TOP II: Patientenrechte in Zeiten der Rationierung

Mittwoch, 20. Mai 2009, Vormittagssitzung

Dr. Jaeger, Schleswig-Holstein: Sehr verehrte Damen und Herren! Ich wollte eigentlich etwas ganz anderes sagen. Insofern könnte auch ich eine getrennte Redezeit beantragen. Ich möchte zunächst auf die Ausführungen von Herrn Professor Dietrich erwidern. Ich muss sagen, Herr Dietrich: Ihre Ausführungen haben bei mir eine akute obere Einflussstauung verursacht. Sie haben nach Beispielen für eine Rationierung gefragt. Ich muss schon sagen: Ihren Schilderungen entnehme ich, dass Sie Krankenhausarzt sind. Entweder liegt Ihr Krankenhaus irgendwo auf Wolke sieben oder Sie sind in einem Bereich tätig, bei dem Sie sich schon lange von der Basis, vom medizinischen Alltag auf der Station, in der Ambulanz usw. entfernt haben.

(Beifall)

Sie baten um Beispiele für eine Rationierung. Ich könnte Ihnen 20 Beispiele aufzählen. Ich will es bei drei Beispielen belassen.

Wenn ich auf der Station gezwungen werde, bei 35 Patienten in 30 Minuten eine Visite zu machen, dann ist das eine Rationierung, weil den Patienten etwas Wichtiges vorenthalten wird, nämlich das Arztgespräch.

(Beifall)

Diese Rationierung wird am Wochenende noch dadurch verstärkt, dass, wenn ich in Vertretung der Kollegen auf einer mir nicht bekannten Station Visite mache, in der Regel keine Krankenschwester mehr die Visite begleitet, weil der Stellenplan das nicht hergibt.

(Beifall)

Das kann man durchaus als Doppelblindversuch bewerten: Der Arzt weiß nichts und die Patienten können möglicherweise nicht sprechen.

Das sind ganz konkrete Beispiele für eine Rationierung. Ein weiteres Beispiel: Wenn ich aufgrund eines engen Stellenplans als einziger Arzt in der Ambulanz tätig bin für mehr als 20 Patienten, wo eigentlich drei Ärzte vorgesehen sind, und ich von meiner Chefärztin angehalten werde, schneller zu arbeiten, woraufhin ich sie frage, ob ich schnell oder sorgfältig arbeiten soll, dann bin ich genau in dem Gewissenskonflikt, der hier bereits angesprochen wurde.

(Beifall)

Als letztes Beispiel für Rationierung möchte ich Ihnen den Fall meiner Tante schildern. Sie wurde mit einer bradykarden Herz-Rhythmus-Störung von 30 – wahrscheinlich durch eine relative Überdosierung von Antiarrhythmika – von einem sehr sorgfältigen Hausarzt eingeliefert. Sie wurde nicht, wie es bei uns eigentlich selbstverständlich sein sollte, an einen Monitor gelegt. Am nächsten Morgen bei der Visite war sie tot. Der Fehler war wahrscheinlich, dass sie Privatpatientin war, denn es hieß: Der Oberarzt kommt erst später zur Visite. Bei Rücksprache mit den behandelnden Ärzten sagte man: Wir hatten in der Nacht – es war Wochenenddienst – viele Aufnahmen, Ihre Tante schien die Gesündeste zu sein, wir hatten nicht so viele Monitorplätze, außerdem war der Arzt völlig überarbeitet. Insofern wurde meine Tante in ein Normalzimmer geschoben, weil sie eben recht gesund erschien. Keiner hat nach ihr geschaut; bei der Visite war sie tot.

Das sind die Beispiele für Rationierung. Ich kann Ihnen noch weitere 20 Beispiele nennen.

(Beifall)

Vizepräsident Dr. Montgomery: Vielen herzlichen Dank, lieber Norbert. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin Anke Müller aus Mecklenburg-Vorpommern.

© Bundesärztekammer 2009