TOP VIII: Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer

Freitag, 22. Mai 2009, Vormittagssitzung

Dr. Bartmann, ReferentDr. Bartmann, Referent: Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Fast genau vor einem Jahr haben wir im Rahmen eines eigenen Tagesordnungspunkts die Telematik behandelt. Ich sehe hier viele Kolleginnen und Kollegen, die das miterlebt haben. Auch mir ist es noch immer in lebhafter Erinnerung. Sie wissen, dass wir damals in einer zweiten Lesung zu einer Beschlusslage gekommen sind, die einerseits sehr zufriedenstellend war, andererseits doch relativ vielschichtig gestaltet war.

Es hat uns am Anfang Probleme bereitet, der Presse zu erklären, wie so etwas zustande kommt, dass man etwas fordert, gleichzeitig aber vehement ablehnt. Das haben wir aber ganz gut geschafft.

Folgen zeigen sich allerdings noch bis heute. Wir haben anschließend erlebt, dass einzelne Passagen aus der Beschlussfassung sehr unterschiedlich auch von ärztlichen Teilnehmern und der ärztlichen Öffentlichkeit interpretiert worden sind, was mich überhaupt nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass sich in dieser Beschlussfassung, die am Ende dieses langen Tagesordnungspunkts stand, sowohl die kritischen Befürworter – dazu zählen wir uns – als auch die distanzierten oder auch etwas vehementeren Ablehner wiederfinden mussten.

Wir haben uns unmittelbar nach dem Ärztetag in Ulm zusammengesetzt und haben die Beschlüsse und Entschließungen aufgearbeitet und daraus einen 12-Punkte-Forderungskatalog der Ärzteschaft zusammengefasst und dem BMG mit der Bitte um Positionierung zugeleitet. Daraus entwickelte sich eine Diskussion, die bis vor Kurzem angehalten hat und die manchmal nicht ganz einfach war, die letztendlich doch zu einem Ergebnis geführt hat, das im Rahmen eines Pressegesprächs sozusagen auf der Spitzenebene im „Deutschen Ärzteblatt“ publiziert wurde.

Ich denke, dass sich das, was ich Ihnen als Ergebnis dieses Diskussionsprozesses vortragen werde, sehen lassen kann.

Bitte verstehen Sie meine folgenden Äußerungen insofern als die Zusammenfassung der sehr zahlreichen Gespräche mit dem BMG auf allen Arbeitsebenen bis hin zum Staatssekretär, mit dem ich einige Male entscheidende Punkte, die vorbereitet worden waren, abstimmen konnte. Die erste Forderung lautet: Freiwilligkeit der Nutzung aller neuen Funktionen der elektronischen Gesundheitskarte – insbesondere der Online-Anbindung – durch Patienten und Ärzte. Zu dieser Forderung besteht Einverständnis zwischen dem Bundesministerium für Gesundheit und der Bundesärztekammer, dass dieser Anforderung, die wir an das Projekt elektronische Gesundheitskarte stellen, keine gesetzlichen Regelungen entgegenstehen. Der Staatssekretär ist ja am Dienstag in seiner Rede in Vertretung von Ministerin Schmidt kurz in einem Nebensatz darauf eingegangen mit der Feststellung: „Niemand will Sie in ein System zwingen.“ Das ist ein gelassen ausgesprochener Satz, der bisher doch einiges an Diskussionen erforderte.

Die Konkretisierung der Nutzung aller neuen Funktionen der elektronischen Gesundheitskarte muss auf der Grundlage gesetzlicher Bestimmungen durch die Partner der Selbstverwaltung – und nur durch diese – erfolgen. Wir sind uns darin einig, dass die Selbstverwaltungspartner die hier erforderlichen Vereinbarungen treffen und dass seitens des BMG hierzu keine weiteren Maßnahmen erforderlich sind.

Die Beschlusslage in der gematik lautet hierzu: Der Start der Online-Anwendungen ist für den Leistungserbringer freiwillig. Diese Beschlusslage ist nicht so ganz neu. Sie ist aber nie vom BMG beanstandet worden. Das heißt also, schon vor der detaillierteren Diskussion hat sich die Rechtsaufsicht nicht veranlasst gesehen, dagegen zu intervenieren.

In der Interpretation dieser Sprachregelung gibt es aber, wie Sie sich vorstellen können, natürlich Auslegungsunterschiede zwischen den Interessenvertretern in der gematik, den Gesellschaftern der gematik, zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern. Ich benutze letzteren Begriff, weil er dort eingeführt ist, nicht weil ich glaube, dass „Leistungserbringer“ ein geeigneter Begriff ist, unsere Tätigkeit zu beschreiben. Das ist ein Terminus technicus. Seien Sie nicht irritiert, wenn er einige Male auftaucht.

Sie haben die Diskussion verfolgt. Es gab eine Meldung vom Niederrhein, in der gesagt wurde: Wenn die Freiwilligkeit Bestand hat, geben wir einfach keine Karten aus. Das war eine kleine Protesthaltung. Ich habe daraufhin erwidert – das haben Sie möglicherweise gelesen –: Wer das Projekt an die Wand fahren will, der muss es genau so machen.

In dieser Frage scheint ein technischer Kompromiss durchaus machbar. Ich verweise hierzu auf die Vorstandsanträge VIII-34, VIII-36 und VIII-36 a. Wir haben den Antrag 36 a selbst eingebracht, weil der Antrag 36 nicht so präzise ist, wie er sein sollte. Ein Hinweis aus der Bevölkerung hat uns veranlasst, das zu korrigieren.

Die zweite Forderung ist die Vermeidung zentraler Speichersystematik. Wir haben nicht nur einfach diese Forderung gestellt, sondern wir haben in unserer Fachabteilung Eckpunkte für ein Konzept zur dezentralen Speicherung erarbeitet und haben es der 20. Gesellschafterversammlung der gematik am 13. Oktober 2008 vorgelegt. Die gematik hat beschlossen, eine konzeptionelle Bewertung des Konzepts der Bundesärztekammer durchzuführen und dabei gleichfalls unterschiedliche Implementierungen von dezentralen Speichermedien zu untersuchen.

Das BMG hat diesen Beschluss nicht beanstandet, das heißt, das BMG trägt diesen Beschluss mit. Auch hierzu hat sich der Staatssekretär nicht zuletzt auch in seiner Stellungnahme während des Pressegesprächs eindeutig geäußert: Es gibt vielfältige Speichermöglichkeiten, es gibt nicht nur die zentrale Speicherung, die ursprünglich einmal vorgesehen war, sondern es gibt natürlich auch die dezentrale Speicherung als Alternative.

Die Beibehaltung des Papierrezepts als mögliche Alternative zum E-Rezept war unsere dritte Forderung. Die Form der Rezepte wird durch die Vertragspartner der Selbstverwaltung geregelt. Es besteht zwischen Bundesärztekammer und BMG Konsens, dass das Papierrezept auf jeden Fall als Parallellösung erhalten bleiben muss, gerade wenn es Probleme mit der EDV geben sollte. Es besteht auch insofern völlige Übereinstimmung, dass man an eine elektronische Verordnung überhaupt erst dann wieder denken kann, wenn diese elektronische Verordnung mindestens genauso einfach oder einfacher ist als die heutige Verordnung auf dem Papier.

Das ist konsentiert und deshalb im Moment überhaupt kein Thema. Wir müssen daran arbeiten, bis genau diese Bedingungen erfüllt sind.

Unsere vierte Forderung lautete: Die sichere Punkt-zu-Punkt-Kommunikation muss mit Beginn der Online-Phase möglich sein. Mit dem Beschluss der 21. Gesellschafterversammlung zum Online-Rollout vom 15. Dezember 2008 wird sichergestellt, dass mit Beginn der Online-Phase die Möglichkeit der sicheren Punkt-zu-Punkt-Kommunikation, also der elektronische Arztbrief, zur Verfügung stehen soll.

Kolleginnen und Kollegen, diese Anwendung des elektronischen Arztbriefs hat zu tun mit dem elektronischen Heilberufeausweis. Sie hat nichts zu tun mit der elektronischen Gesundheitskarte. Ich habe einmal die Aussage gehört: Der elektronische Arztbrief soll ja in die Gesundheitsakte. Wie soll er da hineinkommen? Ich habe den Patienten normalerweise nicht dabei, wenn ich den Arztbrief schreibe oder wenn ich ihn lese. Das ist keine Funktion der elektronischen Gesundheitskarte, sondern des Heilberufeausweises. Das BMG hat keinen Zweifel daran gelassen, dass es natürlich auch in seinem Sinne ist, eine schnellstmögliche Realisierung zu erreichen, auf elektronischem Weg Informationen auszutauschen.

Weiterhin hatten wir gefordert, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen angepasst werden, damit Notfalldaten auf der elektronischen Gesundheitskarte durch eine „klinische Basisinformation“ ersetzt werden können.

Anlass für diese Forderung waren Diskussionen nicht nur mit Ärzten in der Projektregion, sondern auch mit Kolleginnen und Kollegen, die an sich dem Gesamtprojekt sehr kritisch gegenüberstehen, die aber erklärt haben: Es würde uns wirklich helfen, wenn das, was wir jetzt unseren Patienten als Ausdruck mitgeben, wenn wir überweisen oder einweisen, auf der Karte transportiert werden könnte.

Diese Forderung war besonders heikel, weil uns das BMG von Anfang an darauf aufmerksam gemacht hat, dass diese Form der Speicherung, also das Auslesen von Daten ohne PIN, sozusagen eine kleine Patientenakte auf der Gesundheitskarte, datenschutzrechtlich auf gar keinen Fall machbar ist. Das mussten wir sehen, das haben wir so gesehen. Aber wir weisen ausdrücklich auf die Interpretationsfähigkeit des Notfallbegriffs hin. Ein Arzt, der mit ausdrücklicher Genehmigung eines einwilligungsfähigen Patienten mit unklaren Symptomen dessen Notfalldatensatz ausliest, handelt im Einklang mit geltendem Recht. Diese Position ist ebenfalls mit der Arbeitsebene des Bundesministeriums für Gesundheit abgestimmt. Das ist eine Definition des Notfallbegriffs, wie wir ihn aus dem Krankenhaus ohnehin kennen: Jeder Patient, der ohne Diagnose kommt, ist zunächst einmal ein Notfallpatient.

Forderung Nummer sechs: Der Patient muss die alleinige Kontrolle und Transparenz über seine Daten haben. Diese Forderung ist bereits in § 291 a SGB V abschließend geregelt. § 291 a würde, so höre ich manchmal, in irgendeiner Form Anwendungen festlegen. Kolleginnen und Kollegen, wenn man diesen Paragrafen liest, sieht man: Es ist ein reiner Datenschutzparagraf. Das BMG hat uns zugesichert, dass es bei den noch folgenden Umsetzungsmaßnahmen weiterhin auf eine vollständige Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben achten wird.

Ich möchte in diesem Zusammenhang auf ein fundamentales Missverständnis hinweisen, auf das ich immer wieder stoße, wenn ich mit Ärzten diskutiere. Ich werde ja sehr viel eingeladen, bin auf sehr vielen Veranstaltungen. Dann höre ich immer wieder, dass tatsächlich die Vorstellung besteht, es würde irgendetwas aus der Patientendokumentation, also aus dem, was ich bei mir zu Hause abgespeichert habe, mit einem Automatismus in die elektronische Gesundheitsakte einfließen. Das wäre ja der helle Wahnsinn. So wäre eine Akte überhaupt nicht handhabbar.

Über das, was in der Akte hinterlegt wird, entscheidet allein der Patient mit aktiver Beratung seines Arztes. Der Patient entscheidet auch darüber, wenn etwas, was in der Akte steht, gelöscht werden soll. Auch das ist jederzeit in der Verfügungsgewalt des Patienten. Es gibt also, was das angeht, keinen gläsernen Patienten.

Wenn ich dies in öffentlichen Versammlungen so darstelle, passiert etwas ganz Verrücktes: Dieselben Teilnehmer, die eben noch den gläsernen Patienten als Menetekel an die Wand gemalt haben, erklären: Aber dann kann ich mich doch gar nicht mehr darauf verlassen, dass alles, was wichtig ist, auch wirklich in der Akte steht. Das ist richtig. Die Akte ersetzt nicht die ärztliche Anamnese und Untersuchung. Kolleginnen und Kollegen, vielleicht haben Sie meine Referate aus Münster und Ulm noch in Erinnerung. Ich habe immer gesagt: Es ist kein Ersatz für Anamnese und Untersuchung.

Wenn ich als Hausarzt in einer überschaubaren Region alle meine Patienten und deren Krankheitsbiografie persönlich kenne, brauche ich doch keine elektronische Gesundheitsakte. Das ist auch mir klar. Aber wenn ein Patient mit einem komplexen Krankheitsbild als Notfall zu einem anderen Arzt, vielleicht in einer anderen Region, oder ins Krankenhaus kommt, liefert die elektronische Gesundheitsakte freitagnachts um halb eins – da kommen nämlich diese Patienten in aller Regel, zumindest gefühlt – eventuell die entscheidenden Informationen zum Verständnis eines bis dahin völlig unklaren Krankheitsbildes. Das sind Puzzleteile, die sonst nur mit tagelanger Verzögerung oder gar nicht mehr auffindbar wären.

Wenn so etwas verloren geht, schadet das nicht nur potenziell dem Patienten, sondern es ist für uns letztlich auch schädlich. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die nachts eine Anamnese erheben, tun gut daran, nicht zu laut zu sagen: Da ist eine Untersuchung durchgeführt worden. Anderenfalls werden sie verhaftet werden, genau diese Befunde herbeizuschaffen. Das ist eine Arbeit, die sicherlich mit der Freizeitregelung kollidiert.

Wer glaubt, das seien Einzelfälle, dies komme nur selten vor, dass man nachts um halb eins so etwas braucht, bei einem Patienten, der im septischen Schock kommt, zu wissen, dass er einen Klatskin-Tumor hat und drei Tage zuvor ein CT gehabt hat, den lade ich gern ein, an einem Wochenenddienst teilzunehmen.

Ich bin in Flensburg tätig. Zu dieser Jahreszeit haben wir gefühltermaßen ein ganzes Land zu versorgen, weil scheinbar halb Deutschland nach Dänemark fährt. Alle Patienten, die dort krank werden oder krank nach Dänemark fahren, kommen ins erste Krankenhaus jenseits der Grenze bzw. ins letzte Krankenhaus vor der Grenze – und das sind wir. Da geht die Post ab. Da bekommt man manchmal das kalte Grausen, wenn man sieht, wie schwer es ist, klare Befunde, die anderswo liegen, herbeizuschaffen.

Nur solche Puzzleteile, die einem helfen, Klarheit über ein Krankheitsbild zu gewinnen, gehören in eine Akte. Alles andere hat darin nichts zu suchen.

Von daher gibt es an dieser Stelle auch keine offenen Forderungen, die wir noch weiter an das BMG richten könnten. Im Übrigen weise ich Sie darauf hin, dass wir implizit auf § 291 a als Datenschutzparagraf bereits in unserer Beschlussfassung in Ulm hingewiesen haben, und zwar im Zusammenhang mit der nächsten Forderung, dass wir keine Kommerzialisierung von Patientendaten zulassen wollen. Wir haben abgestimmt, dass diese Akten, die den Patienten von den Kassen finanziert werden dürfen und auf deren Verlangen auch finanziert werden müssen, unter den Schutz des § 291 a SGB V gestellt werden sollen.

Es herrscht weitgehende Übereinstimmung, dass § 291 a ein geeignetes Sicherheitsniveau für E-Health-Anwendungen schafft. Das BMG ist offen für eine Diskussion, die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Finanzierung elektronischer Gesundheitsakten nach § 68 SGB V den Sicherheitsanforderungen nach § 291 a SGB V zu unterwerfen, sobald die dafür notwendigen Sicherheitsinfrastrukturen vorhanden sind.

Als erste derzeit gebräuchliche Gesundheitsakte wird dies vermutlich auf die Akte eines bekannten Softwarevertreibers zutreffen, die unter anderem im Hausarztvertrag in Baden-Württemberg zum Einsatz kommt. Der Anbieter ist technisch darauf vorbereitet. Ich wurde zufällig Zeuge eines Gesprächs am Rande der CeBIT, wo es sogar eine Auseinandersetzung mit Vertretern des BMG gab, die in dieser Frage eher bremsen wollten. Dieser Anbieter möchte lieber heute als morgen den Kryptografieschutz für diese Akte realisieren.

Weitere Anbieter von Gesundheitsakten werden mit Sicherheit folgen.

Kolleginnen und Kollegen, die Frage ist doch längst nicht mehr: Wollen wir Gesundheitsakten oder nicht? Finden wir Gesundheitsakten gut oder nicht gut? Die Gesundheitsakten sind da. Man muss kein Prophet sein, um Ihnen zu sagen: In wenigen Jahren wird es kaum einen Patienten geben, der keine solche Akte hat. Ganz im Gegenteil: Es wird sich kaum noch jemand vorstellen können, wie man sich vorher ohne Gesundheitsakte hat sicher fühlen können.

Die Frage lautet also nicht, ob wir Gesundheitsakten haben wollen oder nicht. Die Frage lautet vielmehr: Wollen wir, dass diejenigen Akten, an deren Führung wir Ärzte aktiv beteiligt sind, sicher sind, oder wollen wir das nicht? Wenn wir diese Frage mit Ja beantworten, ist die derzeit einzig erkennbare Lösung das Datenschutzinstrument elektronische Gesundheitskarte auf der Basis des § 291 a SGB V. Es gibt im Moment kein sicheres Verfahren, das diese Daten schützen kann.

Über das, was die Patienten sonst machen, indem sie bei Google oder Microsoft oder anderen Anbietern Gesundheitsakten führen lassen, haben wir sowieso nicht zu entscheiden. Immer dann, wenn wir gefragt werden, ob wir bei der Führung einer Gesundheitsakte helfen können, müssen wir darauf dringen, dass dies nur eine Akte sein kann, die tatsächlich gesichert ist.

Die nächste Forderung gewinnt nach den sehr ernüchternden Ergebnissen in den sieben Testregionen mehr denn je an Brisanz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mute Ihnen und mir jetzt einiges zu. Ich werde nämlich den Versuch unternehmen, Ihnen einen komplexen Zusammenhang in wenigen Minuten zu erklären, zu dessen Erkenntnis ich selbst mehrere Monate gebraucht habe, obwohl ich Ihnen versichern kann, dass kein Tag einschließlich der Wochenenden vergeht, an dem ich mich nicht mit diesem Projekt befasse, auch befassen muss.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gehe davon aus, dass Sie Anwender von PCs sind, ob zu Hause, in der Praxis oder wo auch immer. Demnächst wird es im Media Markt und anderswo wieder sensationelle Sonderangebote mit dem neuen Betriebssystem Windows 7 von Microsoft geben. In diesem Arrangement, diesem kompletten Paket, wird Ihnen die Hardware, also das Paket mit dem PC-Turm, praktisch geschenkt. Dieses Geschenk ist sozusagen Ihr persönlicher Bonus von Microsoft dafür, dass Sie das neue Betriebssystem nach jahrelangen Tests im Entwicklungslabor im Echtbetrieb einsetzen und dabei mithelfen, die sogenannten Kinderkrankheiten zu identifizieren. Das nennt man in der freien Wirtschaft „Einführungsprozess“.

Das persönliche Risiko, wenn Sie den PC nicht gerade in einer vernetzten Umgebung einsetzen, ist relativ gering. Es kann Ihnen passieren, dass der Drucker nicht mehr funktioniert. Ansonsten merken Sie wahrscheinlich kaum Friktionen. Diese treten in vernetzten Systemen auf. Deswegen sind die Unternehmen sehr zögerlich, bis sie etwas Neues einsetzen. Sie warten, bis die sogenannten Kinderkrankheiten identifiziert sind. Sie müssen weder an dem Turm technisch etwas ändern, noch hat es jemals Rückrufaktionen für Türme gegeben, nur weil ein Betriebssystem nicht funktioniert. Der Turm bleibt Ihnen erhalten. Die Kinderkrankheiten werden ausgemerzt, indem die Software angepasst wird.

Dies gilt analog auch für den Minicomputer, den Mikrochip auf der elektronischen Gesundheitskarte. Bei den berichteten Problemen im 10 000er-Test – ich stehe im täglichen Austausch mit den Testärzten – ging es ausschließlich um Anwendungen, also Anpassungsprobleme der Software an unterschiedliche Praxisinformationssysteme. Andreas Köhler hat am Montag darauf hingewiesen, dass es 290 unterschiedliche Anbieter gibt. Sie müssen alle mit dieser Karte sozusagen reagieren können. Es gibt keine Möglichkeit, das im Labor zu testen. Man braucht den Test in der Echtumgebung.

Natürlich gab es auch fehlerhafte Karten. Das waren aber einzelne Karten, die falsch individualisiert worden waren. Es hat keine Rückrufaktion für eine ganze Kartengeneration gegeben.

Der Fehler lag also darin, dass Anwendungen unausgereift in den Test gedrückt worden waren und man die Testärzte, die einem deshalb wirklich leidtun können, dabei ziemlich alleingelassen hat. Diese Testärzte können einem wirklich leidtun. Sie haben alles darangesetzt, die Sache zum Laufen zu bringen. Deshalb teilweise dieser frustrierte Unterton, auch wenn sie nach wie vor hinter dem Projekt stehen und weitermachen.

Gott sei Dank hat sich diese Erkenntnis auch bei der gematik durchgesetzt. Die elektronische Verordnung und der Notfalldatensatz kommen in der aktuellen Agenda gar nicht mehr vor und werden erst nach einer kompletten Neukonzeption zur Wiedervorlage kommen.

Also noch einmal: Es sind die Anwendungen, die im Labor funktionieren, in der Praxisumgebung, im Zusammenspiel mit der dort eingesetzten Praxissoftware aber teilweise versagen. Erst wenn man das verstanden hat, kann man auch manche der folgenden Aussagen wirklich nachvollziehen.

Die gematik hat – das haben Sie vielleicht mitbekommen – im vergangenen Jahr einen in Fachkreisen als hochprofessionell anerkannten Projektmanager eingekauft, der genauso agiert, wie er es gelernt hat. Er möchte beim Einstieg in den Online-Betrieb genauso vorgehen, wie es in der freien Wirtschaft üblich ist und wie es dort funktioniert, nämlich nach dem Beispiel des Media Markts. Aber, Kolleginnen und Kollegen, das geht bei uns nicht. Das ist für uns nicht akzeptabel, weil es an einzelnen Einsatzorten zu erheblichen Betriebsstörungen führen könnte. Diese Wahrscheinlichkeit ist relativ hoch. Und dieser Preis ist für uns einfach nicht bezahlbar.

Auch hierin sind wir uns mit dem BMG im Grundsatz einig: Es dürfen nur solche Komponenten und Anwendungen flächendeckend eingeführt werden, die die erforderlichen Tests erfolgreich durchlaufen haben. Das BMG hat hierzu zwei Testregionen benannt – Nordrhein-Westfalen und Bayern – und die dortigen Selbstverwaltungspartner aufgefordert, Pauschalen für die Testärzte zu vereinbaren. Diese Pauschalen sind dringend erforderlich. Diese Tests werden sich nämlich über viele Jahre hinziehen, da jedes der Projekte, aber auch jede der eventuell noch hinzukommenden Anwendungen vor der Übernahme in die Fläche getestet werden muss.

Es wird also einen definierbaren Start geben, aber keinen definierbaren Endpunkt für diese Testphase. Die Kollegen werden also über Jahre immer weiter testen. Deshalb ist es ganz wichtig, die Pauschalen unter diesem Gesichtspunkt zu verhandeln.

Wir sehen es so, das BMG sieht es so und hat die entsprechenden Schritte eingeleitet, aber in der gematik scheint sich das noch nicht so richtig umgesetzt zu haben. Da müssen wir aufpassen. Wir werden in der Gesellschafterversammlung darauf dringen, dass dieses Konzept, das wir uns, konsentiert mit dem BMG, als das einzig richtige vorstellen, umgesetzt wird.

Bei einem Punkt haben wir allerdings noch ein grundsätzliches Problem. Es geht darum, dass im Basis- und Online-Rollout eine ganz neue Kartengeneration zum Einsatz kommt. Diese Kartengeneration ist im Gegensatz zu dem, was wir bisher hatten, noch nicht ausführlich getestet worden. Das BMG verweist darauf, dass diese Karten abschließend getestet und durch das BSI zugelassen sind. Allein die Möglichkeit, dass es dazu kommen könnte, dass die neue Kartengeneration anders reagiert als die bereits bekannte, lässt uns fordern, dass, bevor diese Karten zum Einsatz kommen, im Rahmen von Kreuztests eine Prüfung erfolgt. Diese Forderung ist gar nicht so gravierend, wie sie vielleicht erscheinen mag. „Kreuztest“ bedeutet nur, dass man dasselbe, was man mit der Nullgeneration gemacht hat, auch in der Praxisumgebung durchführt. Hierzu verweise ich Sie auf den Vorstandsantrag VIII-35.

Die neunte Forderung bezieht sich auf häufig geäußerte Bedenken zur Datensicherheit. Es bleibt ein Restmisstrauen, auch wenn es ein Weißbuch der gematik gibt. Man könnte den Eindruck haben, dass man vielleicht auf dem einen Auge ein bisschen blind sein möchte.

Die neunte Forderung beinhaltet die Erstellung und Veröffentlichung eines umfassenden Sicherheitsgutachtens durch einen unabhängigen Gutachter. Das ist in Auftrag gegeben. Solche Gutachten dauern allerdings ihre Zeit. Wir fragen ständig bei der gematik nach, wie der Stand der Dinge ist. Wir sichern Ihnen zu: Sobald dieses Gutachten vorliegt, werden wir dafür sorgen, dass es in angemessener Form veröffentlicht wird.

Die zehnte Forderung lautet: keine Speicherung von genetischen Informationen und potenziell besonders stigmatisierenden Diagnosen mithilfe der elektronischen Gesundheitskarte. Ich glaube, diese Forderung ist ein bisschen unter dem Eindruck entstanden, dass es diesen Automatismus gibt, dass bestimmte Dokumentationen aus der eigenen Software übernommen werden. Die Erarbeitung und Festlegung der zu speichernden Diagnosekategorien liegt gemäß der Aufgabenverteilung der gematik-Gesellschafter in der Verantwortung der Bundesärztekammer. Wir sollten uns aber davor hüten, kategorisch bestimmte Dinge zu exkludieren, damit wir den Patienten nicht bevormunden. Kolleginnen und Kollegen, es kann sein, dass Patienten eine Information, die eine genetische Basis hat, in der Akte haben wollen, aus welchen Gründen auch immer. Ich sehe keinen Grund, warum man diesem Patientenwillen nicht nachkommen sollte.

Aber wir werden als behandelnde Ärzte ein ganz großes Stück Verantwortung übernehmen müssen, den Patienten auf die Folgen hinzuweisen, ihm zu sagen, was es eventuell nach sich ziehen könnte, wenn eine solche Diagnose dort aufgenommen wird. Der Patient entscheidet gemeinsam mit dem behandelnden Arzt letztendlich darüber. Das ist ein besonders kritischer Punkt, an dem die Beratung besonders angebracht ist.

Der 111. Deutsche Ärztetag in Ulm hatte auch die Herstellung von Transparenz über die bisherige sowie die geplante Verwendung von Versichertengeldern gefordert. Als Gesellschafter der gematik haben wir natürlich Einblick in den gematik-Haushalt. Dieser ist relativ einfach gestrickt. Es ist gesetzlich festgelegt, dass pro Versicherten und Jahr 1 Euro pro Jahr einbezahlt wird. 1 Euro klingt nicht viel; das hört sich für jemanden, der in Berlin oft mit der U- und der S-Bahn fährt, wie ein Almosen an. Aber bei 70 Millionen Versicherten summiert sich das doch zu einem erklecklichen Betrag von 70 Millionen Euro pro Jahr. Das ist der derzeitige gematik-Haushalt.

Über das, was die Kassen demnächst dort finanzieren werden, gibt es bisher nur annähernde Schätzungen, die sich auf die vereinbarten Pauschalen in Nordrhein für die Finanzierung der Lesegeräte beziehen.

Wir hätten als Ansprechpartner dafür – wir werden diesen Ansprechpartner auch nutzen – den Spitzenverband Bund. Das BMG hat uns zugesichert: Wenn wir dabei nicht erfolgreich sein werden, wird das BMG seinerseits an den Spitzenverband herantreten, damit diese Zahlen öffentlich werden.

Es sollte schon klar sein, was tatsächlich in dieses Projekt investiert wird. Da ist bisher außer der Pauschalierung in Nordrhein und dem Haushalt der gematik noch nichts Wesentliches passiert.

Unsere letzte Forderung lautete: vollständige Kostenerstattung an Ärzte und Krankenhäuser für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte. In der ursprünglichen Fassung des § 291 a SGB V gab es unter Abschnitt 7 eine einzige Feststellung: Die Kosten für die Telematik sind zu erstatten. Inzwischen ist dieser Paragraf fast eine ganze Seite lang und umfasst die Absätze 7 bis 7 e. Es gibt im SGB V konkrete Bestimmungen, wie diese Kosten zu ersetzen sind. Danach ist die Telematik von den Kostenträgern zu finanzieren.

Letztendlich ist das natürlich eine Frage der Ausgestaltung durch die Vertragspartner der Selbstverwaltung. Das BMG sieht sich durch die gesetzlichen Regelungen nicht mehr in der Pflicht und erklärt: Was wir tun konnten, ist letztendlich in diesem Sinne geregelt.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das war eine Tour d’Horizon durch diesen Forderungskatalog. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken für Ihre Konzentration und Aufmerksamkeit, die ich wahrgenommen habe. Ich glaube allerdings, dass eine derart ausführliche Darstellung notwendig war. Wenn diese substanziell ein Stück weit zur Versachlichung der manchmal auch emotional geführten Diskussion beigetragen hat, wäre ich sehr zufrieden.

Deshalb danke ich Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit und würde mich freuen, wenn Sie uns bei den nicht immer einfachen Bemühungen um eine patienten- und arztgerechte Begleitung dieses Projekts auch in Zukunft unterstützen würden.

Ich danke Ihnen.

(Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Vielen Dank, Franz Bartmann. Das ist ein schwieriges Thema, das auch innerhalb der Ärzteschaft sehr umstritten ist. Da braucht es besonders viel Rückenstärkung, weil wir ja in Berlin eine andere Situation haben, als wenn wir in unseren Kammervorständen sitzen. Da herrscht manchmal eine etwas andere Atmosphäre als jene, die Franz Bartmann in Berlin erlebt.

Wir haben heute zwei Geburtstagskinder unter uns. Das ist zum einen der Vizepräsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Herr Dr. Reinhardt. Herzlichen Glückwunsch!

(Beifall)

Das andere Geburtstagskind ist aus derselben Ärztekammer, deren „Finanzminister“, Herr Dr. Czeschinski. Herzlichen Glückwunsch!

(Beifall)

Wir treten in die Aussprache ein. Der erste Redner ist Herr Kollege Zöllner aus Bayern.

© Bundesärztekammer 2009