TOP II: Patientenrechte in Zeiten der Rationierung

Mittwoch, 20. Mai 2009, Vormittagssitzung

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe

Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe, Referent: Vielen Dank, Herr Dr. Montgomery, für die Worterteilung. – Guten Morgen, meine Damen und Herren, auch noch einmal von dieser Stelle aus! Von meinem Referat gibt es eine Langfassung, die Ihnen auf die Plätze gelegt wird. Für diejenigen, die sich mit dem Thema intensiver beschäftigen müssen, besteht die Möglichkeit, anhand dieser Langfassung tiefere Einblicke zu gewinnen. Die Langfassung ist aber so umfangreich, dass es zu viel Zeit bräuchte, um sie vorzutragen. Deswegen trage ich eine Kurzfassung vor. Professor Katzenmeier aus dem Institut für Medizinrecht der Universität zu Köln wird meine Ausführungen ergänzen. Es wird einen Übergang geben, der die beiden Waggons sozusagen zu einem gemeinsamen Zug verbindet.

Ich glaube, dass wir anhand der Medienresonanz auf den gestrigen Tag sehen können, dass die Öffentlichkeit, auch die Medienöffentlichkeit, noch viele Informationen und viel Hintergrundwissen braucht, bis richtig klar geworden ist, was in Deutschland passiert.

(Beifall)

Das, was wir zur Kenntnis nehmen konnten, war weitgehend durch ein Unverständnis geprägt. Ich glaube nicht, dass nur Bösartigkeit eine Rolle spielt; vielleicht auch ein bisschen Bösartigkeit, aber die Masse ist einfach durch Unverständnis geprägt. Hier gibt es noch eine Riesenmenge Erklärungsbedarf. Wir wollen mit diesem Tagesordnungspunkt beginnen, ihn zu befriedigen.

Meine Damen und Herren, in Band 16 der Brockhaus-Enzyklopädie von 1991 existiert das Wort „Patientenrechte“ nicht. Aufgeführt ist das Wort „Patientenverfügung“ mit dem Hinweis darauf, dass die Verbindlichkeit von solchen Verfügungen umstritten sei.

Mitte April dieses Jahres ergab die Suche unter dem Begriff „Patientenrechte“ für Deutschland 53 000 Treffer und die Nachforschung bei der freien Enzyklopädie Wikipedia ergab neben kurzen definitorischen Hinweisen eine Fülle von Links zu diversen Fundstellen in Deutschland, aber auch im Ausland.

Die Suche nach Patientenrechte-Gesetzen weltweit erbrachte die ältesten derartigen Gesetze in Ländern mit steuerfinanzierten Systemen, die aus dem Blickwinkel der Bundesrepublik Deutschland seit Jahren, zum Teil seit Jahrzehnten als unterfinanzierte Systeme gelten und deswegen als reguliert eingestuft wurden. Eine besonders interessante Publikation fand sich während dieser Suche bei der Verbraucherzentrale Deutschland mit dem Titel: „Elemente eines Patientenrechte- und Informationsgesetzes (Behandlungsvertrag)“ – Eckpunkte und Textvorschlag für einen Gesetzentwurf, erteilt im Auftrag des Verbraucherzentrale Bundesverbands e. V. von Rechtsanwalt Marcus Lindemann aus Hamburg im Oktober 2005. Dieses 49 Druckseiten starke Werk sieht für die Bundesrepublik Deutschland einen enormen Nachholbedarf für ein ausformuliertes Gesetz. Der Autor erwähnt expressis verbis – ich darf zitieren –:

Rechtssystematisch ist daran gedacht, im Bürgerlichen Gesetzbuch den Behandlungsvertrag ähnlich wie den Reisevertrag zusammenhängend zu regeln.

Er weist außerdem darauf hin, dass eine derartige gesetzliche Regelung sowohl im Interesse von Patientinnen und Patienten als auch von Ärztinnen und Ärzten sei.

Der Weltärztebund hat bereits auf seiner 34. Generalversammlung in Lissabon im Jahre 1981 eine Deklaration verabschiedet mit dem Titel „Deklaration zu den Rechten des Patienten“, welche 1995 zum ersten Mal und 2005 zum zweiten Mal revidiert, in ihren Grundzügen aber unverändert gelassen wurde. Ich darf Ihnen die wesentlichen Grundsätze kurz darstellen:

1.             Das Recht auf qualitativ hochstehende ärztliche Versorgung

2.             Recht auf freie Arztwahl

3.             Recht auf Selbstbestimmung

4.             Der nicht geschäftsfähige Patient

5.             Verfahren gegen den Willen des Patienten

6.             Das Recht auf Information

7.             Das Recht auf Vertraulichkeit

Wie gesagt: Das ist eine Deklaration des Weltärztebunds – nicht der Weltgesundheitsorganisation, was ja manche verwechseln – aus dem Jahre 1981.

In sämtlichen hier wenigstens als Überschrift genannten Punkten stimmen Weltärztebund und wir Ärztinnen und Ärzte in der Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen durch die Formulierungen in unseren Berufsordnungen miteinander überein.

Mit diesen einführenden Bemerkungen möchte ich darauf aufmerksam machen, dass die Ärzteschaft schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert das Thema der Patientenrechte diskutiert und dazu auch Entschließungen gefasst hat, sich also keineswegs nur auf den Hippokratischen Eid oder auf die Heilberufe- und Kammergesetze der Bundesländer zurückzieht.

Die Gesundheitsministerkonferenz der Länder hat auf ihrer 72. Tagung im Jahre 1999 in Trier ebenfalls eine Entschließung „Patientenrechte in Deutschland heute“ verfasst, in welcher umfassend Patientenrechte niedergelegt sind, aber nicht daran gedacht ist, dass auch Ärztinnen und Ärzte und die Angehörigen anderer Gesundheitsberufe Rechte besitzen. Von Patientenpflichten ist überhaupt nicht die Rede.

Interessant ist nun, welche konkreten Rechte auf qualifizierte Behandlung die für das Gesundheitswesen in Deutschland zuständigen Ministerinnen und Minister sowie Senatorinnen und Senatoren im Jahre 1999 beschlossen haben. Ich zitiere wörtlich:

Der Patient hat ein Recht auf eine sichere, sorgfältige und qualifizierte Behandlung. Dies setzt voraus, dass die Behandlung wissenschaftlich gesichert und/oder aufgrund praktischer ärztlicher Erfahrung in der Ärzteschaft akzeptiert ist. Die Wirksamkeit der Patientenbehandlung ist zu optimieren und ihre Risiken sind zu minimieren. Sind in einer Praxis oder im Krankenhaus die erforderlichen organisatorischen, personellen (z. B. Ausbildung des Personals, Spezialisierung) oder sachlichen (z. B. medizinische Geräte, Hygienestandards) Voraussetzungen einer Behandlung nicht oder nicht mehr gegeben, so ist der Patient unverzüglich an einen geeigneten Arzt oder ein geeignetes Krankenhaus zu überweisen. Zumindest ist der Patient über die Situation zu informieren. Eine Überweisung an einen anderen Arzt oder ein anderes Krankenhaus ist dann notwendig, wenn der erforderliche Standard nicht gewährleistet ist.

Diesen Text würde eine heute stattfindende Gesundheitsministerkonferenz so wohl nicht mehr formulieren, weil nach nunmehr zehn Jahren weiterer sogenannter Gesundheitspolitik – in Wirklichkeit Krankenversicherungskostendämpfungspolitik oder Beitragssatzstabilitätspolitik – diese Anforderungen in zahlreichen Fällen nicht mehr gewährleistet sein dürften.

(Beifall)

Und damit komme ich zu der eigentlichen Problematik der Patientenrechte, wie wir sie sehen, nämlich dem Problem der angemessenen Patientenversorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung und der mittelbaren Beeinflussung der Leistungserbringer, Ärzte und Krankenhäuser, durch entsprechende sozialrechtliche Vorgaben.

Die seit Anfang dieses Jahrzehnts mit dem Vorwurf, das deutsche Gesundheitswesen definiere sich im Wesentlichen durch Unter-, Über- und Fehlversorgung, unverdrossen weiter ausgegebene Parole der Ausschöpfung von Rationalisierungsreserven ist längst in eine heimliche, verdeckte, verschwiegene Rationierung übergegangen, wobei genau die Merkmale erfüllt werden, welche in der Erklärung der Gesundheitsminister 1999 aufgeführt sind. Wir haben mittlerweile unzureichende Investitionen in moderner Medizintechnik, Personalabbau sowie den Einsatz von überfordertem Personal, zunehmende Wartezeiten und durch Kosteneinsparungen auch reduzierte Hygienequalität, um nur einige Parameter zu erwähnen.

(Vereinzelt Beifall)

Diese Form der Rationierung wird aber politisch nicht zur Kenntnis genommen, wird verschwiegen oder verschleiert. Gesetzgeberische Rationierungsentscheidungen werden meist so formuliert, dass die sich daraus ergebenden Probleme in die sogenannte Mikroebene, also in die Patient-Arzt-Beziehung verlagert werden, damit die betroffenen Kranken, aber auch die allgemeine Öffentlichkeit den Eindruck gewinnen sollen, die Verantwortung für die Vorenthaltungen von Leistungen liege bei den sogenannten Leistungserbringern, also auch in der Verantwortung von uns Ärztinnen und Ärzten. Das war wohl gestern Abend in der Medienberichterstattung nicht viel anders. Hieran müssen wir arbeiten. Das kann so nicht weitergehen.

(Beifall)

Diesen fundamentalen Wandel in der Qualität in unserem Gesundheitswesen seit den frühen 90er-Jahren hat die allgemeine Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Während in früheren Zeiten der Staat im Wesentlichen Daseinsvorsorge getroffen hat und dafür stand, dass eine ausreichende und flächendeckende ambulante Versorgung und stationäre Krankenhausversorgung sichergestellt war, er sich aber aus Diagnostik- und Therapieentscheidungen herausgehalten hat, sind jetzt die Wege geebnet für genau die gegenläufigen Entwicklungen. Die in der medizinischen Wissenschaft entwickelten Methoden, neues Wissen möglichst korrekt und rasch für alle Ärztinnen und Ärzte in der Patientenversorgung verfügbar zu machen, eben die Verwendung von evidenzbasierten Leitlinien, von sogenannten klinischen Behandlungspfaden und anderen Formen der Standardisierung, werden jetzt politisch missbraucht, um im Wesentlichen unter Kostengesichtspunkten formulierte gesetzliche und untergesetzliche Vorschriften zu erlassen, die der individuellen Patient-Arzt-Beziehung nur noch kleine Spielräume übriglassen.

Das ist das, was wir als Listenmedizin anprangern, und nicht das, was gestern Abend in manchen Medien unter „Listenmedizin“ verstanden worden ist. Hier haben wir offensichtlich etwas gesendet, was in der Öffentlichkeit noch nicht verstanden worden ist. Wichtig ist aber, was ankommt, nicht das, was gesendet wird. Wir müssen uns also auch bei der Sendung noch einmal neu positionieren und die Form unserer Sendungen überprüfen.

So bedeuten diagnosebezogene Fallpauschalen nicht etwa nur eine bestimmte Geldmenge, sondern auch ein Leistungspaket, welches vom Leistungserbringer zu liefern ist. Und Disease-Management-Programme enthalten gleichfalls Vorschriften, welche Leistungen von Patienten und Arzt zu erbringen sind.

Seit Jahren schon ist die sogenannte Meso-Ebene, also die ehemalige gestaltende, heute Aufträge erledigende Selbstverwaltung damit befasst, Nutzenbewertungen von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen zu ermitteln. Seit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz ist diese Aufgabe ausgeweitet; nunmehr müssen Kosten-Nutzen-Bewertungen beschlossen werden, welche für die diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen von Ärztinnen und Ärzten eingreifende Bedeutung haben und dazu beitragen, unseren Arztberuf zu deprofessionalisieren.

Der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem macht darauf aufmerksam – ich zitiere ihn –:

Grundsätzlich ist eine Kosten-Nutzen-Bewertung immer ein Instrument zur Rationierung, sonst würde man nur den Nutzen bestimmen. Setzt man Kosten gegen den Nutzen, so ist bereits dies ein Beleg für die Begrenztheit der einsetzbaren finanziellen Mittel.

Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

Explizite, auch aktive oder offene Rationierung ist in Deutschland nicht vermittelbar. Das wäre beispielsweise der Beschluss: Ab 80 Jahren gibt es keine künstlichen Gelenke mehr. Sie wäre eine öffentliche Nichtgewährung von Leistungen oder ein ebenfalls öffentlich gemachter Leistungsausschluss aus dem Leistungskatalog unseres Gesundheitssystems. Dies wünschen die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht, wie erst jüngst bei einer Umfrage wieder ermittelt, obwohl sie eine solche Entwicklung befürchten. Die Politik scheut die Diskussion dieses Themas schon seit vielen Jahren. In diesem Wahljahr 2009 ist da mit Sicherheit keine Änderung zu erwarten. Das erleben wir zurzeit ja auch.

Dabei ist der Staat verpflichtet, diese Thematik offen anzusprechen. Schließlich bestimmt er mittlerweile allein die Finanzausstattung unseres Systems der gesetzlichen Krankenversicherung und er mischt sich durch diverse Rechtsverordnungen und Richtlinien massiv in die individuelle Patient-Arzt-Beziehung ein. Er übernimmt somit Usancen, wie wir sie eigentlich nur aus steuerfinanzierten Ländern kennen, die allerdings schon seit geraumer Zeit wesentlich offener und ehrlicher mit der Thematik Rationierung umgehen, siehe zum Beispiel Finnland, Schweden oder das Vereinigte Königreich.

Dankenswerterweise hat sich die bei der Bundesärztekammer angesiedelte Zentrale Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bereits im Oktober 2007 zu dem Gesamtkomplex Mittelknappheit im Gesundheitswesen unter der Überschrift „Priorisierung medizinischer Leistungen im System der gesetzlichen Krankenversicherung“ zu Wort gemeldet. Das war, wohlgemerkt, im Jahre 2007. Das ist zwei Jahre alt. Im Jahre 2000 hat es schon eine Vorgängeräußerung gegeben, die sich mit einem ähnlichen Thema beschäftigte, die vielleicht den Ausdruck „Priorisierung“ nicht so stark in den Vordergrund gestellt hat. Die ausführliche Stellungnahme ist im Internet unter www.zentrale-ethikkommission.de abrufbar.

Generell versteht man unter Priorisierung die ausdrückliche Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter Indikationen oder Verfahren vor anderen. Das ist zitiert nach einer Publikation der Zentralen Ethikkommission aus dem Jahre 2000. Dabei entsteht eine mehrstufige Rangreihe, in der nicht nur Methoden, sondern auch Krankheitsfälle, Kranken- und Krankheitsgruppen, Versorgungsziele und vor allem Indikationen, also Verknüpfungen bestimmter gesundheitlicher Probleme, in einer Rangfolge angeordnet werden können. In Schweden, wo man sich mit dem Thema Priorisierung bereits seit 15 Jahren beschäftigt – ich sagte es gestern schon – und bereits im Jahre 2004 eine entsprechende Anordnung verabschiedete, benutzt man zum einen das Instrument der sogenannten vertikalen Priorisierung, was bedeutet, dass bei bestimmten Krankheitsbildern Eingriffe und Maßnahmen sowie Prozeduren auf dem Boden wissenschaftlicher Diskussionen eine Prioritätszahl von eins bis zehn zugeordnet bekommen. Dann wird entschieden, welche dieser Prioritäten in der Versorgungswirklichkeit ankommen. Das liegt beispielsweise auch an der Finanzausstattung, ob nur die ersten drei oder alle zehn oder sieben.

Unter horizontaler Priorisierung wird verstanden, dass verschiedene Krankheitsgruppen oder Versorgungsziele in einen Zusammenhang gestellt und dann bewertet werden. Die erste Stufe zum Beispiel würde bedeuten, dass Lebensschutz und Schutz vor schwerem Leid und vor Schmerzen im Vordergrund stehen. Auf der zweiten Stufe wäre der Schutz vor dem Ausfall oder der Beeinträchtigung wesentlicher Organe und Körperfunktionen und auf der dritten Stufe der Schutz vor weniger schwerwiegender oder vorübergehender Beeinträchtigung des Wohlbefindens platziert. Eine vierte Stufe, die lediglich der Verbesserung und Stärkung der Körperfunktionen dienen würde – gedacht ist beispielsweise an Fitness, allgemeines Wohlbefinden, äußeres Erscheinungsbild –, wäre dann für die solidarisch finanzierte Gemeinschaft nicht mehr leistungspflichtig.

Eine kurze rechtlich relevante Zwischenbemerkung sei erlaubt: Der Abschluss des Behandlungsvertrags oder – im Rahmen des Sachleistungsprinzips der gesetzlichen Krankenversicherung – das Zustandekommen eines Behandlungsverhältnisses mit dem Vertragsarzt begründen aufseiten des Patienten den Anspruch auf Behandlung nach dem Standard guter ärztlicher Versorgung. Mit dem im Haftungsrecht vom Bundesgerichtshof verwendeten Begriff „Standard guter ärztlicher Versorgung“ begegnet uns ein allgemeiner Maßstab, der für die Entscheidung darüber zugrunde gelegt wird, ob der Arzt oder die Ärztin im Einzelfall bei unangemessenem Ergebnis der Behandlung, also in der Regel bei einem Gesundheitsschaden, die geschuldete erforderliche Sorgfalt gewahrt hat.

Die Beschränkung der gesetzlichen Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung im Krankheitsfall wirft das Problem der Verknüpfung von ärztlich-medizinischem Heilauftrag und Wirtschaftlichkeit auf. Der Heilauftrag wird nicht allein durch die vertraglich und deliktisch geschuldete Sorgfalt bestimmt, sondern auch durch die Gewissenhaftigkeitsnorm unserer Berufsordnungen.

Damit sind wir inmitten der rechtlichen Problematik zwischen Haftungsrecht und Sozialrecht, nämlich der Frage, ob und wie wir mit unseren Sorgfaltsanforderungen auf die staatlich vorgegebenen Versorgungsgrenzen, also die beschränkten finanziellen Ressourcen, reagieren sollen. Ich habe gestern gesagt: Es stehen nur 6 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für die Versorgung von 70 Millionen Bürgerinnen und Bürgern bei uns zur Verfügung. Andere Länder haben 9 Prozent.

Es stellt sich deshalb die Frage, wie versicherungsrechtliche – oder besser: leistungsrechtliche – Deckungslücken das Verhalten von Ärztinnen und Ärzten beeinflussen.

Was Politik oft übersieht: Mit den Sicherungen der Freiheit ärztlicher Berufsausübung, wie sie im Rahmen der ärztlichen Berufsordnung gewährleistet ist, ist vorrangig dem Patientenschutz gedient. Die in eigener Autonomie entwickelte Professionalität von Ärztinnen und Ärzten enthält eine emanzipatorische Option zum Schutz der Patienten, sie ist ein Garant der Patientenrechte.

Dem Arzt muss ein Freiraum zu einer gewissenhaften Entscheidung im Einzelfall bleiben. Ein Zuviel an Reglementierung zerstört die Tatkraft und die Initiative von Ärztinnen und Ärzten.

(Beifall)

Was wir nicht brauchen, ist eine weitere Reglementierung des Patient-Arzt-Verhältnisses über eine sogenannte Patientenrechte- oder gar fälschlicherweise so genannte Patientenschutzgesetzgebung. Vor wem sollen die geschützt werden? Vor uns oder vor der Politik oder vor wem? Sozialrechtlich ist bereits zu vieles überreglementiert. Dies erzeugt, wie Sie auch an den politischen Begleitungen der jüngsten Gesundheitsreform seitens der Ärzteschaft sehen können, Frustration und im schlimmsten Falle Flucht aus dem Beruf.

Meine Damen und Herren, Rationierung wird zunehmen. Wir sollten nicht verkennen, dass der durch die politische Förderung von Selektivverträgen im GKV-System in Kauf genommene Verlust an flächendeckender ambulanter Versorgung auch eine Rationierungsfalle sein kann. Auch die neueren Instrumente des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes, wie zum Beispiel Rabattverträge über Arzneimittel mit den rechtlichen Anreizen zur Verordnung solcher rabattierter Arzneimittel oder die neu eingeführte Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln mit der Möglichkeit des Ausschlusses auch neu eingeführter Arzneimittel aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung wie schließlich auch die neueren versicherungsrechtlichen Instrumente von Wahltarifen ebenso wie der Basistarif in der privaten Krankenversicherung, schränken die Deckungszusagen der Gesundheitssicherungssysteme ein. Sie schaffen jedoch auch ein Dilemma, wenn nicht sogar auch eine Aporie: Soll der Arzt einem Patienten, von dem er genau weiß, dass er finanziell damit überfordert wäre, eine alternative, sogar erwiesenermaßen bessere Therapie, zum Beispiel ein besonderes Arzneimittel, empfehlen, wenn er damit zugleich in Kauf nehmen muss, dass der Patient sich in seiner Krankheit schlecht behandelt sieht oder gar alleingelassen fühlt? Wir brauchen also dringend Transparenz und eine öffentliche Diskussion, damit wir in diesem medizinethischen Konflikt als Ärztinnen und Ärzte nicht aufgerieben werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall)

Vizepräsident Dr. Montgomery: Vielen Dank, Jörg, für dieses einführende Referat.

Meine Damen und Herren, wie richtig und wichtig es ist, dass wir dieses Thema heute hier behandeln, belegt die erste Reaktion unserer Ministerin, die ja gestern nicht anwesend sein konnte, die dafür im ZDF gesagt hat, diese Debatte sei menschenverachtend, weil sie nicht humanitären Ansprüchen genüge. Ich halte das für eine grandiose dialektische Umkehrung der Tatsachen; denn wirklich menschenverachtend ist es doch, durch eine schleichende Rationierung, durch Mittelentzug dieses Problem im Vorzimmer der Ärzte und Krankenhäuser abzuladen. Das ist die wahre Menschenverachtung!

(Lebhafter Beifall)

Ein gutes Beispiel für die intellektuelle Stringenz der Ministerin ist der nächste Satz im Interview, in dem sie für eine vernünftige Diskussion über eine Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen zum optimalen Nutzen kranker Menschen plädiert. Genau das machen wir hier, meine sehr verehrten Damen und Herren! Deswegen ist es gut, dass wir das heute hier behandeln.

(Beifall)

Aus rechtlicher Sicht hilft uns in dieser Materie jetzt weiter Herr Professor Dr. iur. Katzenmeier. Sie haben das Wort.

© Bundesärztekammer 2009