TOP II: Patientenrechte in Zeiten der Rationierung

Mittwoch, 20. Mai 2009, Vormittagssitzung

Prof. Dr. Katzenmeier, Referent: Vielen Dank allen für ihre Wortbeiträge. Es ist für mich sehr eindrucksvoll, wie Sie auf Ärztetagen diskutieren. Das ist, wie ich sagen darf, etwas offener, etwas unverblümter, als dies unter Juristen der Fall ist. Das war beeindruckend.

(Beifall)

Ich kann und möchte jetzt nicht auf alle einzelnen Wortbeiträge eingehen. Bestimmte Dinge habe ich mir allerdings herausgepickt. Zunächst einmal möchte ich zum Thema insgesamt noch Folgendes sagen. So schwierig das Thema ist, so einfach sind die Fragestellungen. Es geht um zwei Fragen: Erstens. Wie viel sind wir für die Gesundheit auszugeben bereit? Das wird niemals so viel sein, um alle Wünsche zu befriedigen. Diese Frage ist als erste zu beantworten.

Dann stellt sich zwingend die zweite Frage: Wie sind die Ressourcen am effektivsten und am gerechtesten einzusetzen? Bei der Diskussion, die von Ihnen angestoßen wurde, ist der Begriff der Priorisierung strikt zu trennen von der Rationierung. Darüber müssen sich alle klar sein. Rationierung, wie sie in diesem Land stattfindet, bedeutet, dass medizinisch notwendige Leistungen aus Kostengründen vorenthalten werden. Das ist Rationierung. Priorisierung bedeutet etwas anderes. Priorisierung ist zunächst einmal ein Denkmodell, ein Prozess, den wir auch in unserem Land durchlaufen müssen, keine Methode, sondern ein Prozess, bei dem es nicht darum geht, ausländische Modelle zu adaptieren, blind zu übernehmen, sondern in unserem eigenen System, das nicht nur seine Schwächen, sondern auch seine Stärken hat, diesen Gedanken möglichst zu implementieren und zu schauen, wie man Verbesserungen herbeiführen kann.

Der Priorisierung geht es um eine gerechte Schwerpunktsetzung. Das kommt nicht einfach so daher, das ist kein Schlagwort, das völlig unreflektiert ist, sondern darüber hat sich schon 2007 die Zentrale Ethikkommission, worauf Herr Professor Hoppe hingewiesen hat, eingehend Gedanken gemacht. Es gibt eine DSG-Forschungsgruppe, interdisziplinär besetzt – mit hochrangigen Repräsentanten auch Ihres Faches besetzt –, die sich Gedanken über Priorisierung in der Medizin macht. Das ist unter diesem Stichwort schon im Internet als Auftritt zu finden.

Bei der Priorisierung geht es wie gesagt um die Frage: Wie können wir die vorhandenen Ressourcen am effektivsten und am gerechtesten einsetzen? Das muss uns allen ein Anliegen sein.

Dazu sind zwei Dinge sehr wichtig, nämlich zum einen, dass das Ganze in einem fairen Verfahren stattfindet. Dazu ist Transparenz erforderlich: Die Priorisierung soll nach klar erkennbaren Kriterien erfolgen. Wichtig ist zweitens Evidenzbasierung, drittens Legitimität, es muss eine demokratisch legitimierte Institution die Prioritäten festlegen. Der momentan in unserem System schon ein wenig priorisierende Gemeinsame Bundesausschuss unterliegt da ja gewissen Zweifeln hinsichtlich der demokratischen Legitimierung.

Erforderlich ist ferner Rechtsschutz. Es ist wichtig, dass es für Patienten, die sich benachteiligt sehen, effektive Rechtsschutzmöglichkeiten, Widerspruchs- und Klagemöglichkeiten gibt.

Das betrifft die Ausgestaltung des Verfahrens. Legitimation durch Verfahren ist nicht nur bei Juristen ein wichtiges Wort.

Zum anderen geht es um die inhaltlichen Kriterien. Hier bietet sich ein ganzer Strauß von Kriterien an, nach denen priorisiert werden kann. Einmal geht es – das dürfte im Mittelpunkt aller Bemühungen stehen – um die Fragen der medizinischen Bedürftigkeit: Schweregrad und Gefährlichkeit der Erkrankungen und Dringlichkeit des Eingreifens. Außerdem können, ja müssen der erwartbare medizinische Nutzen und auch die Kosteneffektivität berücksichtigt werden. Nützlichkeitserwägungen, die immer einem gewissen Verdacht des Utilitarismus ausgesetzt sind, sind im Rahmen von Gerechtigkeitserwägungen anzustellen. In einem egalitären Verteilungssystem können sie implementiert werden und müssen berücksichtigt werden.

Wenn Sie dieses System so ausgestalten – das wird recht aufwendig sein –, dann können Sie individuellen Besonderheiten, also den Besonderheiten des Einzelfalls, Rechnung tragen. Es geht nicht darum – dieses Schreckensszenario wird immer wieder gezeichnet –, dass künftig den über 70-Jährigen keine künstliche Hüfte mehr gegönnt wird. Darum geht es nicht. Es geht um die Feststellung individueller Bedürfnisse und darum, diesen möglichst Rechnung zu tragen, indem man priorisiert und die Mittel dort einsetzt, wo sie am nötigsten sind.

Nicht berücksichtigt werden dürfen zum einen Art und Umfang der Krankenversicherung und zum anderen die Zahlungsfähigkeit und -bereitschaft der Patienten. Dadurch würden chronisch kranke, alte und behinderte Menschen benachteiligt. Gerade das möchte die Priorisierung vermeiden. Es geht gerade nicht um die Ausgrenzung Schwacher, sondern um die Gewinnung von Mitteln, damit sie dort, wo sie so dringend nötig sind, auch eingesetzt werden können.

Zu diesem Zweck ist – das hatte ich vorhin schon einmal gesagt – der Diskurs wichtig. Die Diskussion ist in der Öffentlichkeit unter Beteiligung breiter Bevölkerungskreise zu führen. Das ist nach meinem Dafürhalten ein Ausdruck von Demokratie. Ich halte es für unverantwortlich, wenn man versucht, diese Diskussion nicht zu fördern, sondern sie zu unterdrücken oder gar als verantwortungsloses Verhalten zu brandmarken.

(Beifall)

Es geht um eine Einbeziehung der Bürger in diesen Diskurs. Schon allein die Einbeziehung wird nach meinem Dafürhalten das Bewusstsein in der Bevölkerung für den Wert der Gesundheit stärken. Es mag auch ein klein wenig dazu beitragen, dass die heute von vielen von Ihnen zu Recht betonte Eigenverantwortung wieder ein bisschen in den Mittelpunkt rückt, die Eigenverantwortung, die so ganz außen vor ist. Da muss man nicht Bezug nehmen auf diese unsägliche Sendung Anne Will, die Menschen an der Pommes-Bude, die jeden Tag zwei Currywürste essen und Pommes in sich hineinschieben, die rauchen und sagen: Mein Verständnis von Sozialstaat ist, dass ich rundum versorgt werde.

Das kann nicht sein. So tragen diese Personen dazu bei, dass dieses Sozialsystem, das noch immer hochzuhalten ist und so viel wert ist, irgendwann kollabiert. Patienten sind keine Verbraucher, Patienten konsumieren nicht Gesundheit, sondern müssen mit ihrer Gesundheit selbst verantwortungsvoll umgehen und im Notfall ihren Arzt konsultieren.

(Beifall)

Interessant fand ich den Gedanken, dass es mir darum gehe, den Arzt zu schützen. Das ist mir bislang noch nicht unterstellt worden. Normalerweise sind wir Juristen ja diejenigen, die Sie, die Ärzte, immer anprangern, anklagen, haftbar machen. Das ist eine neue Facette, die mich erstaunt hat. Aber es geht ja nicht darum, was mich erstaunt.

Ich möchte für den Fall, dass Sie es nicht verstanden haben, noch einmal darstellen, um was es geht: Es geht nicht darum, den Arzt zu schützen, sondern es geht allein darum, dass man die Interessen des Patienten nicht gegen die Interessen des Arztes ausspielt. Darum geht es.

(Beifall)

Selbst mir als Jurist ist das Bild vom Arzt-Patient-Verhältnis als, wie ich es ein wenig zu kennzeichnen versucht habe, therapeutisches Arbeitsbündnis geläufig. Der Begriff sollte als Leitbild aufrechterhalten werden. Wir haben es also nicht mit klassisch gegenläufigen Interessen zu tun, entgegengesetzten Interessen wie bei den Herstellern und den Konsumenten von Waren, sondern weitgehend sind die Interessen gleichlaufend.

Deswegen ist es so wichtig, dass die Therapiefreiheit erhalten wird, die Therapiefreiheit, die kein Privileg des Arztes ist, sondern ein fremdnütziges Recht. Therapiefreiheit ist ein fremdnütziges Recht. Es geht darum, unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles im Interesse des Patienten die Wahl der Methode zu erlauben. Therapiefreiheit dient der Wahrung der Würde des Patienten und seines Selbstbestimmungsrechts. Nicht umsonst werden freie Berufe als Statthalter der Freiheit qualifiziert.

(Beifall)

Patientenrechte verdanken letzten Endes ihren hohen Stand der Freiheit des Arztberufs.

(Beifall)

Die Bedeutung der ärztlichen Freiheit wird uns allen hoffentlich nicht erst dann bewusst, der gesamten Bevölkerung, wenn sie erst einmal zerstört wurde.

Vielen Dank.

(Beifall)

Vizepräsident Dr. Montgomery: Vielen Dank, Herr Professor Katzenmeier, für diese Klarstellung. – Meine Damen und Herren, jetzt hat der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, die Gelegenheit zu einem Schlusswort. Ich bitte Sie, Ihren Magen noch ein wenig länger knurren zu lassen. Wir haben nur wenige Anträge. Ich glaube, wir sind damit relativ schnell fertig und könnten diesen Tagesordnungspunkt noch vor der etwas verkürzten Mittagspause beenden.

Bitte, Jörg.

© Bundesärztekammer 2009