TOP III: Der Beruf des Arztes – ein freier Beruf heute und in Zukunft

Mittwoch, 20. Mai 2009, Nachmittagssitzung

Prof. Dr. Hommerich,
ReferentProf. Dr. Hommerich, Referent: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich möchte mich, sozusagen Herrn Katzenmeier folgend, herzlich für die Einladung bedanken, und zwar nicht nur pflichtschuldigst, sondern aus voller Überzeugung. Ich befasse mich jetzt schon seit 25 Jahren mit der Entwicklung der freien Berufe und freue mich natürlich, die Chance zu bekommen, auf dem Ärztetag über das Berufsbild und seine Gefährdungen sprechen zu können.

Meine Botschaft an diesen Ärztetag besteht darin, zu begründen, dass Freiberuflichkeit eine innere Haltung ist, dass die Ärzteschaft, die für den Zentralwert Gesundheit steht, ihre Rolle als eine Leitprofession im Gesundheitswesen aktiv wahrnehmen muss, dass der fortschreitende Ökonomismus der sogenannten Gesundheitswirtschaft ein zerstörerisches Übel ist und dass die Ärzteschaft, wenn sie wirksam agieren will, ihre Zentrifugalkräfte beherrschen und disziplinieren muss, um nicht vor lauter Eitelkeit der einzelnen Gruppierungen in ihre Einzelteile zu zerfallen und damit ihre legitimatorische Kraft zu verlieren, dass die Ärzteschaft infolge dessen, gestützt auf einen Basiskonsens der gesamten Professionsgemeinschaft, der eben nicht das Maximum für jeden einzelnen Arzt und jede einzelne Ärztin bedeutet, wieder die bestimmende, verantwortende und die verantwortliche Kraft im Gesundheitssystem wird.

Ich möchte ferner die Botschaft vermitteln, dass uns letztlich nur wechselseitiger Respekt der Akteure und kein in Beton gegossener Fundamentalismus weiterbringt und dass vor allem Vertrauen der Beteiligten zueinander, vor allem aber Vertrauen zwischen Arzt und Patient die Basis dieses Gesundheitssystems bleiben muss.

So viel zunächst einmal zum Programm der nächsten Minuten.

Eines der zentralen Kennzeichen dieser Zeit ist aus meiner Sicht ein riskanter Verlust von Vertrauen in zentrale gesellschaftliche Institutionen und Systeme. Dieser Vertrauensverlust überträgt sich schrittweise auch auf die handelnden Personen, die diese Systeme steuern und tragen. Misstrauen durchdringt wie ein Kriechöl viele gesellschaftliche Bereiche. Schlagartig werden uns auf diese Weise unsere Lebensrisiken deutlich. Sicher Geglaubtes steht infrage und wir spüren sehr schnell, dass überall da, wo wir misstrauisch werden oder sogar misstrauisch werden müssen, unser Aufwand steigt.

Alltägliche Lebensvollzüge, die uns bisher nur am Rande beschäftigten, verlangen inzwischen komplizierte Entscheidungen. Steigen wir eigentlich noch unbefangen in einen Intercity, nachdem sich die Achsen solcher Züge als brüchig erwiesen haben? Welche Gedanken beschäftigen uns, wenn wir unser sauer verdientes Geld anlegen? Reicht hier noch ein kurzer Anruf bei „unserer“ so genannten „Hausbank“? Reden wir überhaupt noch von „unserer“ Bank, womit wir ja eine gewisse Vertrautheit und zugleich auch die Bereitschaft ausdrücken, Vertrauen zu schenken?

Vertrauen wir politischen Entscheidungsträgern, ihrer Integrität und der Ernsthaftigkeit ihrer Absichten? Wie steht es um die Manager? Und wie steht es um all die Experten, auf die wir uns bislang im täglichen Leben verlassen haben: Ärzte und Anwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, Apotheker, Architekten und Ingenieure und nicht zuletzt die Vielzahl von Sachverständigen, die uns durch ihren Sachverstand von den Begrenzungen unseres Verstands entlasten und fachliche Lösungen liefern sollen?

In den meisten Lebenssituationen sind wir Laien, angewiesen auf Experten und damit angewiesen auf das Vertrauen in diese Experten, aber weit darüber hinaus angewiesen auf viele Funktionssysteme, die wir alle inzwischen für selbstverständlich halten. Vertrauen in diese Systeme ist ein zentrales gesellschaftliches Bindemittel; Misstrauen hingegen ist die Grundlage für die Erosion dieser Systeme.

Es gilt: Würde Misstrauen unser Handeln bestimmen, stiegen allerorts unsere Kosten, denn wir müssten jede unserer Entscheidungen immer wieder neu durch eigene Recherchen absichern und ihre Folgen kontrollieren. Sehr bald würden wir allerdings feststellen, dass wir dieser Aufgabe nicht gewachsen wären. Das Leben wäre überkomplex. Vertrauen aber reduziert Komplexität.

Die Ursachen für das Misstrauen in Experten sind vielfältig. Bezogen auf das Gesundheitssystem wächst ganz offensichtlich offen und zum Teil verdeckt die Skepsis aller handelnden Akteure, insbesondere auch die Skepsis innerhalb der Bevölkerung. Das Gesundheitssystem ist ein für das Gemeinwohl zentrales System, denn körperliche Gesundheit ist Voraussetzung für Gemeinwohl. Dieses System hat in der Zwischenzeit einen Komplexitätsgrad erreicht, der nahezu alle, die mit ihm zu tun haben, kontinuierlich überfordert und ständig irritiert. Spätestens dann sollte man hellwach werden, wenn die Sprache schon beim „morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich“ oder – wie im Bankensystem – bei „strategischem Reputationsrisikomanagement“ angekommen ist.

In dem Zusammenhang eine Leitempfehlung für den Deutschen Ärztetag: Wo drei Substantive im Namen der Gesundheitsreform zu einem Hauptwort miteinander verbunden werden, sollte Misstrauen priorisiert werden.

(Beifall)

Es gilt: Systeme, die fortlaufend irritierende Signale aussenden – da ist das Gesundheitssystem sehr prominent –, die niemand mehr versteht, begründen ausgeprägtes Misstrauen, denn Vertrauen basiert auf Klarheit und Verlässlichkeit, auf Konsistenz im Handeln und darauf, dass Erwartungen zuverlässig erfüllt werden.

Es hat – von außen betrachtet – den Anschein, dass alle Versuche, Ordnung in dieses Gesundheitssystem zu bringen, nur dazu beitragen, sein Chaospotenzial zu erhöhen, statt es zu senken: immer neue Botschaften, was das System leistet und was nicht, welche Akteure für welche Verantwortlichkeiten stehen und welche nicht, die Trivialisierung der Medizin als einer Dienstleistung in der „gesundheitsökonomischen Branche“, die Betrachtung der Medizin als einer „Produktwelt“, in der „Kunden“ Dienste ordern wie beim Pizza-Service, die Verengung des Blicks auf Kosten-Nutzen-Relationen, ohne dass der Charakter von medizinischen Leistungen im Sinne von Vertrauensgütern einbezogen wird.

Kein Zweifel: Ökonomische Überlegungen können auch im Bereich des Gesundheitswesens nicht ausgeblendet werden; aber noch weniger steht infrage, dass diese ökonomischen Überlegungen in einen Werterahmen eingebettet werden müssen, der die Prioritäten im Gesundheitssystem nach den Kriterien der Fachlichkeit und persönlichen Verantwortbarkeit durch Ärzte als Fachleute festlegt. Hierauf komme ich noch zurück. Verzichtete man auf diese eingrenzende Rahmung, so würde sich sehr schnell herausstellen, dass die Ökonomie, auch in der Erscheinungsform der „Gesundheitsökonomie“, per se keine Ethik kennt – mit allen negativen Folgen für unsere Gesamtgesellschaft.

Sicherung von Vertrauen in die freien Berufe und speziell in die Ärzteschaft heißt, Vertrauenswürdigkeit auf mindestens drei Ebenen sicherzustellen: Vertrauenswürdig muss die Ärzteschaft als ein Expertensystem sein, welches unabhängig von Einzelpersonen funktioniert; vertrauenswürdig müssen die Organisationen sein, in denen die ärztliche Leistung bereitgestellt wird, also vor allem Krankenhäuser und Arztpraxen; und vor allem müssen die Ärzte als Personen vertrauenswürdig sein, denn sie sind die personalen Zugangspunkte zum Gesundheitssystem, sie verkörpern also die „gesichtsabhängige“ Seite unseres Problems.

Das Gesundheitssystem bedarf, wenn es Vertrauenswürdigkeit festigen oder auch wiederherstellen will, neuer Legitimation. Es ist eine Daueraufgabe, solche Legitimationen herzustellen. Jede Generation muss der nachfolgenden erläutern, warum bestimmte Institutionen im Sinne von Regeln mit klarem Geltungsanspruch sachgerecht und moralisch vertretbar sind. Das nennt man Legitimierung.

So muss klargestellt werden, welche Erwartungen an das Gesundheitssystem legitimerweise gestellt werden können. Dies schließt den Ausschluss von Erwartungen aus dem Reich der nahezu unbegrenzten Möglichkeiten zweifellos ein. Gemeinwohlbelange werden in einer pluralen Gesellschaft von den verschiedensten Akteuren vorgetragen und im öffentlichen Diskurs begründet. Herr Katzenmeier hat heute Morgen schon darauf hingewiesen.

Gerade in diesen Krisenzeiten wäre es wünschenswert, wenn dieser Prozess offen, transparent und klar abliefe. Allerdings ist augenscheinlich das Gegenteil der Fall. Damit aber ist Vertrauensverlust in das Gesundheitssystem für die Zukunft vorprogrammiert – mit allen Risiken für die handelnden Akteure.

Umso wichtiger ist es, den Stellenwert des zentralen Berufs im Gesundheitswesen, des Arztberufs, genauer zu bestimmen, eines Berufs, der einst als „Leitprofession“ im Gesundheitswesen galt, dem viele Menschen – vermutlich die meisten von uns – vertrauen, der allerdings in diesen Zeiten Mechanismen der Trivialisierung, leider – meine Damen und Herren, lassen Sie mich dies deutlich sagen – auch der Selbsttrivialisierung unterliegt, die nachdenklich machen.

Viel wäre in diesem Zusammenhang über die veröffentlichte Meinung zur Ärzteschaft zu sagen. Ich möchte mir das heute ersparen. Sie bewegen sich ja in einem Spannungsfeld von ständigem medialen Auftrieb, immer rund um Ärztetage, wo Themen hochgekocht und dann wieder fallen gelassen werden, wie das so üblich ist, und ansonsten auch einer Trivialisierung durch die Medien in Form diverser Gesundheitssendungen, die mittlerweile schon den Charakter von Kochsendungen haben. All dies ist sozusagen der Würde Ihres Berufs nur bedingt angemessen.

(Beifall)

Die entscheidende Trivialisierung des Arztberufs besteht in der ökonomistischen und funktionalen Verengung der Sichtweise Ihres Berufs. Ich will das an einigen Bildern hinsichtlich dieses Berufs verdeutlichen:

      Der Arzt als „Dienstleister“: Mündige und rationale, voll aufgeklärte Verbraucher geben an ihn ihre „Bestellungen“ auf, nehmen die Leistungen entgegen, evaluieren sie und entscheiden nach dem Grad ihrer Kundenzufriedenheit über die Wiederbeauftragung;

      der Arzt als „Reparateur“: Er ist in der Lage, perfekte Werkstattabläufe zu organisieren, Altteile auszutauschen und gelegentlich fantasievoll auch schwierige Reparaturen durchzuführen. Der Patient verlässt sich auf diese Art der Beherrschung seines Körpers als Maschine;

      der Arzt als „Restaurateur“: Er ist mit hohem ästhetischen Anspruch ausgestattet und vermag es, alterndes Äußeres in neues, ewig Junges zu verwandeln;

      der Arzt als „Unternehmer“ wie jeder andere Unternehmer, der seinen Gewinn maximieren will. Sein Kunde weiß dies, vergleicht die Preise, bedient sich fallweise bei „Discountern“ im Sinne von „McHerz“, „McZahn“, „McLeber“ oder gelegentlich auch im „Premiumsegment“ in einer „Wohlfühlklinik“; es fehlt eigentlich nur, dass Herzoperationen demnächst bei Ebay versteigert werden;

      der Arzt als „Fließbandarbeiter“: spezialisiert, effizient, strukturiert nach „Verrichtungen“, wie die Ökonomen sagen, Meister der kleinen Schritte, Perfektionist, diszipliniert die Zahl der Fälle dokumentierend, wie viele Knie- und Hüftoperationen, wie viele Herzkatheteruntersuchungen, Zahl der Sonografien, Patienten pro Woche, Durchschnittserlöse, Steigerungsraten – ein „Hamster im Rad“.

Wäre dies das Arztbild der Zukunft, meine Damen und Herren, dürfte die Hoffnung auf Gemeinwohlbelange, die mit dem Gesundheitssystem aufgegriffen und verfolgt werden sollen, in weiten Teilen trügerisch und im Ergebnis wohl vergeblich sein. Krankheit wäre als Unfall oder Peinlichkeit der Natur mit korrigierbaren Folgen trivialisiert, Lebensrisiken wären als Pannen, Ungewissheiten über den Ausgang von Behandlungen als Kollateralschäden oder aber Krankheit als „Fall“ mehr oder minder austauschbar. Gesundheit hätte den Charakter eines öffentlichen Gutes, von dem niemand ausgeschlossen werden sollte, verloren. Man wäre sich bewusst geworden, dass es natürlich grundsätzlich möglich ist, Menschen von Gesundheit auszuschließen. Aber man muss es auch verantworten. Hier sollte die Politik gut überlegen, was sie tut.

Doch was ist nun gewollt? Eine Mischung all dessen oder die Rückbesinnung auf das Leitbild des Professionals, des Mitglieds einer Professionsgemeinschaft, einer Gemeinschaft derer, die eine wissenschaftliche Ausbildung durchlaufen haben und sich konsequent auf die hierdurch erworbene Fachlichkeit berufen? Die Besinnung auf eine Professionsgemeinschaft, die Fachlichkeit mit Selbstkontrolle verbindet, Selbstkontrolle des einzelnen Arztes, aber auch Selbstkontrolle der Fachgemeinschaft als Ganzer, also Kontrolle unter Gleichen? Gerade letztere Regel macht großen Sinn, weil die Kontrolle durch dritte Außenstehende eben keine fachliche Kontrolle verspricht, auch nicht die Kontrolle durch Politik, durch Krankenversicherung oder wen auch immer. Richter, die in Gerichtsverfahren Ärzte kontrollieren, bedienen sich selbst wiederum – übrigens auch aus guten Gründen – des Sachverstands von Ärzten, um Sachverhalte überhaupt beurteilen zu können.

Ist ein Arzttypus gemeint, der sich freiwillig auf eine bestimmte Berufsethik, einen „ethical code“ verpflichtet? Eine solche Verpflichtung, meine Damen und Herren, hätten wir uns bei manchem Manager oder leitendem Angestellten etwa in Großkonzernen oder in einem Bereich, den man beschönigend mit „Finanzdienstleistungen“ überschreibt, hier und da gewünscht. Über diese ärztliche Ethik soll sichergestellt werden, dass die Funktion eines heilenden Berufs die ärztliche Tätigkeit primär trägt. Der Arzt ist also offenkundig kein Kosmetiker und er ist ebenso wenig in der Funktion dessen, der die Schöpfung neu erfindet. Er ist – um an heute Morgen anzuschließen – eben auch kein Funktionär austeilender Gerechtigkeit, der ständig den Mangel verwalten und es dem Endverbraucher verkünden muss.

Die Ethik des Arztes stellt darüber hinaus sicher, dass sich der Arzt auf den Patienten verpflichtet, dessen Wohl in den Vordergrund und damit sein eigenes Wohl immer wieder in den Hintergrund stellt, um zugleich den Freiraum, den Handlungsspielraum, die Autonomie zu beanspruchen, im wohlverstandenen Interesse des Patienten zu handeln.

Die entscheidende Situation im Zusammenhang mit der Sicherung des Zentralwerts „Gesundheit“ ist die Arzt-Patient-Beziehung. Sie bedarf der ethischen Reflexion und der moralischen Regelbindung, weil sie für den Patienten riskant ist und dem Arzt außerordentliche Lasten und wiederum eigene Risiken auferlegt. Deswegen müssen Bedingungen geschaffen werden, unter denen Ärzte Verantwortung übernehmen und Verantwortlichkeit entwickeln können. Sie werden Vertrauen nur empfangen können, wenn sichergestellt ist, dass sie dieses Vertrauen nicht im eigenen Interesse ausnutzen, also opportunistisch handeln, wenn sichergestellt ist, dass unbedingte Vertraulichkeit als Bedingung für Vertrauenswürdigkeit anerkannt wird, wenn klar ist, dass nur konsequente Fachlichkeit entscheidet, also keine ökonomischen Fremdinteressen, und wenn sicher ist, dass Patienten sich nicht nur auf die Unabhängigkeit ihrer Ärzte von Drittinteressen verlassen können, sondern auch anerkennen müssen, dass Ärzte auch ihnen gegenüber zugleich nahe und distanziert bleiben werden, um sachgerecht entscheiden zu können.

In dem Gesamtzusammenhang ist gerade, wie Sie vielleicht schon gehört haben, vom Europäischen Gerichtshof ein wichtiges Urteil gesprochen worden, welches das Verbot des Fremdkapitalbesitzes an Apotheken und damit wohl auch an Arztpraxen festschreibt. Ich halte das für ganz richtig, denn anderenfalls gelangen Sie unweigerlich in Abhängigkeiten, die übrigens in der Forschung schon seit Jahrzehnten kritisch gesehen und diskutiert werden.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, Ärzte sind keineswegs nur technische Wissensanwender, denn die Medizin ist eine „praktische Wissenschaft“, die sich im praktischen Vollzug am Menschen entwickelt. Ärzte handeln an Betroffenen in deren wohlverstandenem Interesse und in dem Bewusstsein, dass die Betroffenen selbst nicht nur Laien sind, sondern gerade auch wegen ihrer Betroffenheit an Urteilsfähigkeit einbüßen. Schon deswegen ist die Fiktion vom mündigen Patienten irreführend – übrigens eine der ganz großen Trivialisierungen dieser Tage.

(Beifall)

Patienten, die nach ausführlicher Internetrecherche dem Arzt die Diagnose gleich mitbringen, damit der Arzt im ersten Schritt die geballte Vorurteilsstruktur, die im Internet transportiert wird, korrigieren muss oder auch den gesamten Informationsmüll, der da haufenweise versammelt wird, sind keine mündigen Patienten, sondern sehr oft auch fehlgeleitete Patienten und damit nicht die leichtesten.

(Beifall)

Gerade Ärzte müssen wissen – und sie erfahren es nahezu jeden Tag –, wo wissenschaftliche Fachkompetenz ihre Grenzen hat, wo also die Wissenschaft sie in Entscheidungssituationen allein lässt, wo nicht mehr statistische „Evidenzen“ ausschlaggebend sind, sondern allein ihr praktisches Entscheidungs- und Handlungsvermögen unter der Bedingung höchster Unsicherheit. Keine formale Qualitätsregel hilft dem Arzt in solchen Situationen. Soll er etwa, bevor er Entscheidungen trifft, einen tiefen Reflexionsprozess über die Evidenz der Evidenz seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse durchlaufen? Nirgendwo mehr als in der Medizin wird täglich erfahrbar, dass wir in nahezu allen Bereichen nur über Erkenntnisse mittlerer Reichweite verfügen, was aber zugleich immer bedeutet, dass auch wissenschaftlich begründete Entscheidungen zumeist solche unter Unsicherheit sind.

Der Soziologe Heinz Bude hat darauf hingewiesen, dass gerade der Arzt eine, wie er es nennt, undefinierbare Verantwortung übernimmt. Da wo Wissenschaft endet, setzt diese Verantwortung ein, in täglichen Entscheidungen, denen er nicht ausweichen kann. Der Arzt kann nicht einfach sagen: Diese Therapie habe ich nicht so gemeint. Wie soll ein Patient das verstehen? Das können vielleicht Finanzdienstleister sagen, die uns die falschen Anlagen verkauft haben: „Diese Anlage habe ich nicht so gemeint.“ Würden Sie es sagen, es hätte unabsehbar kritische, negative Folgen.

Bude bemerkt:

Aus dieser drängenden Konstellation von Unaufschiebbarkeit und Unwiderruflichkeit erwächst die Kompetenz zu einer praktischen Verantwortungsethik professionellen Handelns.

Schon diese Begrifflichkeit deutet darauf hin, dass Ärzte in ihren Entscheidungssituationen letztlich alleine dastehen. Sie benötigen – das ist zunächst einmal eine der zentralen Botschaften für einen freien Beruf – ein Umfeld, auch ein politisches Umfeld, das sie trägt, und eine Ethik, die ihrem Handeln ein nachvollziehbares, weil reflektiertes Fundament gibt. Jeder einzelne Arzt weiß aus dem Umgang mit kritischen Situationen, dass er – neben dem Patienten – letztlich einen großen Teil der Last der Entscheidung zu tragen hat, nicht seine Praxis oder seine Klinik oder seine Haftpflichtversicherung oder die Pharmaindustrie oder die Krankenkasse oder die Gesundheitspolitik. Gerade dieser Umstand verlangt genaue Überlegungen hinsichtlich der Sicherung eines Handlungsspielraums für jeden Arzt, will man die Möglichkeit offenhalten, dass auch in Zukunft Verantwortung und persönliche Verantwortlichkeiten im Arztberuf, verbunden mit der Bereitschaft zur Übernahme erheblicher persönlicher Risiken, eine zentrale Rolle spielen.

Freiberuflichkeit, meine Damen und Herren, manifestiert sich, wenn man diesen Überlegungen folgt, in der freien Entscheidung, Verantwortung zu übernehmen und verantwortlich zu handeln. Verantwortlichkeit bezieht sich immer auf Personen, bei Ärzten darauf, dass sie nicht nur Wissen anwenden, sondern fähig und bereit sind, sich auf andere Menschen einzulassen, also täglich Empathie zu entwickeln und das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz gegenüber dem Patienten auszutarieren. Die Frage nach der Freiberuflichkeit hat hier ihren Kern: Es geht um Verantwortung, nicht nur im Sinne von Zuständigkeit und pflichtgemäßem Handeln, sondern im Sinne der Übernahme von Risiken, es geht um Verantwortlichkeit im Sinne des Sich-auf-Patienten-Einlassens, aber auch im Sinne des Einstehens für die Folgen des eigenen Handelns, also die persönliche Übernahme von Risiken.

Die Komplexität der Entscheidungssituationen von Ärzten ergibt sich aus der Begrenztheit des verfügbaren Wissens, aus der Notwendigkeit von Entscheidungen unter Unsicherheit, daraus, dass im wohlverstandenen Interesse von Patienten entschieden werden muss, notfalls also auch gegen deren gelegentlich vordergründige Interessen. Denken Sie nur an die sogenannte Wellnessmedizin. Patienten verdienen Respekt, bedürfen aber auch der Aufklärung und distanzierter, aber zugleich vertrauensvoller Beratung. Freiberufler kennzeichnet die Bereitschaft, sich auf solche komplexen Situationen einzulassen in der eigenen Praxis, in Partnerschaften, in der Kooperation mit Kollegen und in größeren Organisationen.

Sie können dies nur tun – damit bin ich bei dem zweiten zentralen Punkt der Definition von Freiberuflichkeit –, wenn ihnen Autonomiespielräume gewährt werden, die sie benötigen, um unter Risiko entscheiden zu können. Der Arzt muss unabhängig von Fremdinteressen bleiben, wer auch immer sie artikuliert.

Damit stellen sich für eine Neubestimmung von Freiberuflichkeit andere Fragen als die der Befreiung der Freiberufler von der Gewerbesteuer. Gefragt werden muss, welche Probleme sich im Zusammenhang mit der Autonomie der Ärzte stellen, wodurch Autonomie bedroht ist und wie sie gesichert werden kann.

Einige dieser Probleme seien angesprochen:

Autonomie ist zunächst einmal eine Frage innerer Haltung und gelebter Berufsmoral. Sie muss gelebt, erkämpft und behauptet werden. Viele Beispiele, gerade auch von Ärzten, zeigen, dass es autonome Persönlichkeiten waren, die die beruflichen Handlungs- und Entscheidungsspielräume der Ärzte erstritten haben, und dabei muss es bleiben.

Autonomie der Ärzteschaft als Professionsgemeinschaft ist eine Frage ihrer Fähigkeit zur Verständigung auf gemeinsame Werte, eine gemeinsame Berufsmoral, der man sich freiwillig mit allen Konsequenzen unterwirft. Meine Damen und Herren, aus meiner Sicht stehen die Zeichen der Zeit an dieser Stelle nicht gut. Die zunehmende Heterogenität der Ärzteschaft begünstigt eher ihr Auseinanderdriften. Die Spezialisierung und die Bildung von immer kleineren Fachgemeinschaften innerhalb der Ärzteschaft führen zu unterschiedlichen Interessen und führen letztlich zu Zentrifugalkräften innerhalb der Ärzteschaft, die Sie beherrschen lernen müssen, weil sonst erhebliche negative Konsequenzen für Ihren gesamten Berufsstand ins Haus stehen.

(Beifall)

Diese Entwicklung ist ja kein persönliches Versagen der Ärzte, sondern in fast allen klassischen Professionen in mehr oder minder fortgeschrittener Form deutlich erkennbar. Überall wachsen die Wissensbestände, überall nimmt die Spezialisierung zu. Überall bilden sich einzelne Fachgemeinschaften. Damit aber haben Sie eine zentrale Integrationsaufgabe, die Voraussetzung ist, über diesen freien Beruf als einer Einheit in Zukunft nachdenken zu können und ihn so praktizieren zu können.

Damit nicht genug: Nicht nur die Politik, sondern auch Vertragspartner der Ärzte erkennen ihre Chance, eigenen Einfluss zu stärken und die Ärzteschaft geradezu genüsslich in Segmente zu zerlegen und damit zugleich die Risiken einzelner Ärzte oder Gruppen von Ärzten zu erhöhen.

Meine Damen und Herren, das ist ein Risiko, das Sie sehr ernst nehmen sollten. Wir sind auf diesem Weg leider schon weit fortgeschritten. Autonomieverlust der Ärzte wird die eine Folge sein, Machtverlust der Ärzteschaft als Profession die absehbare andere Folge.

(Beifall)

Autonomes Handeln im Interesse von Patienten ist dann nicht zu erwarten, wenn immer mehr Ärzte in wirtschaftliche Abhängigkeiten geraten, und auch dann, wenn sie ihre wirtschaftlichen Risiken nicht mehr absehen können. Niemand kann den Ärzten oder auch anderen Professionen dauerhaft Altruismus abverlangen. Das ist eine sehr idealistische Überlegung im Zusammenhang mit Professionen immer gewesen, aber sie ist nur idealistisch, nicht realistisch. Altruistische Forderungen werden ja zumeist an jeweils andere gerichtet. Diese Forderung ist eine Überstrapazierung üblicherweise zu erwartenden Verhaltens. Der Soziologe Hartmut Esser stellt hierzu fest: Ohne irgendeine Fundierung in den Interessen der Menschen oder gar gegen sie kann sich auf die Dauer die Legitimität einer institutionellen Ordnung nicht halten. Gerade auch aus diesen Gründen müssen sinnvolle Lösungen hinsichtlich angemessener Honorierung der Ärzte gefunden werden.

Wenn ich persönlich hinzufügen darf, am besten wäre: sinnvoll und einfach; denn einfach ist immer vertrauensbildend, komplex in den meisten Fällen nicht.

So paradox es klingen mag, meine Damen und Herren: Auch durch Qualitätsmanagement oder das, was man dafür hält, kann die Autonomie der Ärzte eingeschränkt werden.

(Beifall)

Vor allem Qualitätssicherungssysteme, die zu extensiven bürokratischen Dokumentationspflichten führen, verbrauchen Kapazitäten, die den Ärzten an anderer Stelle fehlen. Dies ist nicht nur ein Ärzteproblem. Ganze Hochschulen drehen sich in der Zwischenzeit im permanenten Evaluationskarussell, ohne dass verbürgte Qualitätssteigerungen sichtbar geworden wären.

(Beifall)

Große Betrugsfälle in der Wirtschaft, etwa der Enron-Skandal, haben zum Beispiel bei Wirtschaftsprüfern zu ausgeklügelten Systemen der Qualitätskontrolle geführt. Sie merken es vielleicht an Ihrer eigenen Steuererklärung: Früher war die Steuererklärung zehn Seiten lang, sie ist heute, wenn Ihnen der Steuerberater sämtliche Unterlagen schickt, eher 30, 50 oder 70 Seiten lang, weil noch alle Absicherungspflichten des Steuerberaters abgearbeitet werden müssen.

Das Ergebnis ist ein erheblicher Flächenverbrauch auf Datenfriedhöfen, ohne dass abschließend ein Qualitätszuwachs nachgewiesen wäre. Ich persönlich frage mich immer: Wer nimmt eigentlich diese Daten, die wir produzieren, überhaupt noch zur Kenntnis? Wir haben den Eindruck: Die Ministerialbürokratie ist nur froh, wenn viele Daten vorliegen, welcher Art auch immer.

(Beifall)

Ich habe es schon angedeutet: Auch die großen Korruptionsfälle führen zu solchen bürokratisierten Systemen, deren sich vor allem Misstrauensorganisationen sehr gerne bedienen. Das ist eindeutig ein Reflex jeder Krise, auch der Krise des sogenannten Finanzdienstleistungssystems: Ist das Kind erst einmal in den Brunnen gefallen, kommt Sankt Bürokratius und sagt, jetzt wird alles dokumentiert, verschriftlicht, kontrolliert, rückgemeldet, Feedback wird organisiert, es wird noch einmal durch den Wolf gedreht, es werden formelle Regeln aufgestellt.

So wird kein System effizient, aber es wird mit hundertprozentiger Sicherheit ein Misstrauenssystem und kein Vertrauenssystem.

(Beifall)

Ich möchte fragen: Warum wird nicht derselbe Aufwand in die Bildung von Vertrauen zu Organisationen gesteckt, in die Vermittlung und die Internalisierung innerer Haltungen, die zu gelebter Qualität und nicht nur zu formal dokumentierter Qualität führen?

(Beifall)

Neudeutsch könnte die Kompromissformel lauten: Compliance und Integritätsmanagement ergänzen sich, weil Qualität verbindlich durchgesetzt, aber auch aus Überzeugung und nicht nur unter Druck gelebt werden muss.

Die Autonomie der Ärzte, meine Damen und Herren, kann auch eingeschränkt werden durch beschränkte Zugänge zu notwendigem Wissen etwa in Form der Privatisierung solchen Wissens und auch durch seine selektive oder gar vorgefilterte Weitergabe. Auch hier stellt sich eine Zukunftsaufgabe in Form der verbürgten Offenhaltung von Wissenskanälen und unabhängiger Wissensvermittlung. Ich persönlich sehe hierin vor allem auch eine Aufgabe der Kammern, die dafür sorgen müssen, dass ungefiltertes Wissen auch an die Ärzte gelangt. Dies ist eine Aufgabe der Gesamtprofession, will sie nicht gänzlich in Abhängigkeit von wirtschaftlichen Interessen der Industrie geraten.

Ich will das gar nicht weiter erläutern, aber doch darauf hinweisen, dass sozusagen die Privatisierung von Wissen, etwa durch große Agrarerfindungskonzerne, ein echtes Risiko für uns alle darstellt. Wir sollten das ernst nehmen und uns Lösungen anderer Art ausdenken.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, eine große Zahl von Ärzten ist in der Zwischenzeit abhängig in Organisationen der verschiedensten Art und Größe beschäftigt. Für sie stellt sich das klassische Problem einer Kollision von wirtschaftlichen Organisationszielen mit ärztlichen Entscheidungen. Das ist eigentlich nichts Neues. Ich erinnere mich, dass mein Schwiegervater, Chef einer Inneren Abteilung, schon vor 40 Jahren den Dauerkonflikt mit seinem Verwaltungschef über die Anschaffung von Gerät und Material sowie die Ausstattung mit Personal geführt hat. Es gab schon immer Kollisionen zwischen der Wirtschaftlichkeit einer Organisation, auch einer Klinik, und den jeweiligen ärztlichen Entscheidungen, also ärztlicher Autonomie.

Dies ist weniger eine rechtliche Frage, da sich die Weisungsgebundenheit des Dienstherrn nicht auf die ärztlichen Belange richtet. In tatsächlicher Hinsicht muss allerdings damit umgegangen werden, dass informelle Erwartungen an Mitarbeiter sozusagen subkutan auch faktische Wirkungen entfalten können. Ich halte das für eine ganz große Gefahr, die sich mit zunehmender Ökonomisierung des sogenannten Gesundheitssystems immer weiter verschärfen wird. Hierin kann eine echte Bedrohung von ärztlicher Autonomie liegen.

Ich denke etwa an die insbesondere in den USA breit geführte Debatte über sogenanntes „whistle blowing“, also das „Verpfeifen“ der eigenen Organisation bei unethischem Verhalten. Diese Debatte wird ja in der Zwischenzeit wieder geführt, weil wir die Doppelmoral eines Systems erlebt haben. Auf den Internetseiten der großen Konzerne, um die es hier geht, fanden wir solche Ethikcodes, wie man sich denn ethisch zu verhalten habe. Subkutan, also im Flurfunk, im informellen Programm dieser Organisationen wurde mitgeteilt – oder besser: geflüstert –: Verhalte dich nur nicht so, es entspricht nicht unseren Erwartungen an Gewinnmaximierung.

Es ist eine große Bedrohung auch für die Ärzteschaft, insbesondere für diejenigen Ärzte, die in großen Organisationen beschäftigt sind.

(Beifall)

Es ist eine zentrale Zukunftsaufgabe, dieses Problem der Autonomiesicherung in medizinischen Einrichtungen anzugehen und nicht nur für rechtliche Garantien, sondern auch für faktische Absicherung der ärztlichen Autonomie zu sorgen. Letztlich ist dies immer eine Frage der Organisationskultur, also, wie ich gesagt habe, gelebter Autonomie und damit notfalls auch eine Frage des Widerstands der Ärzte gegen die Ökonomisierung.

(Beifall)

Das Autonomieproblem kehrt sich gleichsam um, wenn man es im Gesamtzusammenhang der zentralen Tendenz in der Medizin zu immer weiter fortschreitender Spezialisierung betrachtet. Zweifellos ist diese Tendenz angesichts der Komplexität von Wissen und der Dynamik seiner Entwicklung stabil. Die Frage lautet: Wie kann unter der Bedingung fortschreitender Spezialisierung einerseits die Autonomie der Ärzte gesichert, andererseits aber dafür gesorgt werden, dass die autonomen Einzelentscheidungen der Spezialisten zusammengeführt und verantwortet werden können? Wer trägt diese Verantwortung? Ist es überhaupt möglich, Spezialisten so zu vernetzen, dass sie zu gemeinsam verantworteten Urteilen kommen? Wie sehen Organisationsformen aus, die vernetzte Entscheidungen dieser Art ermöglichen?

Franz-Xaver Kaufmann gelangt in seinem Buch „Der Ruf nach Verantwortung“ zu der Einschätzung, dass in solchen komplexen Entscheidungssituationen die Einbettung der Professionals in Organisationen, also etwa in Kliniken, klare Vorteile hat. Seiner Meinung nach haben Organisationen die Möglichkeit, ihre Mitglieder, also auch die in ihnen beschäftigten Ärzte, auf gemeinsame Ziele zu verpflichten, Entscheidungen in Teams zu treffen und damit die Risiken zu verteilen, die Entscheidungen gut zu dokumentieren, komplexe Entscheidungen zu treffen, weil sie die Möglichkeit haben, Spezialisten – sozusagen unter einem Dach – zu vernetzen, weil sie rechtlich auf der Höhe der Zeit seien und damit ihre Haftungsverpflichtungen gut einschätzen könnten und schließlich gut kontrollierbar seien. Ist dies – so müssen wir natürlich fragen – das Ende der Arztpraxis?

Sosehr diese Sichtweise auf den ersten Blick nachvollziehbar sein mag, sosehr stellen sich aus meiner Sicht neue Fragen: Wird nicht grundsätzlich Verantwortung durch immer kleinteiligere Spezialisierung so stark in einzelne Teile zerlegt, dass sie im Ergebnis auch und gerade in größeren Organisationen nicht mehr zugerechnet werden kann? Gehen in großen Kliniken die verantwortlichen Akteure für die integrierte Gesamtverantwortung verloren? Besteht nicht gerade in solchen Organisationen die Tendenz, Verantwortlichkeit an Dritte abzuschieben oder auch zurückzudelegieren, sodass im Ergebnis wiederum einzelne Personen Verantwortung übernehmen müssen? Verfügen Organisationen über ein „Gewissen“ und damit über eine frühzeitig kontrollierende Instanz?

Kaufmann selbst sagt: Nein! Organisationen verstehen, wie er sagt, nur die Sprache des Rechts. Dann aber ist zu fragen, ob die Grenzen ärztlicher Tätigkeit nur mehr durch das Recht gezogen werden sollten, ob also rechtliche Haftungsrisiken ausreichen, um im Sinne der Patienten zu garantieren, dass Spezialisten ihre autonomen Einzelentscheidungen abstimmen und zu integrierten Entscheidungen für den Patienten gelangen.

Dieses Problem reicht angesichts der großen Zahl niedergelassener Ärzte selbstverständlich weit über die Vernetzungsproblematik in Kliniken hinaus. Wie gelangt man zu Organisationsformen ärztlichen Handelns, die autonome spezialisierte Einzelentscheidungen über Wohl und Wehe von Patienten sozusagen in gesamtärztlicher Verantwortung zu abgestimmten Konzepten zusammenfügen? Das ist ein Problem jedes spezialisierten Arztes eigentlich täglich. Aber Sie wissen auch: Es ist sehr schwer, hierfür praktische Lösungen zu finden.

Gerade wenn es Zweifel gibt, dass diese Integrationsproblematik in großen Organisationen gelingt, ist zu fragen, ob eine Zukunftsform der ärztlichen Praxis die Partnerschaft in Form einer Sozietät – analog zu bewährten Anwaltssozietäten – sein könnte. Meine Damen und Herren, Sie alle wissen, wovon ich rede, jeden Tag. Patienten, die drei bis vier Spezialisten gleichzeitig benötigen, haben möglicherweise überhaupt keinen verantwortlichen Ansprechpartner mehr. Sie sind zwar umzingelt von Experten, haben aber keinen Einzelexperten mehr, dem sie ihr ganzes Vertrauen schenken.

Es stellt sich also das Problem der Vernetzung der Spezialisten und es hat sich gezeigt, dass dies keineswegs ein triviales Problem ist, gerade weil es im praktischen Berufsalltag zu ganz erheblichen Organisationsproblemen führt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe einige Fragen angerissen, deren sich die Ärzteschaft mit großer Dringlichkeit annehmen muss, Fragen Ihrer Autonomie, eines neuen Verständnisses von Freiberuflichkeit. Ich befürchte, wenn diese Fragen nicht gelöst werden, dass die Professionsgemeinschaft der Ärzte, die das Gesundheitswesen täglich verantwortet, im politischen Spiel der Kräfte immer mehr ins Hintertreffen gerät. Dies hielte ich für fatal. Allerdings hilft hier kein Lamento, sondern nur eine aktive Überzeugungsleistung der Ärzteschaft gegenüber allen gesellschaftlichen Kräften. Die Ärzteschaft muss wieder die Themenführerschaft gewinnen. Dies kann sie nur mit überzeugenden Konzepten für die Zukunftsorganisation eines Gesundheitswesens, das vor allem die wohlverstandenen Interessen der Patienten im Auge haben sollte.

Meine Damen und Herren, auch dies sei gesagt: Ich glaube nicht, dass Sie das hinbekommen durch besondere Lautstärke in Ihrer Medienarbeit, sondern nur durch überzeugende Konzepte. Wenn Sie Dieter Bohlen als Pressesprecher der Bundesärztekammer beschäftigen würden, wären Sie zwar auf einen Schlag lauter, aber in der Sache nicht unbedingt wirksamer.

(Beifall)

Die fachliche Unabhängigkeit der Ärzte, ihre konsequente Bindung an eine differenziert begründete Berufsmoral ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass wir dem Gesundheitssystem vertrauen. Es gilt der Satz der Philosophin Sisela Bok:

Was immer den Menschen wichtig ist, es gedeiht in einer Atmosphäre des Vertrauens.

Ich möchte hinzufügen: nur in einer Atmosphäre des Vertrauens.

Vielen Dank.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank, Herr Professor Hommerich, für diesen Vortrag, der uns noch einmal ganz klar gemacht hat, auf welche Weise wir in der Gesellschaft hantieren müssen, wie wir weiter vorgehen müssen. Ich glaube, dass wir gestern und heute ein Stück des Zipfels, den Sie uns als ganzes Tuch vorgestellt haben, angepackt haben, um in die Offensive zu kommen, allerdings mit einem Thema, das unglaublich schwer zu vermitteln ist, aber auf Dauer hohes Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit erzeugen wird oder, soweit es noch vorhanden ist, auch verteidigen wird. Noch einmal vielen herzlichen Dank für Ihren Vortrag.

Jetzt kommt Professor Fuchs, der uns das Thema aus der Sicht des Arztes nahebringen wird. Er vertritt die Bundesärztekammer im Berufsverband der Freien Berufe. Deswegen ist er prädestiniert, uns dieses Thema aus ärztlicher Sicht vorzustellen. Bitte schön, Professor Fuchs.

© Bundesärztekammer 2009