Prof.
Dr. Dr. h. c. Hoppe, Referent: Vielen Dank, Herr Dr. Montgomery,
für die Worterteilung. – Guten Morgen, meine Damen und Herren, auch noch einmal
von dieser Stelle aus! Von meinem Referat gibt es eine Langfassung, die Ihnen
auf die Plätze gelegt wird. Für diejenigen, die sich mit dem Thema intensiver beschäftigen
müssen, besteht die Möglichkeit, anhand dieser Langfassung tiefere Einblicke zu
gewinnen. Die Langfassung ist aber so umfangreich, dass es zu viel Zeit
bräuchte, um sie vorzutragen. Deswegen trage ich eine Kurzfassung vor.
Professor Katzenmeier aus dem Institut für Medizinrecht der Universität zu Köln
wird meine Ausführungen ergänzen. Es wird einen Übergang geben, der die beiden
Waggons sozusagen zu einem gemeinsamen Zug verbindet.
Ich glaube, dass wir anhand der
Medienresonanz auf den gestrigen Tag sehen können, dass die Öffentlichkeit,
auch die Medienöffentlichkeit, noch viele Informationen und viel
Hintergrundwissen braucht, bis richtig klar geworden ist, was in Deutschland
passiert.
(Beifall)
Das, was wir zur Kenntnis nehmen
konnten, war weitgehend durch ein Unverständnis geprägt. Ich glaube nicht, dass
nur Bösartigkeit eine Rolle spielt; vielleicht auch ein bisschen Bösartigkeit,
aber die Masse ist einfach durch Unverständnis geprägt. Hier gibt es noch eine
Riesenmenge Erklärungsbedarf. Wir wollen mit diesem Tagesordnungspunkt
beginnen, ihn zu befriedigen.
Meine Damen und Herren, in Band 16
der Brockhaus-Enzyklopädie von 1991 existiert das Wort „Patientenrechte“ nicht.
Aufgeführt ist das Wort „Patientenverfügung“ mit dem Hinweis darauf, dass die
Verbindlichkeit von solchen Verfügungen umstritten sei.
Mitte April dieses Jahres ergab die
Suche unter dem Begriff „Patientenrechte“ für Deutschland 53 000 Treffer
und die Nachforschung bei der freien Enzyklopädie Wikipedia ergab neben kurzen
definitorischen Hinweisen eine Fülle von Links zu diversen Fundstellen in
Deutschland, aber auch im Ausland.
Die Suche nach
Patientenrechte-Gesetzen weltweit erbrachte die ältesten derartigen Gesetze in
Ländern mit steuerfinanzierten Systemen, die aus dem Blickwinkel der
Bundesrepublik Deutschland seit Jahren, zum Teil seit Jahrzehnten als
unterfinanzierte Systeme gelten und deswegen als reguliert eingestuft wurden.
Eine besonders interessante Publikation fand sich während dieser Suche bei der
Verbraucherzentrale Deutschland mit dem Titel: „Elemente eines Patientenrechte-
und Informationsgesetzes (Behandlungsvertrag)“ – Eckpunkte und Textvorschlag
für einen Gesetzentwurf, erteilt im Auftrag des Verbraucherzentrale
Bundesverbands e. V. von Rechtsanwalt Marcus Lindemann aus Hamburg im Oktober
2005. Dieses 49 Druckseiten starke Werk sieht für die Bundesrepublik
Deutschland einen enormen Nachholbedarf für ein ausformuliertes Gesetz. Der
Autor erwähnt expressis verbis – ich darf zitieren –:
Rechtssystematisch ist daran
gedacht, im Bürgerlichen Gesetzbuch den Behandlungsvertrag ähnlich wie den
Reisevertrag zusammenhängend zu regeln.
Er weist außerdem darauf hin, dass
eine derartige gesetzliche Regelung sowohl im Interesse von Patientinnen und
Patienten als auch von Ärztinnen und Ärzten sei.
Der Weltärztebund hat bereits auf
seiner 34. Generalversammlung in Lissabon im Jahre 1981 eine Deklaration
verabschiedet mit dem Titel „Deklaration zu den Rechten des Patienten“, welche
1995 zum ersten Mal und 2005 zum zweiten Mal revidiert, in ihren Grundzügen
aber unverändert gelassen wurde. Ich darf Ihnen die wesentlichen Grundsätze
kurz darstellen:
1.
Das Recht auf qualitativ hochstehende ärztliche
Versorgung
2.
Recht auf freie Arztwahl
3.
Recht auf Selbstbestimmung
4.
Der nicht geschäftsfähige Patient
5.
Verfahren gegen den Willen des Patienten
6.
Das Recht auf Information
7.
Das Recht auf Vertraulichkeit
Wie gesagt: Das ist eine
Deklaration des Weltärztebunds – nicht der Weltgesundheitsorganisation, was ja
manche verwechseln – aus dem Jahre 1981.
In sämtlichen hier wenigstens als
Überschrift genannten Punkten stimmen Weltärztebund und wir Ärztinnen und Ärzte
in der Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen durch die Formulierungen in
unseren Berufsordnungen miteinander überein.
Mit diesen einführenden Bemerkungen
möchte ich darauf aufmerksam machen, dass die Ärzteschaft schon seit mehr als
einem Vierteljahrhundert das Thema der Patientenrechte diskutiert und dazu auch
Entschließungen gefasst hat, sich also keineswegs nur auf den Hippokratischen
Eid oder auf die Heilberufe- und Kammergesetze der Bundesländer zurückzieht.
Die Gesundheitsministerkonferenz
der Länder hat auf ihrer 72. Tagung im Jahre 1999 in Trier ebenfalls eine
Entschließung „Patientenrechte in Deutschland heute“ verfasst, in welcher umfassend
Patientenrechte niedergelegt sind, aber nicht daran gedacht ist, dass auch
Ärztinnen und Ärzte und die Angehörigen anderer Gesundheitsberufe Rechte
besitzen. Von Patientenpflichten ist überhaupt nicht die Rede.
Interessant ist nun, welche
konkreten Rechte auf qualifizierte Behandlung die für das Gesundheitswesen in
Deutschland zuständigen Ministerinnen und Minister sowie Senatorinnen und
Senatoren im Jahre 1999 beschlossen haben. Ich zitiere wörtlich:
Der Patient hat ein Recht auf
eine sichere, sorgfältige und qualifizierte Behandlung. Dies setzt voraus, dass
die Behandlung wissenschaftlich gesichert und/oder aufgrund praktischer
ärztlicher Erfahrung in der Ärzteschaft akzeptiert ist. Die Wirksamkeit der
Patientenbehandlung ist zu optimieren und ihre Risiken sind zu minimieren. Sind
in einer Praxis oder im Krankenhaus die erforderlichen organisatorischen,
personellen (z. B. Ausbildung des Personals, Spezialisierung) oder sachlichen
(z. B. medizinische Geräte, Hygienestandards) Voraussetzungen einer Behandlung
nicht oder nicht mehr gegeben, so ist der Patient unverzüglich an einen
geeigneten Arzt oder ein geeignetes Krankenhaus zu überweisen. Zumindest ist
der Patient über die Situation zu informieren. Eine Überweisung an einen
anderen Arzt oder ein anderes Krankenhaus ist dann notwendig, wenn der
erforderliche Standard nicht gewährleistet ist.
Diesen Text würde eine heute
stattfindende Gesundheitsministerkonferenz so wohl nicht mehr formulieren, weil
nach nunmehr zehn Jahren weiterer sogenannter Gesundheitspolitik – in
Wirklichkeit Krankenversicherungskostendämpfungspolitik oder
Beitragssatzstabilitätspolitik – diese Anforderungen in zahlreichen Fällen
nicht mehr gewährleistet sein dürften.
(Beifall)
Und damit komme ich zu der
eigentlichen Problematik der Patientenrechte, wie wir sie sehen, nämlich dem
Problem der angemessenen Patientenversorgung im Rahmen der gesetzlichen
Krankenversicherung und der mittelbaren Beeinflussung der Leistungserbringer,
Ärzte und Krankenhäuser, durch entsprechende sozialrechtliche Vorgaben.
Die seit Anfang dieses Jahrzehnts
mit dem Vorwurf, das deutsche Gesundheitswesen definiere sich im Wesentlichen
durch Unter-, Über- und Fehlversorgung, unverdrossen weiter ausgegebene Parole
der Ausschöpfung von Rationalisierungsreserven ist längst in eine heimliche,
verdeckte, verschwiegene Rationierung übergegangen, wobei genau die Merkmale
erfüllt werden, welche in der Erklärung der Gesundheitsminister 1999 aufgeführt
sind. Wir haben mittlerweile unzureichende Investitionen in moderner Medizintechnik,
Personalabbau sowie den Einsatz von überfordertem Personal, zunehmende
Wartezeiten und durch Kosteneinsparungen auch reduzierte Hygienequalität, um
nur einige Parameter zu erwähnen.
(Vereinzelt Beifall)
Diese Form der Rationierung wird
aber politisch nicht zur Kenntnis genommen, wird verschwiegen oder
verschleiert. Gesetzgeberische Rationierungsentscheidungen werden meist so
formuliert, dass die sich daraus ergebenden Probleme in die sogenannte
Mikroebene, also in die Patient-Arzt-Beziehung verlagert werden, damit die
betroffenen Kranken, aber auch die allgemeine Öffentlichkeit den Eindruck
gewinnen sollen, die Verantwortung für die Vorenthaltungen von Leistungen liege
bei den sogenannten Leistungserbringern, also auch in der Verantwortung von uns
Ärztinnen und Ärzten. Das war wohl gestern Abend in der Medienberichterstattung
nicht viel anders. Hieran müssen wir arbeiten. Das kann so nicht weitergehen.
(Beifall)
Diesen fundamentalen Wandel in der
Qualität in unserem Gesundheitswesen seit den frühen 90er-Jahren hat die
allgemeine Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Während in früheren
Zeiten der Staat im Wesentlichen Daseinsvorsorge getroffen hat und dafür stand,
dass eine ausreichende und flächendeckende ambulante Versorgung und stationäre
Krankenhausversorgung sichergestellt war, er sich aber aus Diagnostik- und
Therapieentscheidungen herausgehalten hat, sind jetzt die Wege geebnet für
genau die gegenläufigen Entwicklungen. Die in der medizinischen Wissenschaft
entwickelten Methoden, neues Wissen möglichst korrekt und rasch für alle
Ärztinnen und Ärzte in der Patientenversorgung verfügbar zu machen, eben die
Verwendung von evidenzbasierten Leitlinien, von sogenannten klinischen
Behandlungspfaden und anderen Formen der Standardisierung, werden jetzt
politisch missbraucht, um im Wesentlichen unter Kostengesichtspunkten
formulierte gesetzliche und untergesetzliche Vorschriften zu erlassen, die der
individuellen Patient-Arzt-Beziehung nur noch kleine Spielräume übriglassen.
Das ist das, was wir als
Listenmedizin anprangern, und nicht das, was gestern Abend in manchen Medien
unter „Listenmedizin“ verstanden worden ist. Hier haben wir offensichtlich
etwas gesendet, was in der Öffentlichkeit noch nicht verstanden worden ist.
Wichtig ist aber, was ankommt, nicht das, was gesendet wird. Wir müssen uns
also auch bei der Sendung noch einmal neu positionieren und die Form unserer
Sendungen überprüfen.
So bedeuten diagnosebezogene
Fallpauschalen nicht etwa nur eine bestimmte Geldmenge, sondern auch ein Leistungspaket,
welches vom Leistungserbringer zu liefern ist. Und Disease-Management-Programme
enthalten gleichfalls Vorschriften, welche Leistungen von Patienten und Arzt zu
erbringen sind.
Seit Jahren schon ist die sogenannte
Meso-Ebene, also die ehemalige gestaltende, heute Aufträge erledigende
Selbstverwaltung damit befasst, Nutzenbewertungen von diagnostischen und
therapeutischen Maßnahmen zu ermitteln. Seit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz
ist diese Aufgabe ausgeweitet; nunmehr müssen Kosten-Nutzen-Bewertungen
beschlossen werden, welche für die diagnostischen und therapeutischen
Entscheidungen von Ärztinnen und Ärzten eingreifende Bedeutung haben und dazu
beitragen, unseren Arztberuf zu deprofessionalisieren.
Der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem
macht darauf aufmerksam – ich zitiere ihn –:
Grundsätzlich ist eine
Kosten-Nutzen-Bewertung immer ein Instrument zur Rationierung, sonst würde man
nur den Nutzen bestimmen. Setzt man Kosten gegen den Nutzen, so ist bereits
dies ein Beleg für die Begrenztheit der einsetzbaren finanziellen Mittel.
Dem ist eigentlich nichts
hinzuzufügen.
Explizite, auch aktive oder offene
Rationierung ist in Deutschland nicht vermittelbar. Das wäre beispielsweise der
Beschluss: Ab 80 Jahren gibt es keine künstlichen Gelenke mehr. Sie wäre eine
öffentliche Nichtgewährung von Leistungen oder ein ebenfalls öffentlich
gemachter Leistungsausschluss aus dem Leistungskatalog unseres
Gesundheitssystems. Dies wünschen die Versicherten der gesetzlichen
Krankenversicherung nicht, wie erst jüngst bei einer Umfrage wieder ermittelt,
obwohl sie eine solche Entwicklung befürchten. Die Politik scheut die
Diskussion dieses Themas schon seit vielen Jahren. In diesem Wahljahr 2009 ist
da mit Sicherheit keine Änderung zu erwarten. Das erleben wir zurzeit ja auch.
Dabei ist der Staat verpflichtet,
diese Thematik offen anzusprechen. Schließlich bestimmt er mittlerweile allein
die Finanzausstattung unseres Systems der gesetzlichen Krankenversicherung und
er mischt sich durch diverse Rechtsverordnungen und Richtlinien massiv in die
individuelle Patient-Arzt-Beziehung ein. Er übernimmt somit Usancen, wie wir
sie eigentlich nur aus steuerfinanzierten Ländern kennen, die allerdings schon
seit geraumer Zeit wesentlich offener und ehrlicher mit der Thematik Rationierung
umgehen, siehe zum Beispiel Finnland, Schweden oder das Vereinigte Königreich.
Dankenswerterweise hat sich die bei
der Bundesärztekammer angesiedelte Zentrale Kommission zur Wahrung ethischer
Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission)
bereits im Oktober 2007 zu dem Gesamtkomplex Mittelknappheit im
Gesundheitswesen unter der Überschrift „Priorisierung medizinischer Leistungen
im System der gesetzlichen Krankenversicherung“ zu Wort gemeldet. Das war,
wohlgemerkt, im Jahre 2007. Das ist zwei Jahre alt. Im Jahre 2000 hat es schon
eine Vorgängeräußerung gegeben, die sich mit einem ähnlichen Thema
beschäftigte, die vielleicht den Ausdruck „Priorisierung“ nicht so stark in den
Vordergrund gestellt hat. Die ausführliche Stellungnahme ist im Internet unter
www.zentrale-ethikkommission.de abrufbar.
Generell versteht man unter Priorisierung
die ausdrückliche Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter Indikationen oder
Verfahren vor anderen. Das ist zitiert nach einer Publikation der Zentralen
Ethikkommission aus dem Jahre 2000. Dabei entsteht eine mehrstufige Rangreihe,
in der nicht nur Methoden, sondern auch Krankheitsfälle, Kranken- und
Krankheitsgruppen, Versorgungsziele und vor allem Indikationen, also
Verknüpfungen bestimmter gesundheitlicher Probleme, in einer Rangfolge
angeordnet werden können. In Schweden, wo man sich mit dem Thema Priorisierung
bereits seit 15 Jahren beschäftigt – ich sagte es gestern schon – und bereits
im Jahre 2004 eine entsprechende Anordnung verabschiedete, benutzt man zum
einen das Instrument der sogenannten vertikalen Priorisierung, was bedeutet,
dass bei bestimmten Krankheitsbildern Eingriffe und Maßnahmen sowie Prozeduren
auf dem Boden wissenschaftlicher Diskussionen eine Prioritätszahl von eins bis
zehn zugeordnet bekommen. Dann wird entschieden, welche dieser Prioritäten in
der Versorgungswirklichkeit ankommen. Das liegt beispielsweise auch an der
Finanzausstattung, ob nur die ersten drei oder alle zehn oder sieben.
Unter horizontaler Priorisierung wird
verstanden, dass verschiedene Krankheitsgruppen oder Versorgungsziele in einen
Zusammenhang gestellt und dann bewertet werden. Die erste Stufe zum Beispiel
würde bedeuten, dass Lebensschutz und Schutz vor schwerem Leid und vor
Schmerzen im Vordergrund stehen. Auf der zweiten Stufe wäre der Schutz vor dem
Ausfall oder der Beeinträchtigung wesentlicher Organe und Körperfunktionen und
auf der dritten Stufe der Schutz vor weniger schwerwiegender oder
vorübergehender Beeinträchtigung des Wohlbefindens platziert. Eine vierte
Stufe, die lediglich der Verbesserung und Stärkung der Körperfunktionen dienen
würde – gedacht ist beispielsweise an Fitness, allgemeines Wohlbefinden,
äußeres Erscheinungsbild –, wäre dann für die solidarisch finanzierte
Gemeinschaft nicht mehr leistungspflichtig.
Eine kurze rechtlich relevante
Zwischenbemerkung sei erlaubt: Der Abschluss des Behandlungsvertrags oder – im
Rahmen des Sachleistungsprinzips der gesetzlichen Krankenversicherung – das
Zustandekommen eines Behandlungsverhältnisses mit dem Vertragsarzt begründen
aufseiten des Patienten den Anspruch auf Behandlung nach dem Standard guter
ärztlicher Versorgung. Mit dem im Haftungsrecht vom Bundesgerichtshof
verwendeten Begriff „Standard guter ärztlicher Versorgung“ begegnet uns ein allgemeiner
Maßstab, der für die Entscheidung darüber zugrunde gelegt wird, ob der Arzt
oder die Ärztin im Einzelfall bei unangemessenem Ergebnis der Behandlung, also
in der Regel bei einem Gesundheitsschaden, die geschuldete erforderliche
Sorgfalt gewahrt hat.
Die Beschränkung der gesetzlichen
Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung im Krankheitsfall wirft
das Problem der Verknüpfung von ärztlich-medizinischem Heilauftrag und
Wirtschaftlichkeit auf. Der Heilauftrag wird nicht allein durch die vertraglich
und deliktisch geschuldete Sorgfalt bestimmt, sondern auch durch die
Gewissenhaftigkeitsnorm unserer Berufsordnungen.
Damit sind wir inmitten der
rechtlichen Problematik zwischen Haftungsrecht und Sozialrecht, nämlich der
Frage, ob und wie wir mit unseren Sorgfaltsanforderungen auf die staatlich
vorgegebenen Versorgungsgrenzen, also die beschränkten finanziellen Ressourcen,
reagieren sollen. Ich habe gestern gesagt: Es stehen nur 6 Prozent unseres
Bruttoinlandsprodukts für die Versorgung von 70 Millionen Bürgerinnen und
Bürgern bei uns zur Verfügung. Andere Länder haben 9 Prozent.
Es stellt sich deshalb die Frage,
wie versicherungsrechtliche – oder besser: leistungsrechtliche – Deckungslücken
das Verhalten von Ärztinnen und Ärzten beeinflussen.
Was Politik oft übersieht: Mit den
Sicherungen der Freiheit ärztlicher Berufsausübung, wie sie im Rahmen der
ärztlichen Berufsordnung gewährleistet ist, ist vorrangig dem Patientenschutz
gedient. Die in eigener Autonomie entwickelte Professionalität von Ärztinnen
und Ärzten enthält eine emanzipatorische Option zum Schutz der Patienten, sie
ist ein Garant der Patientenrechte.
Dem Arzt muss ein Freiraum zu einer gewissenhaften Entscheidung im
Einzelfall bleiben. Ein Zuviel an Reglementierung zerstört die Tatkraft und die
Initiative von Ärztinnen und Ärzten.
(Beifall)
Was wir nicht brauchen, ist eine
weitere Reglementierung des Patient-Arzt-Verhältnisses über eine sogenannte
Patientenrechte- oder gar fälschlicherweise so genannte
Patientenschutzgesetzgebung. Vor wem sollen die geschützt werden? Vor uns oder
vor der Politik oder vor wem? Sozialrechtlich ist bereits zu vieles
überreglementiert. Dies erzeugt, wie Sie auch an den politischen Begleitungen
der jüngsten Gesundheitsreform seitens der Ärzteschaft sehen können,
Frustration und im schlimmsten Falle Flucht aus dem Beruf.
Meine Damen und Herren,
Rationierung wird zunehmen. Wir sollten nicht verkennen, dass der durch die
politische Förderung von Selektivverträgen im GKV-System in Kauf genommene
Verlust an flächendeckender ambulanter Versorgung auch eine Rationierungsfalle
sein kann. Auch die neueren Instrumente des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes,
wie zum Beispiel Rabattverträge über Arzneimittel mit den rechtlichen Anreizen
zur Verordnung solcher rabattierter Arzneimittel oder die neu eingeführte
Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln mit der Möglichkeit des Ausschlusses
auch neu eingeführter Arzneimittel aus der Leistungspflicht der gesetzlichen
Krankenversicherung wie schließlich auch die neueren versicherungsrechtlichen
Instrumente von Wahltarifen ebenso wie der Basistarif in der privaten
Krankenversicherung, schränken die Deckungszusagen der
Gesundheitssicherungssysteme ein. Sie schaffen jedoch auch ein Dilemma, wenn
nicht sogar auch eine Aporie: Soll der Arzt einem Patienten, von dem er genau
weiß, dass er finanziell damit überfordert wäre, eine alternative, sogar
erwiesenermaßen bessere Therapie, zum Beispiel ein besonderes Arzneimittel,
empfehlen, wenn er damit zugleich in Kauf nehmen muss, dass der Patient sich in
seiner Krankheit schlecht behandelt sieht oder gar alleingelassen fühlt? Wir
brauchen also dringend Transparenz und eine öffentliche Diskussion, damit wir
in diesem medizinethischen Konflikt als Ärztinnen und Ärzte nicht aufgerieben
werden.
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit.
(Beifall)
Vizepräsident Dr.
Montgomery: Vielen Dank, Jörg, für dieses einführende Referat.
Meine Damen und Herren, wie richtig
und wichtig es ist, dass wir dieses Thema heute hier behandeln, belegt die
erste Reaktion unserer Ministerin, die ja gestern nicht anwesend sein konnte,
die dafür im ZDF gesagt hat, diese Debatte sei menschenverachtend, weil sie
nicht humanitären Ansprüchen genüge. Ich halte das für eine grandiose
dialektische Umkehrung der Tatsachen; denn wirklich menschenverachtend ist es
doch, durch eine schleichende Rationierung, durch Mittelentzug dieses Problem
im Vorzimmer der Ärzte und Krankenhäuser abzuladen. Das ist die wahre
Menschenverachtung!
(Lebhafter Beifall)
Ein gutes Beispiel für die
intellektuelle Stringenz der Ministerin ist der nächste Satz im Interview, in
dem sie für eine vernünftige Diskussion über eine Ressourcenverteilung im
Gesundheitswesen zum optimalen Nutzen kranker Menschen plädiert. Genau das
machen wir hier, meine sehr verehrten Damen und Herren! Deswegen ist es gut,
dass wir das heute hier behandeln.
(Beifall)
Aus rechtlicher Sicht hilft uns in
dieser Materie jetzt weiter Herr Professor Dr. iur. Katzenmeier. Sie haben das
Wort.
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