TOP IV: Medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung

Donnerstag, 21. Mai 2009, Vormittagssitzung

Neitscher, Nordrhein: Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich spreche zur Versorgung psychisch Kranker und Behinderter. Das „Deutsche Ärzteblatt“ hat in seiner aktuellen Ausgabe auf Seite 4 die „Zahl der Woche“ veröffentlicht. Sie lautet: 21 Prozent Menschen in Deutschland haben im vergangenen Jahr wegen psychischer Beschwerden ärztliche und psychotherapeutische Hilfe aufgesucht.

Die Herausforderungen angesichts der Epidemiologie psychischer Erkrankungen und die Anforderungen an die notwendige ärztliche psychotherapeutische Kompetenz wurden auf dem Deutschen Ärztetag 2006 diskutiert. Die Resonanz war erfreulich. Wir sind froh, dass Sie, Herr Professor Hoppe, in Ihrer Rede am Dienstag an zwei Stellen diese Thematik aufgegriffen haben. Im Zusammenhang mit der Debatte um den sogenannten assistierten Suizid haben Sie zu Recht ärztlich-psychotherapeutische Hilfe für diejenigen Menschen gefordert, die aufgrund schwerwiegender depressiver Erkrankungen, Vereinsamung und wirtschaftlicher Not in suizidale Lebenskrisen geraten sind.

Zu Recht haben Sie an zweiter Stelle darauf hingewiesen, dass wir uns besonders um diejenigen Menschen kümmern müssen, die sich aufgrund seelischer Erkrankungen nicht wehren können und stigmatisiert sind.

An anderer Stelle aber fehlte mir ein Hinweis. Sie sprachen davon, dass es in Deutschland eine halbe Million Menschen mit geistiger und mehrfach körperlicher Behinderung gibt. Lieber Herr Professor Hoppe, zu den Menschen mit Behinderungen gehören auch diejenigen Menschen, die unter einer Behinderung als Folge einer seelischen Erkrankung leiden. Ich bin Frau Haus dankbar für ihre Worte, die sie eben gefunden hat.

Nachdem wir jahrelang einen bedauernswerten Rückgang an ärztlicher psychotherapeutischer Versorgung aufgrund der desaströsen Honorierung zu beklagen hatten, sind wir froh, dass mit der Honorarreform zum 1. Januar 2009 – bei aller berechtigten Kritik – hier Abhilfe geschaffen wurde und psychotherapeutisch tätige Ärztinnen und Ärzte aller Fachgruppen – ich betone: aller Fachgruppen – endlich ihrem Versorgungsauftrag nachkommen können, ohne den wirtschaftlichen Ruin befürchten zu müssen.

Dazu haben auch die Beschlüsse der Deutschen Ärztetage der letzten Jahre beigetragen. Vielen Dank.

Umso irritierender ist für uns das, was unter dem Titel „Gesundheitspolitische Agenda 2009 – Für ein verlässliches, solidarisches und gerechtes Gesundheitswesen“ veröffentlicht und allen Delegierten mit der Einladung zugeschickt wurde. Das ist ein Handlungskonzept, das unter der Federführung von Professor Beske und unter Mitwirken maßgeblicher Vertreter der ärztlichen Selbstverwaltung erarbeitet wurde. Auf Seite 56 dieses Handlungskonzepts ist zu lesen, dass bei ambulanter Psychotherapie eine Zuzahlung von 10 Prozent der Kosten pro Sitzung gefordert wird. Dies sieht man als „Teil eines therapeutischen Prinzips“ an. Das entspricht bei einer niederfrequenten Psychotherapie schnell einer Zuzahlung von 100 Euro pro Quartal.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier drängt sich der Verdacht auf, dass unter dem Deckmantel eines mehr als fragwürdigen, wenn nicht falschen Therapieverständnisses Kostenpolitik betrieben wird. Nicht zum ersten Mal ist der Reflex zu beobachten, in diesem Versorgungsbereich mit vorgeblicher Einsparung zu beginnen. Heißt Priorisierung, dass bei notwendiger Begrenzung der Ressourcen wieder einmal bei denen begonnen werden soll, die sich am wenigsten wehren können? Das kann es ja wohl nicht sein, zumal ein Teil der in den letzten Jahren gefassten Beschlüsse der Deutschen Ärztetage zur Versorgung psychisch Kranker damit konterkariert würde.

Ich bitte darum, meinen entsprechenden Antrag zu unterstützen, und danke für die Aufmerksamkeit.

(Vereinzelt Beifall)

Vizepräsidentin Dr. Goesmann: Danke, Herr Neitscher. – Jetzt hat Herr Schäfer aus Hamburg das Wort.

© Bundesärztekammer 2009