Prof. Dr. Hommerich,
Referent: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Auch ich möchte mich, sozusagen Herrn Katzenmeier folgend, herzlich für
die Einladung bedanken, und zwar nicht nur pflichtschuldigst, sondern aus
voller Überzeugung. Ich befasse mich jetzt schon seit 25 Jahren mit der
Entwicklung der freien Berufe und freue mich natürlich, die Chance zu bekommen,
auf dem Ärztetag über das Berufsbild und seine Gefährdungen sprechen zu können.
Meine Botschaft an diesen Ärztetag
besteht darin, zu begründen, dass Freiberuflichkeit eine innere Haltung ist,
dass die Ärzteschaft, die für den Zentralwert Gesundheit steht, ihre Rolle als
eine Leitprofession im Gesundheitswesen aktiv wahrnehmen muss, dass der
fortschreitende Ökonomismus der sogenannten Gesundheitswirtschaft ein zerstörerisches
Übel ist und dass die Ärzteschaft, wenn sie wirksam agieren will, ihre
Zentrifugalkräfte beherrschen und disziplinieren muss, um nicht vor lauter
Eitelkeit der einzelnen Gruppierungen in ihre Einzelteile zu zerfallen und
damit ihre legitimatorische Kraft zu verlieren, dass die Ärzteschaft infolge
dessen, gestützt auf einen Basiskonsens der gesamten Professionsgemeinschaft,
der eben nicht das Maximum für jeden einzelnen Arzt und jede einzelne Ärztin
bedeutet, wieder die bestimmende, verantwortende und die verantwortliche Kraft
im Gesundheitssystem wird.
Ich möchte ferner die Botschaft
vermitteln, dass uns letztlich nur wechselseitiger Respekt der Akteure und kein
in Beton gegossener Fundamentalismus weiterbringt und dass vor allem Vertrauen
der Beteiligten zueinander, vor allem aber Vertrauen zwischen Arzt und Patient
die Basis dieses Gesundheitssystems bleiben muss.
So viel zunächst einmal zum
Programm der nächsten Minuten.
Eines der zentralen Kennzeichen
dieser Zeit ist aus meiner Sicht ein riskanter Verlust von Vertrauen in
zentrale gesellschaftliche Institutionen und Systeme. Dieser Vertrauensverlust
überträgt sich schrittweise auch auf die handelnden Personen, die diese Systeme
steuern und tragen. Misstrauen durchdringt wie ein Kriechöl viele
gesellschaftliche Bereiche. Schlagartig werden uns auf diese Weise unsere
Lebensrisiken deutlich. Sicher Geglaubtes steht infrage und wir spüren sehr
schnell, dass überall da, wo wir misstrauisch werden oder sogar misstrauisch
werden müssen, unser Aufwand steigt.
Alltägliche Lebensvollzüge, die uns
bisher nur am Rande beschäftigten, verlangen inzwischen komplizierte
Entscheidungen. Steigen wir eigentlich noch unbefangen in einen Intercity,
nachdem sich die Achsen solcher Züge als brüchig erwiesen haben? Welche
Gedanken beschäftigen uns, wenn wir unser sauer verdientes Geld anlegen? Reicht
hier noch ein kurzer Anruf bei „unserer“ so genannten „Hausbank“? Reden wir
überhaupt noch von „unserer“ Bank, womit wir ja eine gewisse Vertrautheit und
zugleich auch die Bereitschaft ausdrücken, Vertrauen zu schenken?
Vertrauen wir politischen
Entscheidungsträgern, ihrer Integrität und der Ernsthaftigkeit ihrer Absichten?
Wie steht es um die Manager? Und wie steht es um all die Experten, auf die wir
uns bislang im täglichen Leben verlassen haben: Ärzte und Anwälte,
Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, Apotheker, Architekten und Ingenieure und
nicht zuletzt die Vielzahl von Sachverständigen, die uns durch ihren
Sachverstand von den Begrenzungen unseres Verstands entlasten und fachliche
Lösungen liefern sollen?
In den meisten Lebenssituationen
sind wir Laien, angewiesen auf Experten und damit angewiesen auf das Vertrauen
in diese Experten, aber weit darüber hinaus angewiesen auf viele
Funktionssysteme, die wir alle inzwischen für selbstverständlich halten.
Vertrauen in diese Systeme ist ein zentrales gesellschaftliches Bindemittel;
Misstrauen hingegen ist die Grundlage für die Erosion dieser Systeme.
Es gilt: Würde Misstrauen unser
Handeln bestimmen, stiegen allerorts unsere Kosten, denn wir müssten jede
unserer Entscheidungen immer wieder neu durch eigene Recherchen absichern und
ihre Folgen kontrollieren. Sehr bald würden wir allerdings feststellen, dass wir
dieser Aufgabe nicht gewachsen wären. Das Leben wäre überkomplex. Vertrauen
aber reduziert Komplexität.
Die Ursachen für das Misstrauen in
Experten sind vielfältig. Bezogen auf das Gesundheitssystem wächst ganz
offensichtlich offen und zum Teil verdeckt die Skepsis aller handelnden
Akteure, insbesondere auch die Skepsis innerhalb der Bevölkerung. Das
Gesundheitssystem ist ein für das Gemeinwohl zentrales System, denn körperliche
Gesundheit ist Voraussetzung für Gemeinwohl. Dieses System hat in der Zwischenzeit
einen Komplexitätsgrad erreicht, der nahezu alle, die mit ihm zu tun haben,
kontinuierlich überfordert und ständig irritiert. Spätestens dann sollte man
hellwach werden, wenn die Sprache schon beim „morbiditätsorientierten
Risikostrukturausgleich“ oder – wie im Bankensystem – bei „strategischem
Reputationsrisikomanagement“ angekommen ist.
In dem Zusammenhang eine
Leitempfehlung für den Deutschen Ärztetag: Wo drei Substantive im Namen der
Gesundheitsreform zu einem Hauptwort miteinander verbunden werden, sollte
Misstrauen priorisiert werden.
(Beifall)
Es gilt: Systeme, die fortlaufend
irritierende Signale aussenden – da ist das Gesundheitssystem sehr prominent –,
die niemand mehr versteht, begründen ausgeprägtes Misstrauen, denn Vertrauen
basiert auf Klarheit und Verlässlichkeit, auf Konsistenz im Handeln und darauf,
dass Erwartungen zuverlässig erfüllt werden.
Es hat – von außen betrachtet – den
Anschein, dass alle Versuche, Ordnung in dieses Gesundheitssystem zu bringen,
nur dazu beitragen, sein Chaospotenzial zu erhöhen, statt es zu senken: immer
neue Botschaften, was das System leistet und was nicht, welche Akteure für
welche Verantwortlichkeiten stehen und welche nicht, die Trivialisierung der
Medizin als einer Dienstleistung in der „gesundheitsökonomischen Branche“, die
Betrachtung der Medizin als einer „Produktwelt“, in der „Kunden“ Dienste ordern
wie beim Pizza-Service, die Verengung des Blicks auf Kosten-Nutzen-Relationen,
ohne dass der Charakter von medizinischen Leistungen im Sinne von Vertrauensgütern
einbezogen wird.
Kein Zweifel: Ökonomische
Überlegungen können auch im Bereich des Gesundheitswesens nicht ausgeblendet
werden; aber noch weniger steht infrage, dass diese ökonomischen Überlegungen
in einen Werterahmen eingebettet werden müssen, der die Prioritäten im
Gesundheitssystem nach den Kriterien der Fachlichkeit und persönlichen
Verantwortbarkeit durch Ärzte als Fachleute festlegt. Hierauf komme ich noch
zurück. Verzichtete man auf diese eingrenzende Rahmung, so würde sich sehr
schnell herausstellen, dass die Ökonomie, auch in der Erscheinungsform der
„Gesundheitsökonomie“, per se keine Ethik kennt – mit allen negativen Folgen
für unsere Gesamtgesellschaft.
Sicherung von Vertrauen in die
freien Berufe und speziell in die Ärzteschaft heißt, Vertrauenswürdigkeit auf
mindestens drei Ebenen sicherzustellen: Vertrauenswürdig muss die Ärzteschaft
als ein Expertensystem sein, welches unabhängig von Einzelpersonen
funktioniert; vertrauenswürdig müssen die Organisationen sein, in denen die
ärztliche Leistung bereitgestellt wird, also vor allem Krankenhäuser und
Arztpraxen; und vor allem müssen die Ärzte als Personen vertrauenswürdig sein,
denn sie sind die personalen Zugangspunkte zum Gesundheitssystem, sie
verkörpern also die „gesichtsabhängige“ Seite unseres Problems.
Das Gesundheitssystem bedarf, wenn
es Vertrauenswürdigkeit festigen oder auch wiederherstellen will, neuer
Legitimation. Es ist eine Daueraufgabe, solche Legitimationen herzustellen.
Jede Generation muss der nachfolgenden erläutern, warum bestimmte Institutionen
im Sinne von Regeln mit klarem Geltungsanspruch sachgerecht und moralisch
vertretbar sind. Das nennt man Legitimierung.
So muss klargestellt werden, welche
Erwartungen an das Gesundheitssystem legitimerweise gestellt werden können.
Dies schließt den Ausschluss von Erwartungen aus dem Reich der nahezu
unbegrenzten Möglichkeiten zweifellos ein. Gemeinwohlbelange werden in einer pluralen
Gesellschaft von den verschiedensten Akteuren vorgetragen und im öffentlichen
Diskurs begründet. Herr Katzenmeier hat heute Morgen schon darauf hingewiesen.
Gerade in diesen Krisenzeiten wäre
es wünschenswert, wenn dieser Prozess offen, transparent und klar abliefe.
Allerdings ist augenscheinlich das Gegenteil der Fall. Damit aber ist
Vertrauensverlust in das Gesundheitssystem für die Zukunft vorprogrammiert –
mit allen Risiken für die handelnden Akteure.
Umso wichtiger ist es, den
Stellenwert des zentralen Berufs im Gesundheitswesen, des Arztberufs, genauer
zu bestimmen, eines Berufs, der einst als „Leitprofession“ im Gesundheitswesen
galt, dem viele Menschen – vermutlich die meisten von uns – vertrauen, der
allerdings in diesen Zeiten Mechanismen der Trivialisierung, leider – meine
Damen und Herren, lassen Sie mich dies deutlich sagen – auch der Selbsttrivialisierung
unterliegt, die nachdenklich machen.
Viel wäre in diesem Zusammenhang
über die veröffentlichte Meinung zur Ärzteschaft zu sagen. Ich möchte mir das
heute ersparen. Sie bewegen sich ja in einem Spannungsfeld von ständigem
medialen Auftrieb, immer rund um Ärztetage, wo Themen hochgekocht und dann
wieder fallen gelassen werden, wie das so üblich ist, und ansonsten auch einer
Trivialisierung durch die Medien in Form diverser Gesundheitssendungen, die
mittlerweile schon den Charakter von Kochsendungen haben. All dies ist
sozusagen der Würde Ihres Berufs nur bedingt angemessen.
(Beifall)
Die entscheidende Trivialisierung
des Arztberufs besteht in der ökonomistischen und funktionalen Verengung der
Sichtweise Ihres Berufs. Ich will das an einigen Bildern hinsichtlich dieses
Berufs verdeutlichen:
– Der
Arzt als „Dienstleister“: Mündige und rationale, voll aufgeklärte Verbraucher
geben an ihn ihre „Bestellungen“ auf, nehmen die Leistungen entgegen,
evaluieren sie und entscheiden nach dem Grad ihrer Kundenzufriedenheit über die
Wiederbeauftragung;
– der
Arzt als „Reparateur“: Er ist in der Lage, perfekte Werkstattabläufe zu
organisieren, Altteile auszutauschen und gelegentlich fantasievoll auch
schwierige Reparaturen durchzuführen. Der Patient verlässt sich auf diese Art
der Beherrschung seines Körpers als Maschine;
– der
Arzt als „Restaurateur“: Er ist mit hohem ästhetischen Anspruch ausgestattet
und vermag es, alterndes Äußeres in neues, ewig Junges zu verwandeln;
– der
Arzt als „Unternehmer“ wie jeder andere Unternehmer, der seinen Gewinn
maximieren will. Sein Kunde weiß dies, vergleicht die Preise, bedient sich
fallweise bei „Discountern“ im Sinne von „McHerz“, „McZahn“, „McLeber“ oder
gelegentlich auch im „Premiumsegment“ in einer „Wohlfühlklinik“; es fehlt
eigentlich nur, dass Herzoperationen demnächst bei Ebay versteigert werden;
– der
Arzt als „Fließbandarbeiter“: spezialisiert, effizient, strukturiert nach
„Verrichtungen“, wie die Ökonomen sagen, Meister der kleinen Schritte,
Perfektionist, diszipliniert die Zahl der Fälle dokumentierend, wie viele Knie-
und Hüftoperationen, wie viele Herzkatheteruntersuchungen, Zahl der
Sonografien, Patienten pro Woche, Durchschnittserlöse, Steigerungsraten – ein
„Hamster im Rad“.
Wäre dies das Arztbild der Zukunft,
meine Damen und Herren, dürfte die Hoffnung auf Gemeinwohlbelange, die mit dem
Gesundheitssystem aufgegriffen und verfolgt werden sollen, in weiten Teilen
trügerisch und im Ergebnis wohl vergeblich sein. Krankheit wäre als Unfall oder
Peinlichkeit der Natur mit korrigierbaren Folgen trivialisiert, Lebensrisiken
wären als Pannen, Ungewissheiten über den Ausgang von Behandlungen als
Kollateralschäden oder aber Krankheit als „Fall“ mehr oder minder austauschbar.
Gesundheit hätte den Charakter eines öffentlichen Gutes, von dem niemand
ausgeschlossen werden sollte, verloren. Man wäre sich bewusst geworden, dass es
natürlich grundsätzlich möglich ist, Menschen von Gesundheit auszuschließen.
Aber man muss es auch verantworten. Hier sollte die Politik gut überlegen, was
sie tut.
Doch was ist nun gewollt? Eine
Mischung all dessen oder die Rückbesinnung auf das Leitbild des Professionals,
des Mitglieds einer Professionsgemeinschaft, einer Gemeinschaft derer, die eine
wissenschaftliche Ausbildung durchlaufen haben und sich konsequent auf die
hierdurch erworbene Fachlichkeit berufen? Die Besinnung auf eine
Professionsgemeinschaft, die Fachlichkeit mit Selbstkontrolle verbindet,
Selbstkontrolle des einzelnen Arztes, aber auch Selbstkontrolle der
Fachgemeinschaft als Ganzer, also Kontrolle unter Gleichen? Gerade letztere
Regel macht großen Sinn, weil die Kontrolle durch dritte Außenstehende eben
keine fachliche Kontrolle verspricht, auch nicht die Kontrolle durch Politik,
durch Krankenversicherung oder wen auch immer. Richter, die in
Gerichtsverfahren Ärzte kontrollieren, bedienen sich selbst wiederum – übrigens
auch aus guten Gründen – des Sachverstands von Ärzten, um Sachverhalte
überhaupt beurteilen zu können.
Ist ein Arzttypus gemeint, der sich
freiwillig auf eine bestimmte Berufsethik, einen „ethical code“ verpflichtet?
Eine solche Verpflichtung, meine Damen und Herren, hätten wir uns bei manchem
Manager oder leitendem Angestellten etwa in Großkonzernen oder in einem
Bereich, den man beschönigend mit „Finanzdienstleistungen“ überschreibt, hier
und da gewünscht. Über diese ärztliche Ethik soll sichergestellt werden, dass
die Funktion eines heilenden Berufs die ärztliche Tätigkeit primär trägt. Der
Arzt ist also offenkundig kein Kosmetiker und er ist ebenso wenig in der Funktion
dessen, der die Schöpfung neu erfindet. Er ist – um an heute Morgen
anzuschließen – eben auch kein Funktionär austeilender Gerechtigkeit, der
ständig den Mangel verwalten und es dem Endverbraucher verkünden muss.
Die Ethik des Arztes stellt darüber
hinaus sicher, dass sich der Arzt auf den Patienten verpflichtet, dessen Wohl
in den Vordergrund und damit sein eigenes Wohl immer wieder in den Hintergrund
stellt, um zugleich den Freiraum, den Handlungsspielraum, die Autonomie zu
beanspruchen, im wohlverstandenen Interesse des Patienten zu handeln.
Die entscheidende Situation im
Zusammenhang mit der Sicherung des Zentralwerts „Gesundheit“ ist die
Arzt-Patient-Beziehung. Sie bedarf der ethischen Reflexion und der moralischen
Regelbindung, weil sie für den Patienten riskant ist und dem Arzt
außerordentliche Lasten und wiederum eigene Risiken auferlegt. Deswegen müssen
Bedingungen geschaffen werden, unter denen Ärzte Verantwortung übernehmen und
Verantwortlichkeit entwickeln können. Sie werden Vertrauen nur empfangen
können, wenn sichergestellt ist, dass sie dieses Vertrauen nicht im eigenen
Interesse ausnutzen, also opportunistisch handeln, wenn sichergestellt ist,
dass unbedingte Vertraulichkeit als Bedingung für Vertrauenswürdigkeit
anerkannt wird, wenn klar ist, dass nur konsequente Fachlichkeit entscheidet,
also keine ökonomischen Fremdinteressen, und wenn sicher ist, dass Patienten
sich nicht nur auf die Unabhängigkeit ihrer Ärzte von Drittinteressen verlassen
können, sondern auch anerkennen müssen, dass Ärzte auch ihnen gegenüber
zugleich nahe und distanziert bleiben werden, um sachgerecht entscheiden zu
können.
In dem Gesamtzusammenhang ist
gerade, wie Sie vielleicht schon gehört haben, vom Europäischen Gerichtshof ein
wichtiges Urteil gesprochen worden, welches das Verbot des Fremdkapitalbesitzes
an Apotheken und damit wohl auch an Arztpraxen festschreibt. Ich halte das für
ganz richtig, denn anderenfalls gelangen Sie unweigerlich in Abhängigkeiten,
die übrigens in der Forschung schon seit Jahrzehnten kritisch gesehen und
diskutiert werden.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, Ärzte sind
keineswegs nur technische Wissensanwender, denn die Medizin ist eine
„praktische Wissenschaft“, die sich im praktischen Vollzug am Menschen
entwickelt. Ärzte handeln an Betroffenen in deren wohlverstandenem Interesse
und in dem Bewusstsein, dass die Betroffenen selbst nicht nur Laien sind,
sondern gerade auch wegen ihrer Betroffenheit an Urteilsfähigkeit einbüßen.
Schon deswegen ist die Fiktion vom mündigen Patienten irreführend – übrigens
eine der ganz großen Trivialisierungen dieser Tage.
(Beifall)
Patienten, die nach ausführlicher
Internetrecherche dem Arzt die Diagnose gleich mitbringen, damit der Arzt im
ersten Schritt die geballte Vorurteilsstruktur, die im Internet transportiert
wird, korrigieren muss oder auch den gesamten Informationsmüll, der da
haufenweise versammelt wird, sind keine mündigen Patienten, sondern sehr oft
auch fehlgeleitete Patienten und damit nicht die leichtesten.
(Beifall)
Gerade Ärzte müssen wissen – und
sie erfahren es nahezu jeden Tag –, wo wissenschaftliche Fachkompetenz ihre
Grenzen hat, wo also die Wissenschaft sie in Entscheidungssituationen allein
lässt, wo nicht mehr statistische „Evidenzen“ ausschlaggebend sind, sondern
allein ihr praktisches Entscheidungs- und Handlungsvermögen unter der Bedingung
höchster Unsicherheit. Keine formale Qualitätsregel hilft dem Arzt in solchen
Situationen. Soll er etwa, bevor er Entscheidungen trifft, einen tiefen
Reflexionsprozess über die Evidenz der Evidenz seiner wissenschaftlichen
Erkenntnisse durchlaufen? Nirgendwo mehr als in der Medizin wird täglich
erfahrbar, dass wir in nahezu allen Bereichen nur über Erkenntnisse mittlerer
Reichweite verfügen, was aber zugleich immer bedeutet, dass auch
wissenschaftlich begründete Entscheidungen zumeist solche unter Unsicherheit
sind.
Der Soziologe Heinz Bude hat darauf
hingewiesen, dass gerade der Arzt eine, wie er es nennt, undefinierbare
Verantwortung übernimmt. Da wo Wissenschaft endet, setzt diese Verantwortung
ein, in täglichen Entscheidungen, denen er nicht ausweichen kann. Der Arzt kann
nicht einfach sagen: Diese Therapie habe ich nicht so gemeint. Wie soll ein
Patient das verstehen? Das können vielleicht Finanzdienstleister sagen, die uns
die falschen Anlagen verkauft haben: „Diese Anlage habe ich nicht so gemeint.“
Würden Sie es sagen, es hätte unabsehbar kritische, negative Folgen.
Bude bemerkt:
Aus dieser drängenden
Konstellation von Unaufschiebbarkeit und Unwiderruflichkeit erwächst die
Kompetenz zu einer praktischen Verantwortungsethik professionellen Handelns.
Schon diese Begrifflichkeit deutet
darauf hin, dass Ärzte in ihren Entscheidungssituationen letztlich alleine
dastehen. Sie benötigen – das ist zunächst einmal eine der zentralen
Botschaften für einen freien Beruf – ein Umfeld, auch ein politisches Umfeld,
das sie trägt, und eine Ethik, die ihrem Handeln ein nachvollziehbares, weil
reflektiertes Fundament gibt. Jeder einzelne Arzt weiß aus dem Umgang mit
kritischen Situationen, dass er – neben dem Patienten – letztlich einen großen
Teil der Last der Entscheidung zu tragen hat, nicht seine Praxis oder seine
Klinik oder seine Haftpflichtversicherung oder die Pharmaindustrie oder die
Krankenkasse oder die Gesundheitspolitik. Gerade dieser Umstand verlangt genaue
Überlegungen hinsichtlich der Sicherung eines Handlungsspielraums für jeden
Arzt, will man die Möglichkeit offenhalten, dass auch in Zukunft Verantwortung
und persönliche Verantwortlichkeiten im Arztberuf, verbunden mit der
Bereitschaft zur Übernahme erheblicher persönlicher Risiken, eine zentrale
Rolle spielen.
Freiberuflichkeit,
meine Damen und Herren, manifestiert sich, wenn man diesen Überlegungen folgt,
in der freien Entscheidung, Verantwortung zu übernehmen und verantwortlich zu
handeln. Verantwortlichkeit bezieht sich immer auf Personen, bei Ärzten darauf,
dass sie nicht nur Wissen anwenden, sondern fähig und bereit sind, sich auf
andere Menschen einzulassen, also täglich Empathie zu entwickeln und das
richtige Verhältnis von Nähe und Distanz gegenüber dem Patienten auszutarieren.
Die Frage nach der Freiberuflichkeit hat hier ihren Kern: Es geht um
Verantwortung, nicht nur im Sinne von Zuständigkeit und pflichtgemäßem Handeln,
sondern im Sinne der Übernahme von Risiken, es geht um Verantwortlichkeit im
Sinne des Sich-auf-Patienten-Einlassens, aber auch im Sinne des Einstehens für
die Folgen des eigenen Handelns, also die persönliche Übernahme von Risiken.
Die Komplexität
der Entscheidungssituationen von Ärzten ergibt sich aus der Begrenztheit des
verfügbaren Wissens, aus der Notwendigkeit von Entscheidungen unter
Unsicherheit, daraus, dass im wohlverstandenen Interesse von Patienten
entschieden werden muss, notfalls also auch gegen deren gelegentlich
vordergründige Interessen. Denken Sie nur an die sogenannte Wellnessmedizin.
Patienten verdienen Respekt, bedürfen aber auch der Aufklärung und
distanzierter, aber zugleich vertrauensvoller Beratung. Freiberufler
kennzeichnet die Bereitschaft, sich auf solche komplexen Situationen
einzulassen in der eigenen Praxis, in Partnerschaften, in der Kooperation mit
Kollegen und in größeren Organisationen.
Sie können dies
nur tun – damit bin ich bei dem zweiten zentralen Punkt der Definition von
Freiberuflichkeit –, wenn ihnen Autonomiespielräume gewährt werden, die sie
benötigen, um unter Risiko entscheiden zu können. Der Arzt muss unabhängig von
Fremdinteressen bleiben, wer auch immer sie artikuliert.
Damit stellen
sich für eine Neubestimmung von Freiberuflichkeit andere Fragen als die der
Befreiung der Freiberufler von der Gewerbesteuer. Gefragt werden muss, welche
Probleme sich im Zusammenhang mit der Autonomie der Ärzte stellen, wodurch
Autonomie bedroht ist und wie sie gesichert werden kann.
Einige dieser
Probleme seien angesprochen:
Autonomie ist
zunächst einmal eine Frage innerer Haltung und gelebter Berufsmoral. Sie muss
gelebt, erkämpft und behauptet werden. Viele Beispiele, gerade auch von Ärzten,
zeigen, dass es autonome Persönlichkeiten waren, die die beruflichen Handlungs-
und Entscheidungsspielräume der Ärzte erstritten haben, und dabei muss es
bleiben.
Autonomie der
Ärzteschaft als Professionsgemeinschaft ist eine Frage ihrer Fähigkeit zur
Verständigung auf gemeinsame Werte, eine gemeinsame Berufsmoral, der man sich
freiwillig mit allen Konsequenzen unterwirft. Meine Damen und Herren, aus
meiner Sicht stehen die Zeichen der Zeit an dieser Stelle nicht gut. Die
zunehmende Heterogenität der Ärzteschaft begünstigt eher ihr
Auseinanderdriften. Die Spezialisierung und die Bildung von immer kleineren
Fachgemeinschaften innerhalb der Ärzteschaft führen zu unterschiedlichen
Interessen und führen letztlich zu Zentrifugalkräften innerhalb der
Ärzteschaft, die Sie beherrschen lernen müssen, weil sonst erhebliche negative
Konsequenzen für Ihren gesamten Berufsstand ins Haus stehen.
(Beifall)
Diese Entwicklung ist ja kein
persönliches Versagen der Ärzte, sondern in fast allen klassischen Professionen
in mehr oder minder fortgeschrittener Form deutlich erkennbar. Überall wachsen
die Wissensbestände, überall nimmt die Spezialisierung zu. Überall bilden sich
einzelne Fachgemeinschaften. Damit aber haben Sie eine zentrale
Integrationsaufgabe, die Voraussetzung ist, über diesen freien Beruf als einer
Einheit in Zukunft nachdenken zu können und ihn so praktizieren zu können.
Damit nicht genug: Nicht nur die
Politik, sondern auch Vertragspartner der Ärzte erkennen ihre Chance, eigenen
Einfluss zu stärken und die Ärzteschaft geradezu genüsslich in Segmente zu
zerlegen und damit zugleich die Risiken einzelner Ärzte oder Gruppen von Ärzten
zu erhöhen.
Meine Damen und Herren, das ist ein
Risiko, das Sie sehr ernst nehmen sollten. Wir sind auf diesem Weg leider schon
weit fortgeschritten. Autonomieverlust der Ärzte wird die eine Folge sein,
Machtverlust der Ärzteschaft als Profession die absehbare andere Folge.
(Beifall)
Autonomes Handeln im Interesse von
Patienten ist dann nicht zu erwarten, wenn immer mehr Ärzte in wirtschaftliche
Abhängigkeiten geraten, und auch dann, wenn sie ihre wirtschaftlichen Risiken
nicht mehr absehen können. Niemand kann den Ärzten oder auch anderen
Professionen dauerhaft Altruismus abverlangen. Das ist eine sehr idealistische
Überlegung im Zusammenhang mit Professionen immer gewesen, aber sie ist nur
idealistisch, nicht realistisch. Altruistische Forderungen werden ja zumeist an
jeweils andere gerichtet. Diese Forderung ist eine Überstrapazierung
üblicherweise zu erwartenden Verhaltens. Der Soziologe Hartmut Esser stellt
hierzu fest: Ohne irgendeine Fundierung in den Interessen der Menschen oder gar
gegen sie kann sich auf die Dauer die Legitimität einer institutionellen
Ordnung nicht halten. Gerade auch aus diesen Gründen müssen sinnvolle Lösungen
hinsichtlich angemessener Honorierung der Ärzte gefunden werden.
Wenn ich persönlich hinzufügen
darf, am besten wäre: sinnvoll und einfach; denn einfach ist immer
vertrauensbildend, komplex in den meisten Fällen nicht.
So paradox es klingen mag, meine
Damen und Herren: Auch durch Qualitätsmanagement oder das, was man dafür hält,
kann die Autonomie der Ärzte eingeschränkt werden.
(Beifall)
Vor allem
Qualitätssicherungssysteme, die zu extensiven bürokratischen
Dokumentationspflichten führen, verbrauchen Kapazitäten, die den Ärzten an
anderer Stelle fehlen. Dies ist nicht nur ein Ärzteproblem. Ganze Hochschulen
drehen sich in der Zwischenzeit im permanenten Evaluationskarussell, ohne dass
verbürgte Qualitätssteigerungen sichtbar geworden wären.
(Beifall)
Große Betrugsfälle in der
Wirtschaft, etwa der Enron-Skandal, haben zum Beispiel bei Wirtschaftsprüfern
zu ausgeklügelten Systemen der Qualitätskontrolle geführt. Sie merken es
vielleicht an Ihrer eigenen Steuererklärung: Früher war die Steuererklärung
zehn Seiten lang, sie ist heute, wenn Ihnen der Steuerberater sämtliche
Unterlagen schickt, eher 30, 50 oder 70 Seiten lang, weil noch alle
Absicherungspflichten des Steuerberaters abgearbeitet werden müssen.
Das Ergebnis ist ein erheblicher
Flächenverbrauch auf Datenfriedhöfen, ohne dass abschließend ein
Qualitätszuwachs nachgewiesen wäre. Ich persönlich frage mich immer: Wer nimmt
eigentlich diese Daten, die wir produzieren, überhaupt noch zur Kenntnis? Wir
haben den Eindruck: Die Ministerialbürokratie ist nur froh, wenn viele Daten
vorliegen, welcher Art auch immer.
(Beifall)
Ich habe es schon angedeutet: Auch
die großen Korruptionsfälle führen zu solchen bürokratisierten Systemen, deren
sich vor allem Misstrauensorganisationen sehr gerne bedienen. Das ist eindeutig
ein Reflex jeder Krise, auch der Krise des sogenannten
Finanzdienstleistungssystems: Ist das Kind erst einmal in den Brunnen gefallen,
kommt Sankt Bürokratius und sagt, jetzt wird alles dokumentiert, verschriftlicht,
kontrolliert, rückgemeldet, Feedback wird organisiert, es wird noch einmal
durch den Wolf gedreht, es werden formelle Regeln aufgestellt.
So wird kein System effizient, aber
es wird mit hundertprozentiger Sicherheit ein Misstrauenssystem und kein
Vertrauenssystem.
(Beifall)
Ich möchte fragen: Warum wird nicht
derselbe Aufwand in die Bildung von Vertrauen zu Organisationen gesteckt, in
die Vermittlung und die Internalisierung innerer Haltungen, die zu gelebter
Qualität und nicht nur zu formal dokumentierter Qualität führen?
(Beifall)
Neudeutsch könnte die
Kompromissformel lauten: Compliance und Integritätsmanagement ergänzen sich,
weil Qualität verbindlich durchgesetzt, aber auch aus Überzeugung und nicht nur
unter Druck gelebt werden muss.
Die Autonomie der Ärzte, meine
Damen und Herren, kann auch eingeschränkt werden durch beschränkte Zugänge zu
notwendigem Wissen etwa in Form der Privatisierung solchen Wissens und auch
durch seine selektive oder gar vorgefilterte Weitergabe. Auch hier stellt sich
eine Zukunftsaufgabe in Form der verbürgten Offenhaltung von Wissenskanälen und
unabhängiger Wissensvermittlung. Ich persönlich sehe hierin vor allem auch eine
Aufgabe der Kammern, die dafür sorgen müssen, dass ungefiltertes Wissen auch an
die Ärzte gelangt. Dies ist eine Aufgabe der Gesamtprofession, will sie nicht
gänzlich in Abhängigkeit von wirtschaftlichen Interessen der Industrie geraten.
Ich will das gar nicht weiter
erläutern, aber doch darauf hinweisen, dass sozusagen die Privatisierung von
Wissen, etwa durch große Agrarerfindungskonzerne, ein echtes Risiko für uns
alle darstellt. Wir sollten das ernst nehmen und uns Lösungen anderer Art
ausdenken.
(Beifall)
Meine Damen und Herren, eine große
Zahl von Ärzten ist in der Zwischenzeit abhängig in Organisationen der
verschiedensten Art und Größe beschäftigt. Für sie stellt sich das klassische
Problem einer Kollision von wirtschaftlichen Organisationszielen mit ärztlichen
Entscheidungen. Das ist eigentlich nichts Neues. Ich erinnere mich, dass mein
Schwiegervater, Chef einer Inneren Abteilung, schon vor 40 Jahren den
Dauerkonflikt mit seinem Verwaltungschef über die Anschaffung von Gerät und
Material sowie die Ausstattung mit Personal geführt hat. Es gab schon immer
Kollisionen zwischen der Wirtschaftlichkeit einer Organisation, auch einer
Klinik, und den jeweiligen ärztlichen Entscheidungen, also ärztlicher
Autonomie.
Dies ist weniger eine rechtliche
Frage, da sich die Weisungsgebundenheit des Dienstherrn nicht auf die
ärztlichen Belange richtet. In tatsächlicher Hinsicht muss allerdings damit
umgegangen werden, dass informelle Erwartungen an Mitarbeiter sozusagen
subkutan auch faktische Wirkungen entfalten können. Ich halte das für eine ganz
große Gefahr, die sich mit zunehmender Ökonomisierung des sogenannten
Gesundheitssystems immer weiter verschärfen wird. Hierin kann eine echte
Bedrohung von ärztlicher Autonomie liegen.
Ich denke etwa an die insbesondere
in den USA breit geführte Debatte über sogenanntes „whistle blowing“, also das
„Verpfeifen“ der eigenen Organisation bei unethischem Verhalten. Diese Debatte
wird ja in der Zwischenzeit wieder geführt, weil wir die Doppelmoral eines
Systems erlebt haben. Auf den Internetseiten der großen Konzerne, um die es
hier geht, fanden wir solche Ethikcodes, wie man sich denn ethisch zu verhalten
habe. Subkutan, also im Flurfunk, im informellen Programm dieser Organisationen
wurde mitgeteilt – oder besser: geflüstert –: Verhalte dich nur nicht so, es
entspricht nicht unseren Erwartungen an Gewinnmaximierung.
Es ist eine große Bedrohung auch
für die Ärzteschaft, insbesondere für diejenigen Ärzte, die in großen
Organisationen beschäftigt sind.
(Beifall)
Es ist eine zentrale
Zukunftsaufgabe, dieses Problem der Autonomiesicherung in medizinischen
Einrichtungen anzugehen und nicht nur für rechtliche Garantien, sondern auch
für faktische Absicherung der ärztlichen Autonomie zu sorgen. Letztlich ist
dies immer eine Frage der Organisationskultur, also, wie ich gesagt habe,
gelebter Autonomie und damit notfalls auch eine Frage des Widerstands der Ärzte
gegen die Ökonomisierung.
(Beifall)
Das Autonomieproblem kehrt sich
gleichsam um, wenn man es im Gesamtzusammenhang der zentralen Tendenz in der
Medizin zu immer weiter fortschreitender Spezialisierung betrachtet. Zweifellos
ist diese Tendenz angesichts der Komplexität von Wissen und der Dynamik seiner
Entwicklung stabil. Die Frage lautet: Wie kann unter der Bedingung
fortschreitender Spezialisierung einerseits die Autonomie der Ärzte gesichert,
andererseits aber dafür gesorgt werden, dass die autonomen Einzelentscheidungen
der Spezialisten zusammengeführt und verantwortet werden können? Wer trägt
diese Verantwortung? Ist es überhaupt möglich, Spezialisten so zu vernetzen,
dass sie zu gemeinsam verantworteten Urteilen kommen? Wie sehen
Organisationsformen aus, die vernetzte Entscheidungen dieser Art ermöglichen?
Franz-Xaver Kaufmann gelangt in
seinem Buch „Der Ruf nach Verantwortung“ zu der Einschätzung, dass in solchen
komplexen Entscheidungssituationen die Einbettung der Professionals in
Organisationen, also etwa in Kliniken, klare Vorteile hat. Seiner Meinung nach
haben Organisationen die Möglichkeit, ihre Mitglieder, also auch die in ihnen
beschäftigten Ärzte, auf gemeinsame Ziele zu verpflichten, Entscheidungen in
Teams zu treffen und damit die Risiken zu verteilen, die Entscheidungen gut zu
dokumentieren, komplexe Entscheidungen zu treffen, weil sie die Möglichkeit
haben, Spezialisten – sozusagen unter einem Dach – zu vernetzen, weil sie
rechtlich auf der Höhe der Zeit seien und damit ihre Haftungsverpflichtungen
gut einschätzen könnten und schließlich gut kontrollierbar seien. Ist dies – so
müssen wir natürlich fragen – das Ende der Arztpraxis?
Sosehr diese Sichtweise auf den
ersten Blick nachvollziehbar sein mag, sosehr stellen sich aus meiner Sicht
neue Fragen: Wird nicht grundsätzlich Verantwortung durch immer kleinteiligere
Spezialisierung so stark in einzelne Teile zerlegt, dass sie im Ergebnis auch
und gerade in größeren Organisationen nicht mehr zugerechnet werden kann? Gehen
in großen Kliniken die verantwortlichen Akteure für die integrierte
Gesamtverantwortung verloren? Besteht nicht gerade in solchen Organisationen
die Tendenz, Verantwortlichkeit an Dritte abzuschieben oder auch zurückzudelegieren,
sodass im Ergebnis wiederum einzelne Personen Verantwortung übernehmen müssen?
Verfügen Organisationen über ein „Gewissen“ und damit über eine frühzeitig
kontrollierende Instanz?
Kaufmann selbst sagt: Nein!
Organisationen verstehen, wie er sagt, nur die Sprache des Rechts. Dann aber
ist zu fragen, ob die Grenzen ärztlicher Tätigkeit nur mehr durch das Recht
gezogen werden sollten, ob also rechtliche Haftungsrisiken ausreichen, um im
Sinne der Patienten zu garantieren, dass Spezialisten ihre autonomen
Einzelentscheidungen abstimmen und zu integrierten Entscheidungen für den
Patienten gelangen.
Dieses Problem reicht angesichts
der großen Zahl niedergelassener Ärzte selbstverständlich weit über die
Vernetzungsproblematik in Kliniken hinaus. Wie gelangt man zu
Organisationsformen ärztlichen Handelns, die autonome spezialisierte
Einzelentscheidungen über Wohl und Wehe von Patienten sozusagen in
gesamtärztlicher Verantwortung zu abgestimmten Konzepten zusammenfügen? Das ist
ein Problem jedes spezialisierten Arztes eigentlich täglich. Aber Sie wissen
auch: Es ist sehr schwer, hierfür praktische Lösungen zu finden.
Gerade wenn es Zweifel gibt, dass
diese Integrationsproblematik in großen Organisationen gelingt, ist zu fragen,
ob eine Zukunftsform der ärztlichen Praxis die Partnerschaft in Form einer
Sozietät – analog zu bewährten Anwaltssozietäten – sein könnte. Meine Damen und
Herren, Sie alle wissen, wovon ich rede, jeden Tag. Patienten, die drei bis
vier Spezialisten gleichzeitig benötigen, haben möglicherweise überhaupt keinen
verantwortlichen Ansprechpartner mehr. Sie sind zwar umzingelt von Experten,
haben aber keinen Einzelexperten mehr, dem sie ihr ganzes Vertrauen schenken.
Es stellt sich also das Problem der
Vernetzung der Spezialisten und es hat sich gezeigt, dass dies keineswegs ein
triviales Problem ist, gerade weil es im praktischen Berufsalltag zu ganz
erheblichen Organisationsproblemen führt.
Meine sehr geehrten Damen und
Herren, ich habe einige Fragen angerissen, deren sich die Ärzteschaft mit
großer Dringlichkeit annehmen muss, Fragen Ihrer Autonomie, eines neuen
Verständnisses von Freiberuflichkeit. Ich befürchte, wenn diese Fragen nicht
gelöst werden, dass die Professionsgemeinschaft der Ärzte, die das
Gesundheitswesen täglich verantwortet, im politischen Spiel der Kräfte immer
mehr ins Hintertreffen gerät. Dies hielte ich für fatal. Allerdings hilft hier
kein Lamento, sondern nur eine aktive Überzeugungsleistung der Ärzteschaft
gegenüber allen gesellschaftlichen Kräften. Die Ärzteschaft muss wieder die
Themenführerschaft gewinnen. Dies kann sie nur mit überzeugenden Konzepten für
die Zukunftsorganisation eines Gesundheitswesens, das vor allem die
wohlverstandenen Interessen der Patienten im Auge haben sollte.
Meine Damen und Herren, auch dies
sei gesagt: Ich glaube nicht, dass Sie das hinbekommen durch besondere
Lautstärke in Ihrer Medienarbeit, sondern nur durch überzeugende Konzepte. Wenn
Sie Dieter Bohlen als Pressesprecher der Bundesärztekammer beschäftigen würden,
wären Sie zwar auf einen Schlag lauter, aber in der Sache nicht unbedingt
wirksamer.
(Beifall)
Die fachliche Unabhängigkeit der
Ärzte, ihre konsequente Bindung an eine differenziert begründete Berufsmoral
ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass wir dem Gesundheitssystem
vertrauen. Es gilt der Satz der Philosophin Sisela Bok:
Was immer den Menschen wichtig
ist, es gedeiht in einer Atmosphäre des Vertrauens.
Ich möchte hinzufügen: nur in einer Atmosphäre des Vertrauens.
Vielen Dank.
(Beifall)
Präsident Prof. Dr. Dr. h.
c. Hoppe: Vielen Dank, Herr Professor Hommerich, für diesen Vortrag, der
uns noch einmal ganz klar gemacht hat, auf welche Weise wir in der Gesellschaft
hantieren müssen, wie wir weiter vorgehen müssen. Ich glaube, dass wir gestern
und heute ein Stück des Zipfels, den Sie uns als ganzes Tuch vorgestellt haben,
angepackt haben, um in die Offensive zu kommen, allerdings mit einem Thema, das
unglaublich schwer zu vermitteln ist, aber auf Dauer hohes Vertrauen und
Vertrauenswürdigkeit erzeugen wird oder, soweit es noch vorhanden ist, auch
verteidigen wird. Noch einmal vielen herzlichen Dank für Ihren Vortrag.
Jetzt kommt Professor Fuchs, der
uns das Thema aus der Sicht des Arztes nahebringen wird. Er vertritt die
Bundesärztekammer im Berufsverband der Freien Berufe. Deswegen ist er
prädestiniert, uns dieses Thema aus ärztlicher Sicht vorzustellen. Bitte schön,
Professor Fuchs.
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