Suizid ist
keine ärztliche Aufgabe und darf es auch niemals werden, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
(Beifall)
Wir wollen heilen und helfen. Und
deshalb setzen wir uns für unsere Patienten ein, auch und gerade für
diejenigen, die dauerhaft oder über einen langen Zeitraum auf ärztliche Hilfe
angewiesen sind und besonders unter der verdeckten Rationierung zu leiden
haben. Das sind Menschen, die häufig alleingelassen sind, die sich nicht wehren
können, die auch stigmatisiert werden, wie beispielsweise psychisch Kranke.
Gerade deshalb müssen wir uns um diese Menschen kümmern und sie unterstützen.
Doch mit der jetzigen Unterfinanzierung und dem damit einhergehenden
Bettenabbau in der stationären Psychiatrie hat sich ihre Situation erheblich
verschlechtert. Ähnlich verhält es sich bei der Betreuung Demenzkranker. Die
derzeitige Finanzierung stationärer Pflegeeinrichtungen ermöglicht nur ein, wie
man so furchtbar sagt, „satt, still, sauber“. Von dem Ziel, Demenzkranken
möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben in unserer Gesellschaft zu
ermöglichen, sind wir zu weit entfernt.
Auch in den Pflegeheimen ist die
medizinische Versorgung nicht mehr ausreichend gewährleistet. Der
Rettungsdienst wird abgebaut, die Arzneimittelversorgung qualitativ
herabgestuft.
Die flächendeckende, wohnortnahe
Versorgung wird ebenfalls weiter zurückgefahren. Die Zahl der Krankenhäuser
wird um mindestens 20 Prozent abnehmen – so die Prognosen –, und das bei einer
Gesellschaft mit zunehmender Immobilität. Selbst bei den noch verbleibenden
Krankenhäusern wird dann auch noch die Zahl der Intensivbetten gekürzt. Wir haben
eine zunehmende Leistungsverdichtung, aber die absolute Zahl der Arzt- und
Pflegestunden nimmt kontinuierlich ab. In der Pflege gingen in den vergangenen
zehn Jahren etwa 50 000 Stellen verloren. Diesen Aderlass wird man auch
mit dem aktuellen Pflegeförderprogramm nicht kompensieren können.
Nach einer Umfrage des Deutschen
Krankenhausinstituts haben inzwischen zwei Drittel der Kliniken erhebliche
Probleme, Stellen zu besetzen. Bundesweit gibt es schon jetzt über 4 000
vakante Arztstellen in den Krankenhäusern.
Das sind nur einige Beispiele
heimlicher Rationierung in Deutschland. Viele von Ihnen hier im Saal werden –
da bin ich ganz sicher – aus eigener Erfahrung weitere Beispiele hinzufügen
können.
Mangelversorgung ist in Deutschland
leider Realität. Nun müssen wir es endlich schaffen, dass sich Politik und
Gesellschaft mit diesem Thema auch ernsthaft auseinandersetzen.
Die Patientinnen und Patienten, die
unter Rationierung leiden, haben es einfach verdient, dass wir sie wieder in
die Mitte der Gesellschaft nehmen.
Hier und heute möchte ich die
Situation einer Patientengruppe hervorheben, von deren Schicksal die
Öffentlichkeit nur selten Kenntnis nimmt. Ich meine die Versorgung erwachsener
Menschen mit Behinderung. Ich freue mich über das, was Sie gesagt haben, Herr
Staatssekretär.
In Deutschland lebt
rund eine halbe Million Menschen mit geistiger oder mehrfach körperlicher
Behinderung. Diese Menschen haben aufgrund von Begleiterkrankungen einen
erhöhten Bedarf an gesundheitlicher Versorgung. Unser Gesundheitssystem aber
ist weder strukturell noch organisatorisch auf die Versorgung dieser Menschen
eingerichtet. Für den behinderungsbedingten Mehrbedarf gibt es einfach keine
ausreichenden finanziellen Mittel.
Zwar gibt es für behinderte Kinder
und Jugendliche vielerorts spezialisierte Angebote – auch dank Professor
Hellbrügge –, aber wenn diese Patientinnen und Patienten das Erwachsenenalter
erreichen, bricht die Versorgung ab. Dann gibt es nur noch wenige
spezialisierte Gesundheitsdienste in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Aber
selbst da fehlen häufig die finanziellen Mittel, um die Kosten zu decken. Viele
dieser erwachsenen Menschen mit Behinderungen sind oft auch auf
Sozialhilfeleistungen angewiesen, die es ihnen kaum erlauben, sich in einem
größeren Umfang auf eigene Kosten notwendige gesundheitliche Leistungen zu
beschaffen, darüber hinausgehende Wünsche gar nicht erwähnt.
Meine Damen und Herren, jeder
Mensch, ob mit oder ohne Behinderung, hat – auch ich zitiere diesen Satz –
Anspruch auf eine bedarfsgerechte Versorgung. Und deshalb müssen die
Versorgungsstrukturen dem besonderen Bedarf von Menschen mit Behinderung
angepasst und nicht etwa abgesenkt werden wie jüngst bei der Vergütung von
Narkosen in der zahnärztlichen Behandlung. Viele der Menschen mit Behinderungen
aber können ohne Narkose nicht behandelt werden. Die gesundheitlichen Folgen
dieser Nichtbehandlung reichen von Kieferknochenerkrankungen bis hin zu
Einschränkungen des Immunsystems.
Das, liebe Kolleginnen und
Kollegen, passiert, wenn nicht die individuellen Bedürfnisse von Patientinnen
und Patienten im Mittelpunkt stehen, sondern der primäre Akzent auf die
Finanzierbarkeit von Leistungen gelegt wird.
(Beifall)
Mit diesem Problem der
Unterversorgung müssen wir die Politik konfrontieren, und zwar alle politischen
Parteien. Was allerdings keinen Sinn macht, was geradezu kontraproduktiv für
unser gemeinsames Anliegen ist, das sind Aktionen zur Politisierung des
Wartezimmers gegen eine bestimmte Partei.
(Beifall)
Das stößt bei
den Patientinnen und Patienten ebenso auf Unverständnis wie die sogenannte
Vorkasse, die einige Ärzte erhoben haben. Das sind völlig deplatzierte Aktionen
übermotivierter Kolleginnen und Kollegen, die zu einem erheblichen
Vertrauensverlust führen können.
(Beifall)
Diese Aktionen sind aber auch
ein Symptom für die Stimmung in der Ärzteschaft insgesamt. Nie zuvor war der
Unmut über Gesundheitspolitik, nie zuvor die Demotivation unter den Ärztinnen
und Ärzten so groß wie heute. Und deshalb dürfen und müssen wir die
Patientinnen und Patienten sorgfältig darüber aufklären, was mit dem zur
Verfügung gestellten Geld noch geht und auf welche Behandlungsoptionen sie aus
Kostengründen verzichten müssen.
Wir sind in den letzten Wochen und
Monaten als Abzocker diffamiert und durch die öffentliche Arena getrieben
worden. Man hat die Öffentlichkeit glauben machen wollen, die
Honorarsteigerungen seien Boni für Ärzte und nicht eine Nachzahlung für in den
letzten zehn Jahren unentgeltlich geleistete Arbeit, wo es so was nicht gegeben
hat.
(Beifall)
Kein Wort auch dazu, dass die Ausgaben für die ambulante ärztliche Versorgung
heute nur noch 15 Prozent der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung
betragen und nicht mehr 22 Prozent wie noch vor etwa 20 Jahren.
(Beifall)
Man dreht uns also den Hahn zu und
macht uns für die Trockenheit verantwortlich.
(Beifall)
Aber das, meine
lieben Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, geht nicht – erst
recht nicht in Zeiten des Wahlkampfs. Seit Lahnstein 1992 haben wir in der
Gesundheitspolitik de facto eine Große Koalition gehabt, die bis heute trägt.
Es hat angefangen mit sektoraler Budgetierung, es ist weitergegangen mit
verdeckter Rationierung bis hin zur versorgungstechnischen Administrierung – um
es klar zu sagen: Wir sind auf dem Weg in die Staatsmedizin, die zelebriert
wird durch Rechtsverordnungen. Ich glaube, das müssen wir immer wiederholen.
(Beifall)
Und deshalb fordern wir in all
diesen Fragen einen grundlegenden Politikwechsel. Wir wollen keine
zentralstaatliche Einheitsversicherung, sondern ein freiheitliches
Gesundheitswesen.
(Beifall)
Wir wollen eine starke, bürgernahe
Selbstverwaltung und keine wöchentlichen Direktiven aus dem
Bundesgesundheitsministerium.
(Beifall)
Wir wollen
freiberufliche Ärztinnen und Ärzte sein, die nur ihrem Gewissen und ihren
Patientinnen und Patienten verpflichtet sind, und nicht als
Allokationsjongleure in einem Rationierungssystem herumturnen.
(Beifall)
Dazu, meine Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen, fordern wir klare Aussagen der Parteien. Wir wollen
endlich verbindliche Rahmenbedingungen für die Gestaltung unseres
Gesundheitswesens. Denn wir wollen irgendwann wieder einmal ehrlichen Herzens
sagen können: Die Versorgung ist sicher.
Vielen Dank.
(Langanhaltender
lebhafter Beifall – Die Anwesenden erheben sich)
– Danke sehr. Ich hatte mit
Problemen gerechnet wegen der Priorisierung.
Ich bin gerade darauf aufmerksam
gemacht worden, dass ich hier noch ankündigen muss, dass der 112. Deutsche
Ärztetag eröffnet ist.
(Heiterkeit)
Wir werden jetzt mit Unterstützung
durch das Luftwaffenmusikkorps die Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland
singen.
(Die Anwesenden singen die
Nationalhymne)
Prof. Dr. Frieder
Hessenauer, Präsident der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz: Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Im Nachgang zur Eröffnungsveranstaltung des 112.
Deutschen Ärztetages lädt Sie die Landesärztekammer sehr herzlich zu einem
typisch Mainzer Empfang im Vorraum ein. Ich wünsche Ihnen viel Freude.
(F. Spohr: Gruß an Kiel)
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