TOP II: Patientenrechte in Zeiten der Rationierung

Mittwoch, 20. Mai 2009, Vormittagssitzung

Prof. Dr. Katzenmeier, Referent

Prof. Dr. Katzenmeier, Referent: Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Haben Sie vielen Dank für die Einladung zu Ihnen nach Mainz. Es ist für einen Juristen eine besondere Ehre und eine Freude, auf dem Deutschen Ärztetag sprechen zu dürfen. Das Thema meines Vortrags ist freilich ein ernstes: Patientenrechte in Zeiten der Rationierung. Mein etwa 40-minütiger Vortrag schließt in vielem an Herrn Professor Hoppe an.

Er ist wie folgt gegliedert: Ich werde kurz etwas zum Stand der Patientenrechte und zu aktuellen Entwicklungen sagen, dann etwas zur Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen. Ausführlich will ich das Thema Kostendruck und Standard beleuchten. Dies scheint mir besonders wichtig, da Ärzte in ihrer täglichen Berufsausübung zunehmend belastet werden durch eine Divergenz zwischen dem sozialrechtlichen Wirtschaftlichkeitspostulat einerseits und haftungsrechtlichen Sorgfaltsanforderungen andererseits. Das Spannungsverhältnis wird aufzuzeigen sein.

Schließen werde ich mit einem Wort zur Rationierung und Priorisierung medizinischer Leistungen. Dabei maße ich mir als Jurist kein Urteil darüber an, wie die Ressourcen in unserem Gesundheitswesen am sinnvollsten einzusetzen sind. Ich beschränke mich darauf, Maßgaben und Grenzen des Rechts zu beleuchten.

Zunächst zu den Patientenrechten. Die Rechte des Patienten in der individuellen Beziehung zu seinem Arzt werden hierzulande allgemein als hochentwickelt anerkannt. Mehrere Untersuchungen jüngeren Datums gelangen zu dem Ergebnis, dass die Bundesrepublik „mit den bestehenden Patientenrechten mit erheblichem Vorsprung eine Spitzenstellung in den Ländern der Europäischen Union“ innehat – dies obwohl es in Deutschland keine speziellen Regelungen gibt. Die richterliche Spruchpraxis hat in den vergangenen Jahrzehnten ein effektives Patientenschutzrecht geschaffen, indem sie die vorhandenen, allgemeinen Rechtsgrundsätze interpretierte, modifizierte und entsprechend den jeweils vorherrschenden Anschauungen und sozialen Bedürfnissen in einem breiten Strom der Erkenntnisse beständig fortbildete.

Die wesentlichen Maßgaben ärztlicher Berufsausübung wurden unabhängig von der Gesetzgebung durch die Judikatur formuliert, so die Anforderungen an die Sorgfalt bei der Behandlung, die Pflicht zur Achtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten und daher angemessener Aufklärung vor dem Eingriff, die Pflicht zur Dokumentation sowie zur Einsichtsgewähr in die Krankenunterlagen. Die Gerichte anerkennen oder verneinen die Ersatzfähigkeit bestimmter Schäden und sie verteilen die Beweislast zwischen Arzt und Patient im Prozess auf durchaus eigenartige Weise.

Vornehmlich durch die Rechtsprechung des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs erfolgte eine bemerkenswerte sozialbereichsbezogene Ausdifferenzierung der allgemeinen Haftungsnormen. Festzustellen ist: Das Fehlen spezieller Regelungen bedeutet kein Defizit. Im Gegenteil erwiesen sich die allgemeinen Normen des Vertrags- und des Deliktrechts als valide und flexibel zugleich. Sie erlauben eine Fortschreibung der Arztpflichten und Patientenrechte entsprechend den Entwicklungen in der Medizin und den Anschauungen in der Gesellschaft.

Nun hat die Einsicht, dass gerade auch in der medizinischen Behandlungssituation der Wert eines Rechts maßgeblich von der Kenntnis der Beteiligten abhängt, international einen Trend zur Kodifikation von Patientenrechten ausgelöst. Zu verzeichnen ist eine Entwicklung, die abkehrt von der mittelbaren Begünstigung des Patienten über Pflichten Dritter und sich dem Auf- und Ausbau eigenständiger subjektiver Rechte zuwendet.

Hierzulande beschlossen die für das Gesundheitswesen zuständigen Minister und Senatoren der Länder auf ihrer 72. Konferenz im Juni 1999 einstimmig eine Deklaration, die den Titel trägt „Patientenrechte in Deutschland heute“. Herr Professor Hoppe sprach bereits davon. Das Dokument will Patienten und Versicherte über ihre wichtigsten Rechte und Pflichten informieren, gleichzeitig Ärzten, Zahnärzten, Pflegekräften und Psychotherapeuten sowie Mitarbeitern aus Gesundheitsfachberufen bei der täglichen Arbeit als Orientierungshilfe dienen. Durch die Information über bestehende Patientenrechte soll deren tatsächliche Umsetzung in die Alltagspraxis medizinischer Behandlung gefördert und so die Position des Patienten im Gesundheitswesen gestärkt werden. Das beiden Seiten leicht zugängliche und verständliche Dokument will das kooperative Gespräch ermöglichen und damit zur Entwicklung einer vertrauensvollen, partnerschaftlichen Arzt-Patient-Beziehung beitragen.

Neues Recht wurde dadurch nicht geschaffen, die Kodifikation hat keine konstitutive, mehr eine deklaratorische Bedeutung, weniger einen rechtlichen denn einen appellativen Charakter. Sie zielt auf „Rechtsbewusstseinsschaffung“.

Nach Verabschiedung der Deklaration kam die Diskussion um Absicherung, Kodifikation und Stärkung von Patientenrechten für einige Jahre etwas zur Ruhe. Jüngst aber nimmt sie wieder Fahrt auf und ist aktuell in vollem Gange. Sie gerät dabei zunehmend in den allgemeinen Sog der Verbraucherrechte. Patienten werden als Kunden betrachtet, als Konsumenten in einem sich ausweitenden Gesundheitsmarkt qualifiziert.

Nur kurz erwähnt sei, dass sich das Europäische Parlament am 23. April 2009 dafür ausgesprochen hat, die Rechte der Patienten bei der grenzüberschreitenden Versorgung zu stärken. Anfang Juni werden die 27 EU-Gesund-heitsminister offiziell über einen Richtlinienvorschlag beraten. Dieser wird im Wesentlichen die Frage der Kostenübernahme bei Auslandsbehandlungen betreffen.

Im November letzten Jahres hatte die EU-Kommission angekündigt, die Rechte von Patienten ganz allgemein zu verbessern und europaweite Mindeststandards zu schaffen. Der Entschluss wurde gefasst, nachdem die EU-Gesund-heitskommissarin Vassiliou vermeldete, jede zehnte Behandlung sei europaweit fehlerhaft, und die EU-Mitgliedstaaten aufgefordert hatte, im Falle von medizinischen Behandlungsfehlern Klagen zu erleichtern und eine Entschädigung sicherzustellen. Die Meldung ging auch bei uns durch alle Medien. Dabei werden entsprechende Legislativakte der EU hierzulande keine nennenswerten Veränderungen bewirken: Nicht nur materiellrechtlich sind die Patientenrechte hochentwickelt, auch ihre verfahrensrechtliche Durchsetzung bereitet keine übermäßigen Schwierigkeiten, die außergerichtliche wie gerichtliche Regulierung begründeter Schadenersatzansprüche ist gewährleistet.

Ungeachtet dessen plant der nationale Gesetzgeber nun den Erlass eines „Patientenschutzgesetzes“. Die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Kühn-Mengel, hat zu diesem Zweck eine parlamentarische Arbeitsgruppe einberufen. Ihr Ziel ist es, „ärztlichem Paternalismus entgegenzuwirken“, indem „Patientinnen und Patienten ihre Rechte in einem Gesetz übersichtlich zusammengefasst ebenso einfach nachlesen können, wie Urlauber dies im Reisevertragsrecht tun können“. Das Reisevertragsrecht scheint eine enorme Attraktivität auch auf den medizinischen Behandlungsvertrag auszuüben.

Ein Patientenschutzgesetz wird im Zeichen höherer Patientensicherheit für geboten erachtet. Der Bundesverband der Verbraucherzentralen fordert mehr Transparenz bezüglich des Behandlungsgeschehens, mehr Aufklärung und eine generelle Beweislastumkehr zugunsten des Patienten.

Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle auf das Thema „Patientenschutzgesetz“ inhaltlich nicht näher eingehen. Gern können wir anschließend darüber diskutieren, was davon zu halten ist, welche Vorteile sich die Befürworter davon versprechen, aber auch welche Risiken eine weitere Verrechtlichung der Arzt-Patient-Beziehung und eine zusätzliche Verschärfung der Arzthaftung bewirken.

Wichtig erscheint mir folgende Feststellung: Die jüngst zunehmend erhobenen Forderungen nach einem „Patientenschutzgesetz“ sind ein Beleg dafür, dass die Rechte der Patienten und ihre Rechtsgüter – Leben, körperliche Integrität, Gesundheit – aktuell als bedroht angesehen werden. Doch wodurch droht ihnen Gefahr? Herr Professor Hoppe stellte diese Frage eben gerade auch in den Raum: Wodurch droht ihnen Gefahr?

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Patientenrechte weniger durch sorglos handelnde Ärzte verkürzt werden als durch eine Gesundheitspolitik, die sich weigert, sich des Problems der zunehmenden Ressourcenknappheit anzunehmen und dafür Lösungen zu erarbeiten.

(Beifall)

In den vergangenen Jahrzehnten sind die Ausgaben für das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik Deutschland beträchtlich gestiegen. Die Ursachen sind hinlänglich bekannt: zunächst ein wachsendes Krankheitsvolumen, da die Menschen immer älter werden, der Krankheitsbegriff sich ausweitet und mit den Umweltbelastungen und Stressfaktoren im Alltag die Leiden insgesamt zunehmen. In noch viel stärkerem Maße vergrößert sich das Behandlungsvolumen, die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen. Die Entwicklung der Medizin erscheint als eine „Explosion des Machbaren“. Fortwährend steigern sich die Angebote der Apparate- und Präparatemedizin und wecken ihrerseits neue Ansprüche. Da sich mit ihren Errungenschaften der Kreis der Therapiebedürftigen ausweitet, jeder medizinische Fortschritt einen zusätzlichen Bedarf erzeugt, der nicht bestand, als es die Mittel zu seiner Befriedigung noch nicht gab, sprechen kundige Beobachter von der „Medizin in der Fortschrittsfalle“. Es zeigt sich ein immer deutlicherer „Überhang des theoretisch Machbaren über das praktisch Finanzierbare“ in der modernen Medizin, es öffnet sich eine „Kluft zwischen Verheißung und Erfüllung“ im Gesundheitswesen. Die zentrale Frage lautet: Wie gehen wir mit den knappen Mitteln um? Wie stellen wir eine gerechte Verteilung sicher?

Damit möglichst viele Patienten in gleicher Weise und in ausreichendem Maße weiterhin von den Leistungen der Medizin profitieren können, sind fortwährend Rationalisierungen geboten, die eine effiziente Mittelverwendung in allen Bereichen der Medizin sicherstellen. Dabei gewinnen Fragen nach Prioritäten und Präferenzen, Nutzen-Risiko-Abwägungen und Kosten-Nutzen-Relationen sowie Fragen nach dem Bedarf einzelner Gesundheitsmaßnahmen an Bedeutung.

Gesundheitsökonomische Überlegungen leisten wichtige Hilfe bei dem Bestreben, die vorhandenen Ressourcen optimiert, das heißt mit maximalem Nutzen für die Gesundheit aller zu verwenden. Ökonomische Analysen zeigen freilich immer nur Wege auf, wie mit verfügbaren Mitteln mehr oder mit weniger Mitteln das Gleiche zu erreichen ist; niemals sind ihre Ergebnisse selbst Entscheidungen hinsichtlich des geschuldeten Aufwands bei Diagnose oder Therapie.

Aus ethischer Sicht ist das simplifizierende Vorteil-Nachteil-Kalkül nur bedingt verwertbar. Ökonomische Evaluierungen können keine Entscheidungspriorität haben, da mit der Forderung nach Gesundheit die Effektivität einer Heilmaßnahme das maßgebende Kriterium sein und bleiben muss.

Effizienzsteigernde Rationalisierungen werden alleine aber nicht ausreichen, um dem Kostenanstieg im Gesundheitswesen wirksam zu begegnen. Es lässt sich nicht mehr leugnen, dass letzten Endes Rationierungen unumgänglich sind, wobei diese ethisch stets bedenklich bleiben, da sie immer einen Verzicht auf effektive Leistungen bedeuten.

Der Gesetzgeber hat dies bislang nicht eingestanden. Für ihn stellt die Budgetierung, die Einführung von Regelleistungsvolumina etc. ein eleganteres Mittel zur Kostendämpfung dar, denn sie lässt die Leistungsansprüche des Patienten unberührt. So wird der potenziell wahlentscheidende Konflikt umgangen, zu dem offene Leistungskürzungen führen müssen. Für die Leistungserbringer
aber beschwört gerade dies schwere Konfliktlagen herauf. Mit Grund wendet sich die verfasste Ärzteschaft in ihrem auf dem vorjährigen Deutschen Ärztetag verabschiedeten „Ulmer Papier“ vehement gegen Budgetierung und sogenannte „heimliche Rationierung“, gegen die Fremdbestimmung der Arzt-Patient-Beziehung und die damit einhergehende Minderung der Qualität ärztlicher Leistungen.

Unumgängliche Rationierungsmaßnahmen müssen indirekt in Form von Sparbeschlüssen auf einer möglichst hohen hierarchischen Ebene getroffen werden. Nicht die interaktionelle Ebene zwischen Arzt und Patient, sondern der gesundheitspolitische Diskurs, der die Rahmenbedingungen für eine effiziente Mittelverteilung aufgrund der vorfindlichen wissenschaftlichen Gesamtanalyse festlegen muss, ist Ort der Entscheidung. Der Arzt vor Ort entscheidet über die Heilung oder Rettung eines konkreten, identifizierbaren Menschenlebens, er ist mit der Vorenthaltung effektiver medizinischer Leistungen im Einzelfall regelmäßig moralisch überfordert. Durch eine politisch vorweggenommene, vom gesellschaftlichen Konsens gedeckte Ex-ante-Beschränkung seiner Handlungsmöglichkeiten wird der Einzelne zumindest partiell von der Bürde direkter Rationierungsentscheidungen entlastet.

Letztlich wird es dem Staat nicht erspart bleiben, Regeln für den Umgang mit der Knappheit aufzustellen.

(Beifall)

Sparen auf einer höheren Ebene ist notwendig, da dem Arzt sonst die Rolle eines Funktionärs austeilender Gerechtigkeit droht, die den besonderen Charakter seines Dienstes grundlegend veränderte, zu deutlich mehr Rechtsstreitigkeiten führte und zu weiteren Reglementierungen des klinischen Alltags von außen. Im Umgang mit dem Hilfesuchenden steht der Arzt immer zuerst in dessen Diensten. Strategien der Mittelbeschränkung dürfen ihn nicht dazu zwingen, gesundheitsökonomische Entscheidungen am Krankenbett für oder gegen den einzelnen Patienten zu treffen. Gemäß dem Leitsatz „salus aegroti suprema lex“ ist er gehalten, dem Kranken alles angedeihen zu lassen, was der Wiederherstellung, Erhaltung oder Verbesserung der Gesundheit dient.

Die vorrangige Sorge des Arztes um den einzelnen Patienten bleibt freilich eingebettet in die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Ein diagnostischer oder therapeutischer Aufwand jenseits der Grenzen wirtschaftlicher Rationalität lässt sich bereits mit Rücksicht auf die Solidargemeinschaft der Versicherten nicht rechtfertigen. Bei der Begrenztheit der Mittel führt hoher Aufwand an der einen Stelle oft zwangsläufig zu Engpässen oder Mängeln bei der Versorgung anderer Patienten. Darum wird der Arzt in Zukunft bei seiner Indikationsstellung mehr noch als bisher nicht nur den möglichen Nutzen für den individuellen Kranken, sondern auch die gesellschaftlichen Auswirkungen zu bedenken haben. Ärzte sind immer stärker gefordert, die sozialen Konsequenzen ihrer „Ressourcenverwendungsentscheidung“ zu verantworten und den Ressourceneinsatz auf das medizinisch Sinnvolle zu begrenzen. Der bestehende Zielkonflikt zwischen humanitärer Ausrichtung, medizinischer Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit des Versorgungssystems verschärft sich weiter.

Dies hat nicht zuletzt haftungsrechtliche Konsequenzen. Das möchte ich Ihnen jetzt etwas genauer aufzeigen.

Infolge des wachsenden Kostendrucks bei fixen Regelleistungsvolumina gewinnt in der Praxis das sozialrechtliche Wirtschaftlichkeitsgebot zunehmend an Bedeutung. Nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers besteht zwischen dem Gebot der Wirtschaftlichkeit (§ 12 Abs. 1 SGB V) und dem Erfordernis, dass Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben (§ 2 Abs. 1 S. 3 SGB V), kein Widerspruch, beides ergänze sich vielmehr.

Unverkennbar wird es jedoch in einem Gesundheitssystem, in dem eine Begrenzung der finanziellen Ressourcen einhergeht mit zunehmend strengeren Leistungsanforderungen und gesteigerten Erwartungen der Patienten an die Medizin, für den Arzt immer schwieriger, den individuellen und gesellschaftlichen Heilauftrag sachgerecht zu erfüllen. Das Wirtschaftlichkeitsgebot kann ihn vor die Frage stellen, ob er die vertraglich wie haftpflichtrechtlich begründete höchstmögliche Sorgfalt und beste Vorkehrungen mit ihrem erhöhten Aufwand anwenden darf und soll.

Vertraglich und haftungsrechtlich schuldet der Arzt dem Patienten nach bislang einhelliger Ansicht eine Behandlung entsprechend dem medizinischen Standard. Dabei repräsentiert der Standard in der Medizin „den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungszieles erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat“. Wirtschaftliche Gesichtspunkte spielten bei der Konkretisierung des ärztlichen Heilauftrags lange Zeit keine Rolle.

Vor dem Hintergrund des Kostenanstiegs im Gesundheitswesen bei immer knapper werdenden finanziellen Ressourcen gewinnt aber die Frage zunehmend an Bedeutung, ob Ärzte und Krankenhausträger die hohen Standards medizinischer Versorgung wie gewohnt zu halten vermögen oder ob nicht die vielfältigen Maßnahmen der Kostendämpfung zu Begrenzungen des Heilauftrags führen (müssen) – auch mit haftungsrechtlichen Konsequenzen.

Zwischen dem Haftungs- und dem Sozialversicherungsrecht besteht ein Spannungsverhältnis, angelegt in den Begriffen der „erforderlichen“ Sorgfalt in § 276 Abs. 2 BGB, die eine Grenze markiert, welche nicht unterschritten werden darf, und der „ausreichenden“ Versorgung in § 12 Abs. 1 SGB V, die eine Obergrenze bildet. Wenn sich das Haftungsrecht weiterhin an dem medizinisch Machbaren orientiert und damit tendenziell das Optimale fordert, während nach Sozialversicherungsrecht Leistungen nicht erbracht werden dürfen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, dann droht die Gefahr eines Auseinanderdriftens dieser beiden Teilrechtsgebiete.

Die Entwicklung lässt sich kurz wie folgt darstellen. Ich habe versucht, das zu visualisieren, damit man die Entwicklung in ihrer Dramatik erfasst. Sie sehen einen breiten Handlungskorridor des Arztes. Innerhalb des Korridors kann sich der Arzt betätigen. Das macht letztlich die Therapiefreiheit aus. Grenzen werden einerseits durch die erforderliche Sorgfalt, andererseits durch das Wirtschaftlichkeitsgebot gezogen. Dabei richten sich die Sorgfaltsanforderungen nach den Möglichkeiten der Profession. Sie steigen also mit dem medizinischen Fortschritt. Die untere Schwelle rückt also immer höher. Gleichzeitig drückt das Wirtschaftlichkeitsgebot immer stärker von oben; es lastet auf der Behandlungsseite. Der Handlungskorridor des Arztes wird so immer enger.

Wenn eine Finanzierung der jeweiligen medizinischen Standards durch die Krankenkassen nicht mehr gesichert ist, dann wird sich die weitere Frage stellen, ob die Rechtsordnung den Arzt jedenfalls haftungsrechtlich für verpflichtet halten kann, Maßnahmen zu treffen, die er möglicherweise nicht liquidieren kann. Diese durchaus dramatische Konstellation ist im folgenden Bild dargestellt. Sie sehen die Einengung des Handlungskorridors. Der medizinische Fortschritt, die Standards drücken immer weiter von unten herauf. Die erforderliche Sorgfalt nimmt zu. Der Kostendruck wird stärker, sodass schließlich der Handlungskorridor gänzlich verschwunden ist.

(Beifall)

Auch wenn man den gesundheitspolitischen Beteuerungen Glauben schenkt, dass es so weit niemals kommen dürfe und nie kommen werde, ist die Lage bedrohlich genug. Der Weg zu einer Harmonisierung der gesetzlichen Haftpflichtregeln und der gesetzlichen Wirtschaftlichkeitsgebote ist bis heute wenig geklärt.

Der Bundesgerichtshof war mit der Problematik bereits mehrfach befasst, ohne jedoch näher darauf einzugehen. Von einer Einzelentscheidung im Jahre 1975 abgesehen, misst das höchste deutsche Zivilgericht ökonomischen Gesichtspunkten bislang kaum, ja keine Bedeutung zu. Der BGH differenziert hinsichtlich der Behandlungspflichten nicht danach, welche Kosten die Maßnahmen verursachen, sondern nur danach, ob diese medizinisch indiziert sind oder nicht.

Keine Rolle spielen die Behandlungskosten auch in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In seinem „Nikolaus-Beschluss“ – dieser Begriff rührt daher, dass diese Entscheidung am 6. Dezember erfolgte – bewertete es das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten alternativen Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Nicht die Behandlungspflicht des Arztes, vielmehr die Erbringbarkeit der Leistung zulasten der GKV war Gegenstand der Streitigkeit, in welcher der Kläger gewonnen hat, dem die Leistungen zunächst einmal versagt wurden.

Derzeit offen ist, ob dem „Nikolaus-Beschluss“ auch haftungsrechtliche Relevanz zukommt, also ob der VI. Zivilsenat des BGH angesichts des Leistungsanspruchs auf sozialversicherungsrechtlicher Seite die Behandlung mit der Außenseitermethode in der jeweiligen Situation auch haftungsrechtlich vom Arzt einfordern wird. Dies erscheint eher unwahrscheinlich, würde damit doch der zivilrechtliche vom medizinischen Standard nicht nur abgekoppelt, sondern ginge entgegen allen Eingrenzungsbemühungen hier über diesen sogar noch hinaus.

Im Schrifttum wird das Problem einer Divergenz der beiden Teilrechtsgebiete und die Notwendigkeit einer Harmonisierung von Haftungs- und Sozialrecht wenigstens ansatzweise erkannt. Allerdings findet sich zumeist schlicht die Aussage, dass die haftungsrechtlichen Maßstäbe des Rechtsgüterschutzes, welche die höchstrichterliche Rechtsprechung im Interesse der Patienten aufgestellt und konkretisiert habe, nicht aus Gründen der Wirtschaftlichkeit herabgesetzt werden dürfen. Selbst die Budgetierungen änderten nichts daran, dass auch der Sozialversicherte nach wie vor einen Anspruch auf Heilbehandlung nach dem jeweiligen medizinischen Standard habe. Wenn im Klinikalltag jedenfalls in Teilbereichen sogar allgemein anerkannte medizinische Standards nicht mehr eingehalten und wegen des Arzneimittel- und Heilmittelbudgets gelegentlich notwendige Arzneimittel aus Angst vor einem Regress nicht mehr verordnet würden, dann sei dies ein rechtliches Problem der Ärzte, die sich fragen müssten, ob ihre Inpflichtnahme im Sinne der Art. 12 GG (Berufsfreiheit) und Art. 14 GG (Eigentumsgarantie) rechtlich zulässig ist und ob sie gegebenenfalls dagegen vorgehen müssten. Wegen des verfassungsrechtlich garantierten Rechts auf Gesundheit und Wiederherstellung der Gesundheit dürfe es in Deutschland niemals einen Unterschied zwischen den Standards der kassenärztlichen Leistungen und den allgemeinmedizinischen Standards geben.

Nur sehr zögerlich gewinnt die Einsicht Raum, dass der rechtliche Sorgfaltsmaßstab die allgemeinen Grenzen im System der Krankenversorgung, selbst wenn es Grenzen der Finanzierbarkeit und Wirtschaftlichkeit sind, nicht völlig vernachlässigen kann. Erste Ansätze finden sich in den Schriften des Arztrechtlers Adolf Laufs und des ehemaligen Vorsitzenden des VI. Zivilsenats des BGH, Erich Steffen:

Ärztlicher Auftrag und zivilrechtlicher Haftungsmaßstab werden bestimmt und begrenzt nicht nur durch die Befindlichkeit des Patienten, sondern auch durch die Befindlichkeit der Gesellschaft, in die Arzt und Patient eingebunden sind. Beide hängen auch ab von den verfügbaren Ressourcen und davon, wie viel und mit welchen Präferenzen die Gesellschaft für ihre medizinische Versorgung auszugeben bereit ist. Allgemeine Grenzen der Finanzierbarkeit unter dem Postulat der Beitragsstabilität ebenso wie allgemeine Grenzen der Ressourcen werden, wo sie die ärztliche Behandlungsaufgabe beschränken, auch an den zivilrechtlichen Haftungsmaßstab weitergegeben. Sie eignen sich ebenso wenig wie das Krankheitsrisiko zur Abwälzung von dem Patienten auf den Arzt.

Bei der Frage nach Lösungsansätzen in Betracht zu ziehen und zu diskutieren ist eine erweiternde Anerkennung ärztlicher Entscheidungsfreiräume, eine Relativierung medizinischer Behandlungsstandards oder eine Modifikation des Haftungsmaßstabs. Das alles ist Neuland. Darüber haben sich die Juristen künftig zu unterhalten und zu verständigen. Wichtig ist eine Umorientierung der Rechtsprechung, die gegenwärtig Ärzte zu einem übermäßigen Einsatz der zur Verfügung stehenden diagnostischen Verfahren zwingt und damit ihrerseits zur Ressourcenverknappung beiträgt. Eine Einschränkung der Haftungsbestimmungen sowie die Berücksichtigung von Aufwand-Ertrag-Analysen auch vor Gericht sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass die Ärzte künftig sparsamer mit den finanziellen Mitteln umgehen, umgehen können und der Kostenanstieg im Gesundheitswesen gebremst werden kann.

Die Erkenntnisse der ökonomischen Analyse des Haftungsrechts können in der Diskussion nicht länger gänzlich unberücksichtigt bleiben.

(Beifall)

Die „economic analysis“ zeigt auf, dass es „ein bestimmtes Ausmaß an Schäden gibt, die hinzunehmen einen Gewinn an gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt bedeutet“, nämlich soweit die Kosten zu ihrer Verhinderung höher sind als die der verhüteten Schäden selbst.

Andererseits sind diesem Erklärungsmodell im Arzthaftungsrecht enge Grenzen gesteckt. So besteht weitgehend Einvernehmen darüber, dass – so Erich Steffen –

die Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots nur legitim ist, wo der Einfluss auf die medizinische Indikation die gesundheitliche Rehabilitation des betroffenen Patienten nicht grundsätzlich infrage stellt, und solange eine Mindestgrenze für die personellen und sächlichen Behandlungsbedingungen nicht unterschritten wird, die sich an der gesundheitlichen Integrität als einem dem Kosten-Nutzen-Vergleich nur begrenzt zugänglichen Gut, aber auch der aktuell erreichten Qualitätshöhe der Medizin ausrichtet. Die Grenzen der Sparsamkeit liegen dort, wo sie die Gefahren für den Patienten erhöhte. Darüber hinaus trifft die Medizin dort, wo die bisherigen Leistungen eingeschränkt und der Standard herabgesetzt werden soll, eine Darlegungs- und Rechtfertigungslast, dass sie hierzu trotz Ausschöpfung aller Rationalisierungspotenziale gezwungen ist.

Festzuhalten bleibt: Die Rechtsprechung muss auf den wachsenden Kostendruck durch eine Relativierung der Standards und Modifikation bestehender hoher oder höchster Sorgfaltsanforderungen reagieren, andererseits hat das Arzthaftungsrecht aber immer auch eine Schutzfunktion gegenüber allzu rigiden Einschnitten in die Ausstattung der Gesundheitseinrichtungen wahrzunehmen. Ansätze zur Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen Sorgfalts- und Wirtschaftlichkeitsgebot können sein: eine standardbezogene Harmonisierung, eine informationspflichtbezogene Harmonisierung oder eine Harmonisierung durch Leitlinien, die eine Qualitätssicherungsfunktion medizinischer Behandlungen haben, eine Implementierungsfunktion für die Durchsetzung von Standards, außerdem eine Schutzfunktion zugunsten von Patienten.

Welcher Ansatz am ehesten zielführend ist, kann noch nicht zuverlässig prognostiziert werden. Vor überzogenen Erwartungen ist aber schon jetzt zu warnen. Es wird sich schwerlich ein Patentrezept oder gar eine Zauberformel zur Lösung aller Probleme finden lassen. Leitlinien können hier nur mittelbar von Nutzen sein. Weder werden sie unter ökonomischen Vorzeichen erarbeitet, noch dürfen sie zu einer Festlegung des Arztes und damit zu einer weiteren Einschränkung der ärztlichen Therapiefreiheit missbraucht werden.

(Beifall)

Eine „standardbezogene Harmonisierung“ muss zu Abstrichen beim Rechtsgüterschutz führen. Daher findet unter Juristen eine „informationsbezogene Harmonisierung“ manchen Fürsprecher, sie wahre die Sicherheit und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Dabei darf – auch das hat Herr Professor Hoppe eben schon angesprochen – nicht verkannt werden, dass eine Aufklärung darüber, was medizinisch alles möglich ist, von der GKV aber nicht finanziert wird, den Patienten belasten und das Vertrauensverhältnis zu seinem Arzt grundlegend zerstören kann.

Dies alles zeigt, meine Damen und Herren, dass vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Beschränkungen die Sicherstellung der medizinischen Versorgung nicht mehr allein Aufgabe der Leistungserbringer sein kann, sondern immer mehr eine Herausforderung an die Entscheidungsträger im Gesundheitswesen und in der Gesundheitspolitik bedeutet. In Deutschland war eine Diskussion über objektive und allgemeine Verfahren der Rationierung und Priorisierung medizinischer Leistungen lange Zeit tabu. Doch jetzt wird sie eröffnet. Transparente und bestimmte Zuordnungsregeln müssen herausgearbeitet werden und an die Stelle der bislang kasuistischen, intransparenten und häufig impliziten Vorenthaltung medizinischer Leistungen treten. Die Verfahren sind dabei jeweils auf ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben der Rechtsordnung, insbesondere mit den Grundrechten zu überprüfen. Das ist eine schwierige, eine heikle, aber eine unumgängliche Aufgabe.

Meine Damen und Herren, ich möchte schließen mit einem Bild aus der Literatur. „Patientenrechte in Zeiten der Rationierung“ – das erinnert ein klein wenig an „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“. In seinem Roman erzählt Gabriel García Márquez die Geschichte eines Mannes, der nach lebenslangem Warten schließlich doch noch zu seiner großen Liebe gelangt. Beide finden auf einem Schiff zueinander. Nachdem die übrigen Passagiere abgesetzt sind, hisst der Protagonist zur Fahrt durch eine weitgehend zerstörte Umwelt die Choleraflagge, um ungestört die Zweisamkeit zu erleben.

Die aktuelle Diskussion erweckt ein wenig den Eindruck, als hoffe die Ärzteschaft darauf, dass die für Budgetierung und heimliche Rationierung verantwortlichen Dritten von Bord gehen, damit der Arzt die Priorisierungsflagge hissen und seinen Patienten endlich wieder diesen ärztlichen Liebesdienst erweisen kann. Doch ein so glückliches Ende wie bei Márquez wird dem bundesdeutschen System der Krankenversorgung voraussichtlich nicht vergönnt sein. Auch Priorisierung bedeutet Mangelverwaltung. Freilich kann sie einen effektiveren Mitteleinsatz und damit eine gerechtere Ressourcenverteilung gewährleisten, als dies bei heimlicher Rationierung der Fall ist. Deshalb, meine Damen und Herren, muss die Diskussion nun beginnen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Lebhafter Beifall)

Vizepräsident Dr. Montgomery: Vielen herzlichen Dank, Herr Professor Katzenmeier, für dieses ausgezeichnete Referat. Sie haben mit Ihren letzten Sätzen eigentlich die Überleitung in die Diskussion vorweggenommen. Wir treten jetzt ein in die Debatte zum Tagesordnungspunkt II: Patientenrechte in Zeiten der Rationierung.

Mir liegen bisher acht Wortmeldungen und drei Anträge vor. Neben dem Antrag des Vorstands II-01 liegen uns noch die Anträge 02 und 03 vor. Sie werden umgedruckt und Ihnen verteilt. Weitere Anträge bitte hier vorne abgeben.

Als Erster in der Debatte hat sich der Kollege Dr. Dehnst, Delegierter der Ärztekammer Westfalen-Lippe, zu Wort gemeldet. Ich bitte Herrn Dehnst auf das Podium.

© Bundesärztekammer 2009