Eröffnungsveranstaltung

Dienstag, 19. Mai 2009, Vormittagssitzung

Prof. Dr. Dr. h. c.
Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen
Ärztetages und Präsident der Ärztekammer Nordrhein

Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages und Präsident der Ärztekammer Nordrhein: Sehr verehrte Frau Staatsministerin Dreyer! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages – auch Herr Dr. Koschorrek, der unter uns ist, soll erwähnt werden –! Sehr geehrter Herr Europaabgeordneter! Meine Damen und Herren Abgeordneten aus den Ländern! Herr Staatssekretär Dr. Schröder! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst vielen Dank, Frieder Hessenauer, für deine Begrüßung hier und den Einblick in die Mainzer Geschichte, der äußerst bildend war und den wir so schnell nicht vergessen werden. Für mich besonders interessant war die Interpretation der Zahl 11 in der Mainzer Fassenacht.

Wenn ich mit dieser Interpretation ein bisschen rheinabwärts ankomme, werden die mich wahrscheinlich aufzuklären versuchen oder mich vielleicht sogar therapeutisch zu beeinflussen versuchen, dass ich auf solche Ideen lieber verzichten soll.

(Heiterkeit)

Aber diese Interpretation ist so eindringlich und so logisch, dass ich sie sogar glaube.

(Heiterkeit)

Man muss sich einmal überlegen: Aus dieser Zeit ist ja nicht nur die Zahl 11 übrig geblieben, sondern auch die Kostüme. Die Kostüme der Funken in Köln und anderswo stammen alle aus der napoleonischen Zeit, von den Truppen, die damals hier im Lande waren.

Frau Ministerin Dreyer, ich möchte Sie sehr herzlich bitten, Herrn Ministerpräsident Kurt Beck noch einmal unseren Dank dafür auszusprechen, dass er trotz seiner wirklich schwierigen Situation zu uns gekommen ist. Er hatte ja ursprünglich abgesagt, dann hat er doch zugesagt. Darüber freuen wir uns ganz besonders, auch darüber, dass er so hohen Wert darauf gelegt hat, dass die Vertrauensbeziehungen zwischen den Patienten und der Ärzteschaft eine große Rolle spielen. Wir haben als Vorstand der Bundesärztekammer bereits ein Gespräch mit ihm gehabt. Wir wissen, dass er sehr gesprächsbereit ist und sehr gut zuhören kann.

Wenn ihm das Wort „Rationierung“ als furchtbar vorkommt: Das geht uns auch so.

(Beifall)

Aber wenn es sie gibt – darauf komme ich gleich zurück –, dann muss man dieses Wort auch gebrauchen. Deswegen müssen wir, glaube ich, noch viel diskutieren; das werden wir auch tun.

Herr Staatssekretär, vielen Dank dafür, dass Sie heute gekommen sind. Die Ministerin hat mich vorige Woche angerufen und mir ausführlich erklärt, warum sie doch bevorzugen muss, in Genf zu sein, weil sie gern mit den anderen Ministerinnen und Ministern aus den Ländern, die sie dort trifft, als Ministerin dort sein will. Sie hat gesagt, das ist einfach auch eine Demonstration, welche Bedeutung die Bundesrepublik Deutschland diesem Thema beimisst. Dafür müssen wir natürlich Verständnis haben.

Wenn Sie eben vom KV-System und seiner Bedeutung gesprochen haben, darf ich vielleicht erwähnen: Es hat am besten funktioniert, als es nur die Kollektivverträge gab, die zwischen dem KV-System und den Krankenkassen abgeschlossen wurden. Da gab es keine Probleme.

(Beifall)

Die heutige Koexistenz von Selektiv- und Kollektivverträgen bedeutet ja, dass das Aschenputtelprinzip gilt und die Kassenärztlichen Vereinigungen das aufputzen müssen, was übrig bleibt, wenn Selektivverträge nicht vorkommen. Wir empfinden das nicht so, dass das Ergänzungen sind, sondern das ist das Primäre. Das wird sich durchsetzen und die KV ist überall dort noch gefragt, wo Reste übrig geblieben sind. Diese Funktion wird sie, wie ich glaube, auf Dauer nicht am Leben erhalten können, auch nicht mit der Bedeutung am Leben erhalten können, wie sie sie in der Vergangenheit hatte. Da würde ich doch überlegen, ob man das nicht noch einmal hinterfragt, ob diese Entwicklung nicht doch eher schädlich ist.

(Beifall)

Der Deutsche Ärztetag beschäftigt sich fast nicht mit Honorierung, höchstens dann, wenn es um die Amtliche Gebührenordnung für Ärztinnen und Ärzte geht. Da haben wir ja mehrere Gespräche geführt und sind eigentlich vom Grundsatz her in Übereinstimmung. Insofern ist das, glaube ich, kein Thema, das uns entzweit. Die Frage ist nur, wie es dann irgendwann aussehen wird. Ansonsten sind für die Honorare die Kassenärztlichen Vereinigungen und – für die angestellten Ärztinnen und Ärzte – der Marburger Bund zuständig. Da mischen wir uns mit Absicht nicht hinein.

Ich darf an dieser Stelle offiziell sagen, dass wir uns über das Abstimmungsergebnis im Deutschen Bundestag zum Schwangerschaftskonfliktgesetz und der Änderung dieses Gesetzes freuen. Das haben wir lange gewünscht. Die Verhandlungen haben fünf Jahre gedauert. Sie sind zu einem guten Ergebnis geführt worden. Wir sind dankbar dafür, dass der Deutsche Bundestag so abgestimmt hat.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, manchmal schmerzt die Wahrheit, aber manchmal muss man auch den Mut haben, sie trotzdem auszusprechen. Ich weiß, dass ich mit meinen Ausführungen zur Priorisierung ein Tabu gebrochen habe – und zwar das Tabu, das unbegrenzte Leistungsversprechen der Politik nicht infrage zu stellen.

Aber, meine Damen und Herren, wenn wir nicht mehr die ausreichenden Mittel für die Versorgung der Patienten bekommen, wenn also der jetzige Mangel von der Politik zementiert wird, dann müssen wir einfach offen und ehrlich reden und zu gerechten Verteilungsmechanismen kommen.

Wir Ärztinnen und Ärzte in Deutschland – um das noch einmal ganz klar zu sagen – wollen keine Rationierung, keine Streichung von medizinischen Leistungen, aber wir wollen auch nicht weiter für den staatlich verordneten Mangel in den Praxen und in den Kliniken verantwortlich gemacht werden.

(Beifall)

Und deshalb habe ich das Thema jetzt ganz bewusst angesprochen. Ich will eine Diskussion provozieren, in der die Politik Farbe bekennen muss. Und ich will eine Diskussion in der gesamten Gesellschaft anstoßen, wie viel diese bereit ist, für Gesundheit auszugeben. Danach ist sie noch nie gefragt worden. Das ist ein wichtiger Punkt.

(Beifall)

Der eine oder andere mag sich noch an Minister Dr. Norbert Blüm erinnern, den quirligen Sozialminister unter Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, der vor über 20 Jahren im ganzen Land plakatieren ließ: „Die Rente ist sicher.“ Er hat es in Rüsselsheimer Sprache ausgedrückt; die klingt so ähnlich wie die Mainzer. Die Experten wussten schon damals, dass das ein unhaltbares Versprechen ist.

Aber die Öffentlichkeit ist lange genug so informiert und damit auch geblendet worden. Und wer sich heute wie damals Dr. Blüm hinstellt und behauptet, die umfassende Gesundheitsversorgung sei sicher, der sagt schlicht und einfach nicht die Wahrheit.

(Beifall)

Damit will ich nicht sagen, dass er lügt; das ist etwas anderes.

Mit den Mitteln, die uns heute zur Verfügung stehen, werden wir den medizinischen Fortschritt zukünftig nicht mehr in den Praxen und Kliniken abbilden können – erst recht nicht in einer Gesellschaft des langen Lebens.

Darüber müssen wir jetzt reden und nicht erst in 20 Jahren. Das ist es, was ich fordere, wenn ich von Priorisierung rede: den Mut, unbequeme Wahrheiten offen zu diskutieren.

Und das ist es, was ich auch von der Politik erwarte: Sagen Sie unseren lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Wahrheit, übernehmen Sie endlich Verantwortung und lassen Sie uns Ärztinnen und Ärzte, die ja mit dem Thema tagtäglich konfrontiert werden, nicht im Regen stehen!

(Beifall)

Der richtige Umgang mit der Mittelknappheit wird zweifellos eine der wichtigsten Herausforderungen für unser Gesundheitswesen in den nächsten Jahren sein.

Wenn die Mangelverwaltung zum Dauerzustand wird, müssen wir uns mit der Priorisierung auseinandersetzen, auch wenn wir wissen, dass der Diskussionsprozess bis zur wirklichen gesellschaftlich akzeptierten Erkenntnis oftmals ein sehr schmerzhafter ist. Denn die Prozeduren und Reflexe bei der Behandlung eines solchen schwerwiegenden Problems sind ja immer die gleichen:

Zunächst gibt es ein sogenanntes gefühltes Problem. Bei unklarer Analyse nimmt man zumindest schon mal die Symptome zur Kenntnis. Das ist für mich das erste Talkshow-Stadium – und das haben wir schon hinter uns.

(Vereinzelt Beifall)

Dann wird das Problem von der wissenschaftlichen Community aufgegriffen. Ich habe hier ein Heft, das unlängst erschienen ist und hervorragend zusammenfasst, was in den letzten Monaten und auch schon Jahren an Ideen entwickelt worden ist, um mit der Mittelknappheit fertig zu werden. Das Thema der Priorisierung spielt dabei eine besondere Rolle. Das ganze Heft beschäftigt sich nur mit diesem Thema. Das ist höchst lesenswert. Wir fangen also nicht bei null an, sondern wir haben bereits erhebliche Vorlagen.

Das Problem wird, wie gesagt, von der wissenschaftlichen Community aufgegriffen. Es werden allfällige, durchaus auch interessengesteuerte Kongresse veranstaltet, wie das auch nach dem Ulmer Ärztetag der Fall war. Ich bin zu vielen Kongressen eingeladen worden, um zu dem Thema der Rationierung Stellung zu nehmen. Es werden dann in der Regel erste Therapievorschläge entwickelt. Spätestens dann beginnt das zweite Talkshow-Stadium, die Phase der öffentlichen Empörung und der politischen Reflexe. In diesem Stadium befinden wir uns derzeit.

Meine Absicht war es, dieses zweite Stadium in Sachen Priorisierung schon vor Beginn dieses 112. Deutschen Ärztetages zu erreichen. Ich denke, dieses Ziel kann man als erreicht ansehen.

(Beifall)

Erst nach diesem zweiten Stadium setzt eine mehr oder weniger offene Diskussion über die Problembewältigung ein. Dann kommt es zu wissenschaftlicher Arbeit, zu fundierter Analyse und zu möglichen Optionen. Und dann erst, ganz am Ende des Prozesses, gibt es manchmal die Bereitschaft der Politik, dieses Thema aufzugreifen und Therapieoptionen in Augenschein zu nehmen und möglicherweise sogar zu realisieren.

Sie sehen, meine Damen und Herren: Wir haben einen langen Weg vor uns, aber ein erster Schritt ist getan!

Aber was versteht man nun genau unter Priorisierung und was würde sie für das Gesundheitswesen in Deutschland bedeuten?

Im Prinzip bedeutet Priorisierung, dass ärztliches Handeln in Diagnostik und Therapie im Rahmen der zur Verfügung stehenden Leistungsmöglichkeiten eine Auswahl trifft, welche Therapiemöglichkeiten für welche Patientinnen und Patienten in Zukunft zur Verfügung stehen und worauf unter Umständen verzichtet werden muss. Eine Teilmenge bewältigt ja auch der Gemeinsame Bundesausschuss.

Unter Priorisierung versteht man die ausdrückliche Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter Indikationen, Patientengruppen oder Verfahren vor anderen. Dabei entsteht eine mehrstufige Rangreihe, in der nicht nur Methoden, sondern auch Krankheitsfälle, Kranken- und Krankheitsgruppen, Versorgungsziele und vor allem Indikationen in einer Rangfolge angeordnet werden.

Am Ende dieser Rangreihe finden sich dann solche Verfahren wieder, die keine messbar nachweisbare Wirkung mehr haben. Die Rangfolge kann innerhalb eines bestimmten Versorgungsbereichs, etwa im Hinblick auf die Versorgung von Herzerkrankungen, erfolgen. Diese Form wird als vertikale Priorisierung bezeichnet. Werden verschiedene Krankheitsgruppen oder Versorgungsziele in einen Kontext gestellt, spricht man von horizontaler Priorisierung.

Diese differenzierte Betrachtung, meine Damen und Herren, muss man kennen, wenn man über Priorisierung spricht. Sonst redet man zu schnell nicht von Priorisierung, sondern man betreibt Polemisierung. Das habe ich diese Woche erlebt.

Wie Priorisierung aussehen kann, zeigt das schwedische Beispiel. Dort hat der Reichstag nach 15 Jahren Diskussion vier Priorisierungsgruppen verabschiedet, nämlich

1.             die Versorgung lebensbedrohlicher akuter Krankheiten und solcher, die ohne Behandlung zu dauerhafter Invalidität führen, sowie die palliativmedizinische Versorgung

2.             Prävention und Rehabilitation

3.             die Versorgung weniger schwerer akuter und chronischer Erkrankungen

4.             die Versorgung aus anderen Gründen als Krankheit oder Schaden.

Wichtig scheint mir dabei auch der Hinweis, dass sich die Schweden für Priorisierung entschieden haben, obwohl sie ungefähr 9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Gesundheitsversorgung ausgeben.

Meine Damen und Herren, wir hier in Deutschland geben nur etwa 6, vielleicht 6,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die gesetzliche Krankenversicherung aus. Das ist ein Vergleichsmaßstab, der mehr stimmt als die 11 Prozent, wobei viele Leistungen inkludiert sind, die es in anderen Ländern gar nicht gibt. Die 6 Prozent für 92 Prozent der Bevölkerung – 70 Millionen Menschen – müssen in Vergleich gesetzt werden mit den 8, 9, 9,5 Prozent, die in den skandinavischen Ländern, in Großbritannien oder den Niederlanden ausgegeben werden. Wir müssen mit weniger auskommen und sollen dasselbe leisten. Das ist der Punkt.

(Beifall)

Wir sollen also das unbegrenzte Leistungsversprechen der Politik mit diesem Geld tagtäglich erfüllen – und das geht nicht mehr.

(Beifall)

Diesen zerstörerischen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit halten wir in der täglichen Praxis nicht länger aus – und mittlerweile sind die Laune und die Stimmung auch so: Wir wollen ihn nicht mehr aushalten!

(Beifall)

Priorisierung kann dazu beitragen, die knappen Mittel nach gesellschaftlich konsentierten Kriterien möglichst gerecht zu verteilen. Deshalb fordern wir die Errichtung eines Gesundheitsrats – dann können andere Räte weitgehend verschwinden –, in dem Ärztinnen und Ärzte gemeinsam mit Ethikern, Juristen, Gesundheitsökonomen, Philosophen, Theologen, Sozialwissenschaftlern und vor allem auch Patientenvertretern Empfehlungen für die Politik entwickeln, wie es zu einer gerechteren Verteilung der knappen Mittel kommen kann.

Wir können helfen, vernünftige Entscheidungen vorzubereiten, die Letztverantwortung liegt aber nun einmal bei der Politik. Das heißt nicht, dass wir Ärztinnen und Ärzte Verantwortung abgeben; wir haben ja die Verantwortung für jeden einzelnen konkreten Behandlungsfall. Und deshalb ist es genauso unabdingbar, dass für die einzelne Ärztin und den einzelnen Arzt im begründeten Einzelfall eine abweichende Therapiemaßnahme nach wie vor möglich bleiben muss.

Es liegt in der Natur des Arztberufs als freier Beruf, dass er seine Patienten bestmöglich behandeln möchte. Darauf vertrauen die Patienten und diesem Vertrauen wollen Ärztinnen und Ärzte gerecht werden. Das ist unser berufliches Ethos, das ist unsere Selbstverpflichtung als freier Beruf, so wie es Professor Bialas eben gesagt hat.

Deshalb auch legen wir großen Wert darauf, dass die professionelle Autonomie, diese Weisungsunabhängigkeit in medizinisch-fachlichen Fragen erhalten bleibt. Die Freiberuflichkeit des Arztes – das muss ich noch einmal ganz deutlich sagen – ist nicht gebunden an die Form des Arbeitsverhältnisses. Sie besteht an sich.

(Beifall)

Und deshalb wenden wir uns auch vehement gegen jeglichen Ansatz, Ärztinnen und Ärzte als Dienstleister in einem industrialisierten Medizinbetrieb zu definieren.

(Beifall)

Diese persönliche Verantwortlichkeit von Ärztinnen und Ärzten ist untrennbar mit der persönlichen Leistungserbringung verbunden. Freiheit und Verantwortung, meine Damen und Herren, sind das Fundament der Vertrauensbeziehung zwischen Patient und Arzt und damit auch zwischen Gesellschaft und Ärzteschaft.

Meine Damen und Herren, die Freiheit der Berufsausübung ist natürlich nicht grenzenlos. Es gibt klare Regeln, die wir uns gemeinsam gegeben haben, und es gibt Grundsätze ärztlichen Handelns, die keiner weiteren Festlegung bedürfen, weil sie seit Hippokrates zum Ethos des Berufs gehören.

Wir Ärztinnen und Ärzte sind dem Leben verpflichtet, wir wollen Krankheiten heilen, Schmerzen lindern und den Menschen in ihrer ganz individuellen, in ihrer persönlichen Not beistehen, so gut es geht. Zum Leben gehört aber auch das Sterben. Unsere Aufgabe ist es, dann nicht nur Trost zu spenden, sondern mit den Mitteln der modernen Palliativmedizin die Lebensqualität unheilbar kranker Menschen bis zuletzt zu erhalten.

Deshalb auch wenden wir uns mit aller Deutlichkeit gegen Überlegungen, die ärztliche Hilfe zum Sterben salonfähig zu machen.

(Beifall)

Da spielt es auch keine Rolle, ob die Möglichkeit eines assistierten Suizids nach geltendem Recht straffrei bleibt, denn jeder Suizidversuch, jeder Wunsch nach einem Suizid ist immer auch ein Hilfeschrei.

Nur extrem selten ist doch der Suizid eines Menschen wirklich frei verantwortlich. Weit mehr als 90 Prozent aller Suizide sind durch Depressionen verursacht, bedingt durch schwere Erkrankungen mit hohem Leidensdruck und oft auch mit wirtschaftlichen Belastungen und mit sozialer Einsamkeit, also auch mit Missverstandenheit. Diese Menschen brauchen ärztlich-psychotherapeuti­sche Hilfe und sie brauchen menschliche Nähe.

Da wirkt der 66. Deutsche Juristentag mit seiner Positionierung, ich möchte mal sagen, sehr distanziert, wenn er fordert, dass die Mitwirkung eines Arztes an einem Suizid eines unheilbar Kranken eine nicht nur strafrechtlich zulässige, sondern sogar als ethisch vertretbare Form der Sterbebegleitung zu tolerieren sei.

Meine Damen und Herren, dieser Weg zerstört nicht nur unser Arztbild als Heiler, Helfer und Tröster – dieser Weg muss das Vertrauen der Patientinnen und Patienten und der Bevölkerung in die Ärzteschaft zerstören.

(Beifall)

Wir aber wollen eine gänzlich andere Richtung, wir wollen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Betreuung Schwerstkranker und Sterbender verbessert wissen. Und dazu brauchen wir mehr Palliativmedizin und endlich eine ausreichende Zahl von ambulanten und stationären Palliativdiensten. Dass sich die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag da bereits angestrengt haben, erkennen wir hoch an. Hier ist weiterer Handlungsbedarf und nicht etwa in einer zweifelhaften Interpretation des Strafgesetzbuchs.

Wir Ärztinnen und Ärzte wollen keine Sterbegehilfen sein, auch wenn uns so mancher Rechtsgelehrter diese Rolle gerne zuschreiben möchte. Es widerspricht zutiefst Geist und Inhalt unseres ärztlichen Auftrags. Um es klar und deutlich zu sagen: Assistierter Suizid ist keine ärztliche Aufgabe und darf es auch niemals werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall)

Wir wollen heilen und helfen. Und deshalb setzen wir uns für unsere Patienten ein, auch und gerade für diejenigen, die dauerhaft oder über einen langen Zeitraum auf ärztliche Hilfe angewiesen sind und besonders unter der verdeckten Rationierung zu leiden haben. Das sind Menschen, die häufig alleingelassen sind, die sich nicht wehren können, die auch stigmatisiert werden, wie beispielsweise psychisch Kranke. Gerade deshalb müssen wir uns um diese Menschen kümmern und sie unterstützen. Doch mit der jetzigen Unterfinanzierung und dem damit einhergehenden Bettenabbau in der stationären Psychiatrie hat sich ihre Situation erheblich verschlechtert. Ähnlich verhält es sich bei der Betreuung Demenzkranker. Die derzeitige Finanzierung stationärer Pflegeeinrichtungen ermöglicht nur ein, wie man so furchtbar sagt, „satt, still, sauber“. Von dem Ziel, Demenzkranken möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben in unserer Gesellschaft zu ermöglichen, sind wir zu weit entfernt.

Auch in den Pflegeheimen ist die medizinische Versorgung nicht mehr ausreichend gewährleistet. Der Rettungsdienst wird abgebaut, die Arzneimittelversorgung qualitativ herabgestuft.

Die flächendeckende, wohnortnahe Versorgung wird ebenfalls weiter zurückgefahren. Die Zahl der Krankenhäuser wird um mindestens 20 Prozent abnehmen – so die Prognosen –, und das bei einer Gesellschaft mit zunehmender Immobilität. Selbst bei den noch verbleibenden Krankenhäusern wird dann auch noch die Zahl der Intensivbetten gekürzt. Wir haben eine zunehmende Leistungsverdichtung, aber die absolute Zahl der Arzt- und Pflegestunden nimmt kontinuierlich ab. In der Pflege gingen in den vergangenen zehn Jahren etwa 50 000 Stellen verloren. Diesen Aderlass wird man auch mit dem aktuellen Pflegeförderprogramm nicht kompensieren können.

Nach einer Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts haben inzwischen zwei Drittel der Kliniken erhebliche Probleme, Stellen zu besetzen. Bundesweit gibt es schon jetzt über 4 000 vakante Arztstellen in den Krankenhäusern.

Das sind nur einige Beispiele heimlicher Rationierung in Deutschland. Viele von Ihnen hier im Saal werden – da bin ich ganz sicher – aus eigener Erfahrung weitere Beispiele hinzufügen können.

Mangelversorgung ist in Deutschland leider Realität. Nun müssen wir es endlich schaffen, dass sich Politik und Gesellschaft mit diesem Thema auch ernsthaft auseinandersetzen.

Die Patientinnen und Patienten, die unter Rationierung leiden, haben es einfach verdient, dass wir sie wieder in die Mitte der Gesellschaft nehmen.

Hier und heute möchte ich die Situation einer Patientengruppe hervorheben, von deren Schicksal die Öffentlichkeit nur selten Kenntnis nimmt. Ich meine die Versorgung erwachsener Menschen mit Behinderung. Ich freue mich über das, was Sie gesagt haben, Herr Staatssekretär.

In Deutschland lebt rund eine halbe Million Menschen mit geistiger oder mehrfach körperlicher Behinderung. Diese Menschen haben aufgrund von Begleiterkrankungen einen erhöhten Bedarf an gesundheitlicher Versorgung. Unser Gesundheitssystem aber ist weder strukturell noch organisatorisch auf die Versorgung dieser Menschen eingerichtet. Für den behinderungsbedingten Mehrbedarf gibt es einfach keine ausreichenden finanziellen Mittel.

Zwar gibt es für behinderte Kinder und Jugendliche vielerorts spezialisierte Angebote – auch dank Professor Hellbrügge –, aber wenn diese Patientinnen und Patienten das Erwachsenenalter erreichen, bricht die Versorgung ab. Dann gibt es nur noch wenige spezialisierte Gesundheitsdienste in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Aber selbst da fehlen häufig die finanziellen Mittel, um die Kosten zu decken. Viele dieser erwachsenen Menschen mit Behinderungen sind oft auch auf Sozialhilfeleistungen angewiesen, die es ihnen kaum erlauben, sich in einem größeren Umfang auf eigene Kosten notwendige gesundheitliche Leistungen zu beschaffen, darüber hinausgehende Wünsche gar nicht erwähnt.

Meine Damen und Herren, jeder Mensch, ob mit oder ohne Behinderung, hat – auch ich zitiere diesen Satz – Anspruch auf eine bedarfsgerechte Versorgung. Und deshalb müssen die Versorgungsstrukturen dem besonderen Bedarf von Menschen mit Behinderung angepasst und nicht etwa abgesenkt werden wie jüngst bei der Vergütung von Narkosen in der zahnärztlichen Behandlung. Viele der Menschen mit Behinderungen aber können ohne Narkose nicht behandelt werden. Die gesundheitlichen Folgen dieser Nichtbehandlung reichen von Kieferknochenerkrankungen bis hin zu Einschränkungen des Immunsystems.

Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, passiert, wenn nicht die individuellen Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten im Mittelpunkt stehen, sondern der primäre Akzent auf die Finanzierbarkeit von Leistungen gelegt wird.

(Beifall)

Mit diesem Problem der Unterversorgung müssen wir die Politik konfrontieren, und zwar alle politischen Parteien. Was allerdings keinen Sinn macht, was geradezu kontraproduktiv für unser gemeinsames Anliegen ist, das sind Aktionen zur Politisierung des Wartezimmers gegen eine bestimmte Partei.

(Beifall)

Das stößt bei den Patientinnen und Patienten ebenso auf Unverständnis wie die sogenannte Vorkasse, die einige Ärzte erhoben haben. Das sind völlig deplatzierte Aktionen übermotivierter Kolleginnen und Kollegen, die zu einem erheblichen Vertrauensverlust führen können.

(Beifall)

Diese Aktionen sind aber auch ein Symptom für die Stimmung in der Ärzteschaft insgesamt. Nie zuvor war der Unmut über Gesundheitspolitik, nie zuvor die Demotivation unter den Ärztinnen und Ärzten so groß wie heute. Und deshalb dürfen und müssen wir die Patientinnen und Patienten sorgfältig darüber aufklären, was mit dem zur Verfügung gestellten Geld noch geht und auf welche Behandlungsoptionen sie aus Kostengründen verzichten müssen.

Wir sind in den letzten Wochen und Monaten als Abzocker diffamiert und durch die öffentliche Arena getrieben worden. Man hat die Öffentlichkeit glauben machen wollen, die Honorarsteigerungen seien Boni für Ärzte und nicht eine Nachzahlung für in den letzten zehn Jahren unentgeltlich geleistete Arbeit, wo es so was nicht gegeben hat.

(Beifall)

Kein Wort auch dazu, dass die Ausgaben für die ambulante ärztliche Versorgung heute nur noch 15 Prozent der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung betragen und nicht mehr 22 Prozent wie noch vor etwa 20 Jahren.

(Beifall)

Man dreht uns also den Hahn zu und macht uns für die Trockenheit verantwortlich.

(Beifall)

Aber das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, geht nicht – erst recht nicht in Zeiten des Wahlkampfs. Seit Lahnstein 1992 haben wir in der Gesundheitspolitik de facto eine Große Koalition gehabt, die bis heute trägt. Es hat angefangen mit sektoraler Budgetierung, es ist weitergegangen mit verdeckter Rationierung bis hin zur versorgungstechnischen Administrierung – um es klar zu sagen: Wir sind auf dem Weg in die Staatsmedizin, die zelebriert wird durch Rechtsverordnungen. Ich glaube, das müssen wir immer wiederholen.

(Beifall)

Und deshalb fordern wir in all diesen Fragen einen grundlegenden Politikwechsel. Wir wollen keine zentralstaatliche Einheitsversicherung, sondern ein freiheitliches Gesundheitswesen.

(Beifall)

Wir wollen eine starke, bürgernahe Selbstverwaltung und keine wöchentlichen Direktiven aus dem Bundesgesundheitsministerium.

(Beifall)

Wir wollen freiberufliche Ärztinnen und Ärzte sein, die nur ihrem Gewissen und ihren Patientinnen und Patienten verpflichtet sind, und nicht als Allokationsjongleure in einem Rationierungssystem herumturnen.

(Beifall)

Dazu, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, fordern wir klare Aussagen der Parteien. Wir wollen endlich verbindliche Rahmenbedingungen für die Gestaltung unseres Gesundheitswesens. Denn wir wollen irgendwann wieder einmal ehrlichen Herzens sagen können: Die Versorgung ist sicher.

Vielen Dank.

(Langanhaltender lebhafter Beifall – Die Anwesenden erheben sich)

– Danke sehr. Ich hatte mit Problemen gerechnet wegen der Priorisierung.

Ich bin gerade darauf aufmerksam gemacht worden, dass ich hier noch ankündigen muss, dass der 112. Deutsche Ärztetag eröffnet ist.

(Heiterkeit)

Wir werden jetzt mit Unterstützung durch das Luftwaffenmusikkorps die Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland singen.

(Die Anwesenden singen die Nationalhymne)

Prof. Dr. Frieder Hessenauer, Präsident der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz: Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Nachgang zur Eröffnungsveranstaltung des 112. Deutschen Ärztetages lädt Sie die Landesärztekammer sehr herzlich zu einem typisch Mainzer Empfang im Vorraum ein. Ich wünsche Ihnen viel Freude.

(F. Spohr: Gruß an Kiel)

© Bundesärztekammer 2009