Eröffnungsveranstaltung

Dienstag, 11. Mai 2010, Vormittagssitzung

Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich HoppeProf. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages und Präsident der Ärztekammer Nordrhein: Meine Damen und Herren, dass ich das noch erleben darf!

(Heiterkeit – Beifall)

Sehr geehrte Abgeordnete aus Europa, aus dem Bund und aus den Ländern! Sehr verehrte Frau Ministerin Clauß! Sehr geehrter Herr Bürgermeister! Sehr geehrter Herr Minister Dr. Rösler! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich zunächst für die Worte von Herrn Ministerpräsident Tillich, der jetzt nach Leipzig muss, und für das, was er zur Priorisierung gesagt hat. Ich habe es ihm schon, als wir nebeneinandersaßen, gesagt, was ein klassisches Beispiel für Priorisierung ist, nämlich Versorgungsziele benennen. Er hat das Beispiel der Prävention genommen. Das ist ein Priorisierungsbeispiel. Insofern sind wir nicht so weit auseinander. Vielleicht muss man einen anderen Ausdruck finden, damit das nicht so negativ daherkommt, wie „Priorisierung“ offensichtlich klingt.

Herr Bürgermeister, Ihre Stadt ist ein Gedicht; das muss ich ehrlich sagen.

(Beifall)

Ich kenne sie seit dem März 1990 und habe sie noch in Schutt und Trümmern gesehen, bis auf das, was ersatzweise gebaut wurde. Aber wenn man jetzt die Innenstadt sieht, muss man sagen: Es ist ein pures Vergnügen, nach Dresden zu kommen, zumal wenn man von Mitgliedern der Sächsischen Staatskapelle Dresden musikalisch begrüßt wird. Es ist aus meiner Sicht eines der besten Orchester der Welt.

(Beifall)

Es hat nämlich einen völlig eigenen Klang. Es ist nicht so, als sei der Klang austauschbar. Das ist nicht der Fall.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, über Jahre haben wir gekämpft, um mit unseren Sorgen und Problemen gehört zu werden. Wir haben um Gesprächstermine nachgesucht, wir haben protestiert, wir haben demonstriert. Das war ein mühevolles und hartes Geschäft. Heute müssen wir nicht mehr kämpfen, um uns Gehör zu verschaffen. Heute sitzt hier jemand mit einem offenen Ohr für die tatsächlichen Probleme im Gesundheitswesen. Wir haben es eben gehört. Und endlich einmal müssen wir uns nicht mehr auf einem Deutschen Ärztetag nach einer Bundestagswahl mit einem Vorschaltgesetz zur Kostendämpfung auseinandersetzen.

(Beifall)

Vielen Dank, für Ihre Rede, Herr Minister Rösler. Der Beifall des Hauses hat Ihnen gezeigt, dass Sie voll verstanden worden sind.

Wir haben in der Vergangenheit immer wieder den Dialog angemahnt, weil wir der festen Überzeugung sind, dass wir nur miteinander wirklich sinnvoll gestalten können und dass nur aus der Erfahrung von Ärztinnen und Ärzten, Pflegenden und der vielen anderen Gesundheitsberufe heraus Politik Verständnis und damit auch Lösungskompetenz für die Herausforderungen unseres Gesundheitswesens entwickeln kann. Deshalb auch haben wir die Versorgungsforschung angestoßen. Über fünf Jahre lang haben wir Projekte gefördert, um wissenschaftlich analytisch, um empirisch sicher aufzeigen zu können, wie medizinische Versorgung auf der sogenannten letzten Meile tatsächlich aussieht. Denn darum geht es doch in der Gesundheitspolitik: Rahmenbedingungen zu schaffen, die es gestatten, dass jeder Patient am Ende eine gute Medizin bekommt.

Es muss wieder um den Menschen und nicht um Macht, es muss wieder um den Patienten und nicht nur um Politik gehen. Letzteres haben wir in der Vergangenheit erlebt. Wir haben deshalb hoffnungsvoll zur Kenntnis genommen, dass im Koalitionsvertrag eine neue Dialogkultur für das Gesundheitswesen angekündigt wurde. Nach einem halben Jahr der Zusammenarbeit kann ich nur bestätigen, Herr Minister Rösler, dass Sie Ihre Ankündigung wahr gemacht haben und dass wir die Probleme gemeinsam angehen. Zu allen wichtigen Themen gibt es kontinuierliche Gespräche. Wir reden wieder miteinander und das ist manchmal sogar ein Vergnügen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen aus Ihrer täglichen Arbeit, dass das Vertrauen in der individuellen Patient-Arzt-Beziehung etwas Grundlegendes ist. Aber dieses Vertrauen will erarbeitet sein. Deshalb ist das Gespräch mit den Patienten so außerordentlich wichtig. Wir müssen nicht nur hören, wir müssen auch richtig zuhören. Diese wechselseitige Bereitschaft des Verstehens erst ermöglicht uns die Empathie, die wir brauchen, um die Welt des anderen zu verstehen. Nicht anders verhält es sich in der Politik. Auch hier gilt: Vertrauen durch Dialog.

Fast möchte man all den Dogmatikern der letzten Jahre mit Ferdinand Lassalle zurufen: „Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist – und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.“ Hätten manche das nur früher gelesen!

Wie nun sieht es tatsächlich aus in Deutschlands Kliniken und Praxen? Was erwarten die Patientinnen und Patienten? Und was sind die Sorgen von Ärztinnen und Ärzten?

Ich muss nicht noch einmal ausführen, wie überbordende Bürokratie die tägliche Arbeit erschwert, wie Arbeitsbedingungen und Überstunden jungen Ärztinnen und Ärzten, die sich auch noch um ihre Familie kümmern wollen, den Einstieg in die kurative Medizin erschweren. Und auch wie das wirtschaftliche Risiko und die zunehmende Bedeutung von Haftungsfragen den Weg in die Niederlassung schwer machen. Wir haben früh auf diese Defizite aufmerksam gemacht, haben davor gewarnt, dass der Verlust an Attraktivität des Arztberufs sich ganz konkret auf das Niveau der Versorgung auswirken wird. Nun, da die Probleme nicht mehr verschwiegen und auch nicht mehr bemäntelt werden können, jetzt, wo der Ärztemangel in vielerlei Regionen offensichtlich geworden ist, gibt es endlich einen Wettbewerb um Ideen. Und, meine Damen und Herren, es ist auch allerhöchste Zeit, denn, wie man so schön sagt, die Hütte brennt! Es ist Feuer unterm Dach.

Minister Rösler hat es gesagt: Wir haben 5 000 offene Stellen in den Krankenhäusern. Die Zahl der jungen Ärztinnen und Ärzte nimmt dramatisch ab, von 5,1 Prozent im Jahre 2008 auf jetzt 4,5 Prozent. Den über 60-jährigen Kollegen, die mittlerweile mehr als 21 Prozent ausmachen, fehlt der Nachwuchs. Und da hilft es auch nicht, auf die gestiegene Gesamtzahl der Ärztinnen und Ärzte zu verweisen, wenn die Zahl der tatsächlich zur Verfügung stehenden Arztarbeitsstunden sinkt. Denn – einmal abgesehen von Arbeitszeitvorschriften – die nachrückende Ärztegeneration hat Lebensentwürfe, die mit den bisherigen Marathondiensten im Krankenhaus oder der Selbstausbeutung in freier Praxis nicht mehr vereinbar sind.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, wir können nur dann attraktivere Arbeitsbedingungen schaffen, wenn wir genau über die Sorgen und Nöte der jungen Ärztinnen und Ärzte Bescheid wissen. Wir haben deshalb Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung und deren Weiterbildungsbefugte konkret über deren Arbeitssituation und die Qualität der Weiterbildung befragt. Geantwortet haben uns fast 30 000 Ärztinnen und Ärzte. Im Ergebnis sind die Weiterzubildenden deutschlandweit grundsätzlich mit ihrer Weiterbildungssituation in Klinik und Praxis zufrieden. Sie gaben ihrer Weiterbildung insgesamt die Note 2,5. Mit Gut bewerten die Weiterzubildenden auch die Betriebskultur. Grundsätzlich zufrieden sind sie mit der Vermittlung von Fachkompetenz, mit der Entscheidungs-, Führungs- und Lernkultur an den Weiterbildungsstätten.

Aber die Umfrage hat auch gezeigt, dass der ökonomische Druck im Arbeitsalltag der jungen Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung zu einer enormen Belastung geworden ist. Leistungsverdichtung bei verkürzten Liegezeiten und bei einer Reduzierung der Stellen im ärztlichen Dienst führen zu extrem hoher Arbeitsbelastung. Dies ist schon daran abzulesen, dass die Personalkosten unserer Krankenhäuser von 65,2 Prozent im Jahre 2002 auf 60,5 Prozent im Jahre 2008 zurückgegangen sind. Sie lagen in den 90er-Jahren noch bei 70 Prozent.

Zunehmend auch werden gerade junge Ärztinnen und Ärzte durch den ausufernden Bürokratismus immer stärker mit nicht ärztlichen, organisatorischen und administrativen Tätigkeiten beansprucht. Diese Zeit fehlt dann in der medizinischen Versorgung und das spüren die Ärztinnen und Ärzte, die Weiterbilder und vor allem die Kranken.

Wir werden die Daten dieser Befragungsrunde genau analysieren und die Studie wiederholen. Die Ergebnisse dieser ersten Umfrage sind aber schon jetzt ein klares Signal auch an die Politik, die Rahmenbedingungen der ärztlichen Arbeit in Deutschland schnell und spürbar zu verbessern.

Meine Damen und Herren, die Befragung hat einmal mehr deutlich gemacht, dass wir ein neues Denken für die Organisation ärztlicher Arbeit brauchen. Und da sind die Klinikträger ebenso aufgerufen wie die Kassenärztlichen Vereinigungen. Wir müssen die alten Strukturen infrage stellen und neue Modelle entwickeln. Wir müssen die Arbeitsbedingungen der Lebenswelt der jungen Ärzte und vor allem der jungen Ärztinnen anpassen. Deshalb auch haben wir Herrn Minister Rösler vorgeschlagen, einen bundesweiten Gipfel zu Arbeitszeitmodellen mit allen Beteiligten zu organisieren. Wir müssen über diese Probleme reden, nur dann können wir auch gemeinsam Lösungen finden.

Aber, meine Damen und Herren, wir haben nicht nur Probleme beim Übergang vom Studium in die kurative Medizin, wir müssen auch das Medizinstudium selbst durchlüften. Das Studium der Medizin muss endlich praxistauglich werden. Der Patient darf nicht länger eine theoretische Größe sein. Die angehenden Ärztinnen und Ärzte müssen näher und früher an die Patienten herangeführt werden. Sie müssen sehen, was es heißt, später als Ärztin oder als Arzt zu arbeiten, und sie müssen erleben, wie erfüllend es ist, Patientinnen und Patienten zu helfen oder sogar zu heilen. Und das nicht nur mit hoch spezialisierten Methoden, sondern auch und gerade mit denen der hausärztlichen Versorgung durch die Allgemeinmedizin. Dann, meine Damen und Herren, da bin ich sicher, werden wir auch mehr Absolventen des Medizinstudiums bewegen können, später als Ärztin bzw. als Arzt in der Patientenversorgung überhaupt und dann vielleicht auch auf dem Lande zu arbeiten, wo sich die Bevölkerung ja wünscht, dass nicht nur durchreisende Ärztinnen und Ärzte ihre Versorgung übernehmen, sondern dass Ärztinnen und Ärzte ihre Welt, die sie erleben, mit ihnen gemeinsam erleben und teilen.

Natürlich müssen wir auch darüber nachdenken, die Zulassungskriterien zum Medizinstudium mehr auf die persönliche, soziale Eignung hin zu definieren. Seit Jahren plädieren wir dafür, den Notendurchschnitt nicht überzubewerten, sondern persönliche Motivation und soziales Engagement gleichwertig zu berücksichtigen. Dann heißt es immer, der Notendurchschnitt sei aber nur für 20 Prozent des Zugangs entscheidend, 60 Prozent könnten die Hochschulen nach eigenen Kriterien auswählen. Aber da muss man ganz ehrlich sein: Die deutschen Hochschulen nutzen diese Möglichkeit leider nur unzureichend. Da brauchen wir endlich frischen Wind und neue Überlegungen, damit die soziale Kompetenz eine größere Rolle spielt und das Ganze nicht wieder an die ZVS abgegeben wird, die sich natürlich primär am Notendurchschnitt im Abitur orientiert und so diese Quote von 20 Prozent natürlich erheblich steigert.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, mit den bisherigen Rezepten können wir das Gesundheitswesen nicht kurieren. Wir brauchen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Wir müssen endlich die Lebenswirklichkeit in der Problemanalyse abbilden und nicht umgekehrt. Deshalb ist es so wichtig, dass die, die beteiligt und betroffen sind, Gehör finden.

Zu all diesen wichtigen Themen haben wir mit dem Bundesgesundheitsministerium Arbeitsgruppen gebildet, in denen wir gemeinsam, sachgerecht und zügig Lösungsvorschläge erarbeiten wollen. Und, Herr Minister Rösler, diesmal habe ich die Zuversicht, dass wir nicht das, was das Ministerium bisher getan hat, alles absegnen, sondern dass wir mit der Lösung der Probleme einen großen Schritt vorankommen.

(Beifall)

Nun ist es nicht so, meine Damen und Herren, dass wir nicht auch verschiedener Meinung wären. Zwei Ärzte – eine Meinung, das kann es nicht immer geben.

Sie ahnen schon, um welches Thema es geht. Es geht um das Thema Rationierung und Priorisierung. Dass es zur Rationierung in der medizinischen Versorgung kommt, ist mittlerweile wohl unbestritten. Längst ist die sogenannte heimliche Rationierung öffentlich geworden. Aber wie wollen wir damit umgehen? Seit Jahr und Tag liegt der Anteil der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung am Bruttoinlandsprodukt konstant bei etwa 6 Prozent, im Vergleich zu anderen in der OECD organisierten Staaten mit einem Durchschnittswert von mindestens 8 Prozent. In den letzten zehn Jahren waren wir Deutschen sogar die Sparsamsten. Die Gesundheitskosten pro Kopf wachsen in Deutschland seit zehn Jahren nur noch um 1,7 Prozent im Jahr. Unter den 31 Industrieländern der OECD ist das der 30. Platz, der vorletzte. Das ist weit unter dem durchschnittlichen OECD-Wachstum von 4,1 Prozent.

Zugleich aber stehen wir vor der Herausforderung einer demografischen Entwicklung, die uns eine Gesellschaft des langen Lebens beschert, die aber auch zu Multimorbidität und zu einer erhöhten Zahl chronisch Kranker führt. Mehr denn je haben wir Möglichkeiten der medizinischen Diagnostik und Therapie. Aber die Schere zwischen dem, was wir leisten können, und dem, was wir bezahlen wollen, klafft immer weiter auseinander. Und so auch zwischen dem, was das Sozialrecht anbietet, und dem, was das Haftungsrecht fordert. Das ist ein unerträglicher Spagat, der überwunden werden muss.

(Beifall)

Deshalb müssen wir darüber reden, wie wir trotz begrenzter Ressourcen eine gerechte Versorgung gestalten können.

Im derzeitigen System sehe ich nur einen Weg aus der Rationierung, nämlich die Diskussion um die Priorisierung. Da müssen wir offensichtlich Begriffe klären und uns klar darüber werden, was der Unterschied zwischen Priorisierung und Rationierung ist. Aber das schaffen wir auch.

Ich darf wiederholen, was Jan Schulze am Anfang gesagt hat – ich bestätige das aus vollem Herzen –: Es ist ethisch nicht mehr vertretbar, diese Diskussion nicht zu führen. Auch über solch extrem schwierige Fragen, Herr Minister Rösler, müssen wir reden; nicht nur wir beide, sondern im gesellschaftlichen Diskurs. Deshalb haben wir einen Gesundheitsrat vorgeschlagen, in dem Philosophen, Theologen, Juristen, Patientenvertreter, Ärztinnen und Ärzte und andere Gesundheitsberufe diese Fragen im vorpolitischen Raum eingehend diskutieren. Dabei soll es sich um solche Personen handeln, die wirklich an der Front arbeiten und sich nicht erst auf der fünften Filterstufe Gedanken machen.

(Beifall)

Auch hier gilt mehr denn je: Dialog schafft Vertrauen. Wir wollen unsere Mitmenschen mitnehmen, wir wollen sie in die Entscheidungsprozesse einbinden. Sie müssen verstehen können, um was es geht. Nur dann auch werden sie Verständnis für die Entscheidungen haben. Diese Entscheidungen können nur diejenigen fällen, die dazu legitimiert sind. Das sind nun einmal die Gewählten. Aber wir sind gern bereit, so viel wie möglich an Input zu liefern, damit diese Entscheidungen gut werden.

Meine Damen und Herren, Chancengleichheit im Zugang zu guter medizinischer Versorgung kann nur dann gewährleistet werden, wenn sie auf der Grundlage gesellschaftlich konsentierter Kriterien basiert und auch individuell einklagbar ist. Gerade dieses letzte Kriterium, dieser individuelle, rechtlich verankerte Anspruch des Patienten auf eine angemessene, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung ist es, was die Patientenrechte in Deutschland zu den stärksten der Welt macht. Wenn wir nun über ein Patientenrechtegesetz – an irgendeiner Stelle steht sogar: Patientenschutzgesetz – diskutieren, wie es im Koalitionsvertrag angekündigt wurde und wie es der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Wolfgang Zöller, Mitglied des Deutschen Bundestages, bis zum Ende des Jahres in Eckpunkten beschreiben möchte, dann kann es zunächst nur darum gehen, diese individuellen Patientenrechte, wie wir sie aus dem Behandlungsvertrag, aus dem SGB V und vielfältiger Rechtsprechung – aus dem Strafrecht, aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch – kennen, zu kodifizieren. Dann allerdings müssen wir darüber nachdenken, wie wir die kollektiven Patientenrechte, das heißt die Rechte der Versicherten und Patienten gegenüber Staat und Gesellschaft, stärken. Das wird schwierig – ich weiß es –, aber es ist wichtig, gerade vor dem Hintergrund von Rationierung und Mangelversorgung.

Der Bundesgerichtshof hat zum ersten Mal 1993 festgestellt, dass unsere Kranken einen Anspruch darauf haben, nach Facharztstandard behandelt zu werden. Das ist eines dieser Patientenrechte durch Richterrechtsprechung. Und es ist ein wichtiges, meine Damen und Herren, denn es gewährt den Patienten das Recht auf eine qualitativ hochwertige Versorgung und schützt sie vor einer Deprofessionalisierung des Arztberufs. Wann immer wir über die Grenzen von Delegation und Substitution diskutieren, dürfen wir dieses Schutzniveau für Patientinnen und Patienten nicht vergessen. Delegation bedeutet arztunterstützende und arztentlastende Maßnahmen unter originär ärztlicher Verantwortung. Substitution hingegen würde das Recht des Patienten auf Facharztstandard unterlaufen.

(Beifall)

Wenn wir diese Grundsätze beachten, dann können wir die bisherigen Konzepte der Patientenversorgung gemeinsam weiterentwickeln. Diese Zusammenarbeit brauchen wir auch; denn moderne Medizin ist komplex und kann nur in arbeitsteiliger Kooperation zu guten Ergebnissen führen. Vor dem Hintergrund der therapeutischen Gesamtverantwortung von Ärztinnen und Ärzten zielen wir auf ein synergetisches Zusammenwirken der verschiedenen Qualifikationen und Kompetenzen der Gesundheitsberufe, statt konkurrierende Parallelstrukturen aufzubauen.

Ein Großteil der Gesellschaft wird in absehbarer Zeit behandlungs- und pflegebedürftig, aber wir haben zu wenig Ärzte in der Behandlung und zu wenig Pflegepersonal in der Betreuung. Die familiären Strukturen sind brüchig geworden, soziale Verbandsstrukturen sind kaum noch tragend. Wir sind auf dem Weg in die Singlegesellschaft, aber der Single ist nicht nur der lebensfrohe Jungdynamiker, sondern mehr und mehr der alte einsame Mensch. Auch hier brauchen wir ein grundsätzlich neues Denken, müssen kreativ am Aufbau neuer Sozialstrukturen arbeiten, müssen gemeinsam Pilotprojekte fördern. Gesellschaft kann sich nicht mehr nur im Anspruch des Einzelnen an den Staat definieren; wir brauchen wieder mehr Rückbesinnung auf Gemeinwohl und gesellschaftliches Engagement.

(Beifall)

Die Gesundheitsberufe allein können diese Aufgabe nicht mehr stemmen. Es ist ja mittlerweile eine Übung geworden, dass man versucht, die Probleme der Gesellschaft zum großen Teil in das Gesundheitssystem zu verlagern. Das schaffen wir nicht, wir brauchen die Hilfe aus der Mitte der Gesellschaft.

Meine Damen und Herren, eine Gesellschaft definiert sich immer auch aus dem Umgang mit ihren Randgruppen. Schwerkranke, zumal am Ende ihres Lebens, sind eine solche Randgruppe in Deutschland. Sterben und Tod sind in den Konsumgesellschaften der Moderne tabuisiert. Macht und Materialismus werden glorifiziert. Wer diesem Zeitgeist nicht mehr folgen kann, der wird ausgegrenzt, ist allein und empfindet sich – zumal im Alter – oft als Belastung. Es ist einfach so, dass viele – etwa 95 Prozent – derer, die vorzeitig aus dem Leben scheiden wollen, an starken Depressionen leiden. Deshalb müssen wir uns um diese Erkrankten kümmern, nicht aber einem Suizid den Weg bereiten.

(Beifall)

Es ist so leichtfertig, populistisch und gefällig, nach einer Legalisierung der Sterbehilfe zu rufen. Das vielzitierte Selbstbestimmungsrecht wird doch zur Farce, wenn es durch gesellschaftliche Ausgrenzung und depressive Erkrankungen sozusagen fremdbestimmt ist. Deshalb müssen gerade wir Ärztinnen und Ärzte den Kranken in der Gesamtheit seiner Lebenssituation sehen. Wir müssen da, wo wir nicht mehr heilen können, helfen – auch helfen, in Würde zu sterben. Und deshalb bleibt es bei unserem ethischen Gebot: helfen im Sterben, nicht helfen, zu sterben.

(Beifall)

Töten – direkt oder mittelbar – darf keine Option im therapeutischen Instrumentarium von Ärztinnen und Ärzten sein.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, wir müssen uns einfach mehr um die unheilbar kranken Menschen kümmern. Wir müssen ihnen qualifizierte Schmerztherapie und bestmögliche Pflege bieten; sie müssen menschliche Nähe und Zuwendung spüren.

Dazu brauchen wir palliativmedizinische Versorgungsstrukturen im gesamten Land. Wenn wir diese Strukturen flächendeckend aufgebaut haben werden und die Menschen mehr über die Möglichkeiten der Schmerztherapie informieren, dann wird auch der Ruf nach aktiver Sterbehilfe verhallen. Sterben in Würde und ohne Schmerzen ist fast immer möglich.

Meine Damen und Herren, Sterben ist ein Teil des Lebens. Wir Ärzte sind dem Leben und dem Kranken verpflichtet, nicht dem Zeitgeist, der nach Tod ohne Sterben schreit.

(Beifall)

Sterben ist nicht normierbar. Krankheitsverläufe sind immer individuell und lassen sich in Gesetzen – auch dem zur Patientenverfügung – nicht wirklich abbilden. Nun ist das neue Betreuungsrechtsänderungsgesetz zwar in Kraft, aber ob es wirklich hilfreich ist, ist sehr zweifelhaft. Vor diesem Hintergrund haben wir als Bundesärztekammer nun gemeinsam mit der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer die Empfehlungen zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung überarbeitet. In unseren Empfehlungen geben wir unseren Ärztinnen und Ärzten, aber auch den Patientinnen und Patienten eine grundlegende Orientierung im Umgang mit vorsorglichen Willensbekundungen. Zwar kann der Arzt dem Patienten die oftmals schwierige und als belastend empfundene Entscheidung über das Ob und Wie einer vorsorglichen Willensbekundung nicht abnehmen, wohl aber Informationen für das Abwägen der Entscheidung. Der Arzt kann über die medizinisch möglichen und indizierten Behandlungsmaßnahmen informieren, auf die mit Prognosen verbundenen Unsicherheiten aufmerksam machen und über seine Erfahrungen mit Patienten berichten, die sich in vergleichbarer Situation befunden haben.

Meine Damen und Herren, es ist aber absolut illusorisch, anzunehmen, dass man alle denkbaren Fälle mit einer Patientenverfügung erfassen kann. Deshalb ist und bleibt das Gespräch mit den Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen entscheidend. Auch hier müssen wir Ärztinnen und Ärzte noch vieles lernen, denn diese Sozialkompetenz ist wesentlicher Bestandteil der ärztlichen Kunst.

Soziale Kompetenz und soziale Verantwortung sind für mich die entscheidenden Determinanten einer gesellschaftlichen Entwicklung. Wir Ärztinnen und Ärzte können zwar nicht die Gesellschaft in toto analysieren, geschweige denn verändern, aber wir sehen die einzelnen Menschen mit ihren Nöten, mit ihren Sorgen, mit ihren Krankheiten. Wir sehen die Symptome, wenn die Gesellschaft erkrankt. Wir sehen, wie Mangelernährung unter Kindern und Alkohol- und Drogenkonsum unter Jugendlichen zunehmen. Wir sehen die psychische Belastung alleinerziehender Mütter, die Zunahme von Burnout am Arbeitsplatz und die Einsamkeit alter Menschen. Wir können viele Faktoren erkennen, die zu Krankheit führen. Aber uns fehlen die Mitmenschen, die uns beim Heilen helfen. Das Soziale droht in unserer wachsenden Singlegesellschaft verloren zu gehen. Und das können wir weder als Ärztinnen und Ärzte kompensieren, noch können das die Politiker durch Gesetze administrieren.

Eine Gesellschaft des langen Lebens erfordert neues Denken, erfordert ein Zusammenwirken all ihrer Kräfte für ein größeres soziales Engagement der Menschen untereinander.

Eine Gesellschaft ist mehr als nur die sie umgebende Staatsform. Eine Gesellschaft wird maßgeblich geprägt durch ihre Kultur, durch den Umgang der Menschen miteinander.

Gesundheit kann die große Frage des 21. Jahrhunderts werden und die Antwort liegt gewiss nicht nur bei uns Ärztinnen und Ärzten, Pflegenden und den anderen Angehörigen der Gesundheitsberufe. Eine Gesellschaft des langen Lebens erfordert einen neuen Gesellschaftsvertrag.

Wir können unsere Zukunft nur menschenwürdig gestalten, wenn wir uns rückbesinnen auf den Menschen als soziales Wesen. Wir brauchen endlich ein neues Signal aus der Mitte der Gesellschaft, wir brauchen einen Sozialpakt für die Zukunft. Wir Ärztinnen und Ärzte in Deutschland sind bereit, unseren Beitrag dafür zu leisten.

Vielen Dank.

(Lebhafter Beifall)

Ich bitte Sie, sich zum Singen der Nationalhymne zu erheben.

(Die Anwesenden singen die Nationalhymne)

Damit, meine Damen und Herren, ist der 113. Deutsche Ärztetag 2010 in Dresden eröffnet. Ich bitte Sie, den Saal noch nicht zu verlassen, denn es erwartet uns noch ein musikalisches Finale mit Werken von Bach und Mozart, das wir uns nicht entgehen lassen sollten.

(Musikalisches Finale: Johann Sebastian Bach: Orchestersuite Nr. 3 D-Dur, BWV 1068, Ouvertüre – Air – Gigue; Wolfgang Amadeus Mozart: Motette für Sopran „Exsultate, jubilate“, KV 165, Allegro – Molto Allegro)

(Beifall)

Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages und Präsident der Ärztekammer Nordrhein: Wir danken Frau Anna Palimina, einer jungen Sängerin, die in Dresden studiert hat und derzeit in Köln engagiert ist. Wir danken auch den Mitgliedern der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Kammervirtuos und Konzertmeister Thomas Meining. Wir haben uns sehr gefreut.

(Beifall)

Nunmehr sind alle Teilnehmer der Eröffnungsveranstaltung zum Empfang der Sächsischen Landesärztekammer in das Foyer der Semperoper eingeladen.

Danke schön.

(Beifall)

Ausführende des Musikprogramms:

Jacob Meining (14 Jahre), Sächsisches Landesgymnasium für Musik Carl Maria von Weber Dresden

Markus Pötschke, Tenorsaxophon, Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden

Anna Palimina, Sopran

Mitglieder der Sächsischen Staatskapelle Dresden, Leitung und Violine: Kammervirtuos Thomas Meining, Konzertmeister

© Bundesärztekammer 2010