TOP II: Versorgungsforschung

Mittwoch, 12. Mai 2010, Nachmittagssitzung

Prof. Dr. ManskyProf. Dr. Mansky, Referent: Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin! Hohes Präsidium! Meine Damen und Herren! Ich kann Frau Kurth natürlich nicht ersetzen, aber versuchen, für mein Gebiet einen kurzen Abriss über den Stand der Dinge zu geben. Das Gutachten ist in Arbeit. Ich kann Ihnen also noch nichts über die Ergebnisse berichten, sondern über die Probleme, die wir bearbeiten.

Wenn Sie Versorgungsforschung aktiv mitgestalten wollen, wenn Sie überhaupt zu irgendwelchen Themen Stellung nehmen wollen, dann werden Sie auch Daten benötigen. Sie sind eigentlich das Essenzielle. Die Frage, die sich stellt, lautet: Sind Sie in dem Prozess Treiber oder Getriebene? Nur wenn Sie Daten haben, können Sie treiben. Anderenfalls nehmen andere die Auswertung vor, beispielsweise das WIdO. Sie können dann nur reagieren. Agieren können Sie nur, wenn Sie selber Daten haben bzw. Zugang zu Daten.

Deswegen gab es 2008 auf dem Deutschen Ärztetag einen Entschließungsantrag der Herren Dr. Jonitz, Dr. Koch, Dr. Kaplan, Professor Hessenauer und Dr. Crusius:

Der Gesetzgeber wird aufgefordert, durch geeignete Maßnahmen dafür Sorge zu tragen, dass die ärztlichen Körperschaften zur Durchführung ihrer Aufgaben … ungehindert Zugang zu sozialen und krankheitsbezogenen Daten von Versicherten … erhalten.

Der konkretisierte Gutachtenauftrag bezieht sich zum einen auf die Bestandsaufnahme: Welche Daten existieren in welcher Qualität und in welcher Aktualität? Wie lassen sich die Daten zusammenführen? Welche Datenmanagement- und Auswertungstechniken gibt es, um die Daten zusammenzuführen? Welche Fragestellungen kann man damit sinnvollerweise bearbeiten? Welche Möglichkeiten gibt es, mit den Daten zu arbeiten?

Schlussfolgerungen zu ziehen, das ist nachher Ihre Aufgabe. Wir können hierzu nur Vorschläge machen und nicht eigenständig Schlussfolgerungen ziehen. Wir alle – ich bin ja auch Arzt – sind derzeit weit hinter dem zurück, was möglich ist. Es gibt schon jetzt diverse Daten im Versicherungssystem, die es erlauben, die Ergebnisqualität und die Entwicklung des Leistungsgeschehens auch sektorübergreifend zu beurteilen. Diese Daten lagern überwiegend bei den Krankenkassen.

Aufgrund der Abrechnung, wie sie heute erfolgt, sind Diagnosen, Prozeduren, demografische Informationen, Informationen über Heil- und Hilfsmittelverbrauch, Arzneiverordnungen, Todeszeitpunkte, Pflegestufe und andere Informationen in den Rechnersystemen der Krankenkassen längst verfügbar und werden dort auch genutzt und zusammengeführt.

Daraus lassen sich schon jetzt auf verschiedenen Ebenen Indikatoren für die Versorgungsqualität und die Leistungsentwicklung ableiten. Dies werde ich Ihnen nachher an einigen Beispielen demonstrieren.

Es ist nicht ganz trivial, diese Daten zusammenzuführen. Die Kassen haben einen Know-how-Vorsprung. Wir haben bereits bei den Untersuchungen bemerkt, die pseudonymisierte Zusammenführung der Daten ist teilweise schwierig, da die Richtigkeit der Versicherteninformation nicht in allen Bereichen garantiert ist. Aber mit bestimmten Strategien kann man herangehen. Da gilt es, den Know-how-Vorsprung aufzuholen, den die Kassen inzwischen erarbeitet haben.

Sie können im Krankenhaus die Krankenhaussterblichkeit beim Herzinfarkt messen. Dies geschieht schon jetzt in vielen Krankenhäusern. Rund 400 Krankenhäuser in Deutschland nutzen solche stationären Qualitätsindikatoren. Das bezieht sich auf alle möglichen Trägergruppen. So will man Anhaltspunkte für die Qualität der Versorgung gewinnen.

Die Kassen sind hier wesentlich weiter, weil sie standardisiert die risikoadjustierten Sterblichkeiten auch nach der Entlassung verfolgen können. Das ist bei 30 Tagen, 90 Tagen oder einem Jahr kein Problem. Bei der AOK gibt es entsprechende Projekte. Die Daten sind vorhanden.

Ein weiteres Beispiel: Man kann den Anteil der Linksherzkatheterversorgung oder die Koronar-OPs beim Herzinfarkt nachuntersuchen. Man kann Informationen über Rezidive, Wiederaufnahmen und Rekatheterisierungen gewinnen.

Noch einmal: Die Frage ist nicht, ob so etwas gemacht werden kann oder gemacht wird, sondern die Frage lautet nur: Beteiligen Sie sich daran? Können Sie sich daran beteiligen? Oder ist dies ein Thema, das nur von den Kassen bearbeitet wird? Aus meiner Sicht kann es nicht sein, dass diese wesentlichen Versorgungsfragen monopolisiert von der anderen Seite bearbeitet werden und nicht von der Ärzteschaft.

(Beifall)

Ich komme zu einem weiteren Beispiel: den Hüft-TEPs. Im Krankenhaus kann man sich seltene Todesfälle – Sentinel-Ereignisse – anschauen. Es lohnt sich, sich auch damit auseinanderzusetzen. Auf Kassenebene kann man Wiederaufnahmen beispielsweise wegen Luxation, Revision, Embolien usw. verfolgen. Die AOK macht so etwas. Man kann die Langzeithaltbarkeit von Hüftgelenken anhand von Routinedaten verfolgen. Man könnte Kaplan-Meier-Kurven, also „Überlebenskurven“ der Hüftgelenke, schon jetzt berechnen. Mit geringen Erweiterungen ließe sich dies sogar produktspezifisch durchführen.

Dies alles ist ohne zusätzliche Datenerfassung möglich. Man braucht keine Register dafür; die Daten sind vorhanden.

Ein weiteres Beispiel, das wir auf dem letzten Kongress von der AOK vorgelegt bekommen haben: Bei der Prostataresektion könnte man sich beispielsweise die Frage stellen: Wie viele Fälle mit Inkontinenz gibt es nach einem Jahr? Man kann einwenden, das ginge nicht, weil die Inkontinenz als Sachverhalt nicht hinreichend kodiert ist. Die AOK ist hier recht kreativ und durchaus intelligent herangegangen und hat gesagt: Man kann ja schauen, wer nach einem Jahr welche Hilfsmittel verbraucht. Wer entsprechende Hilfsmittel verbraucht, muss dann wohl auch inkontinent sein. Man kann durch die Zusammenführung der OP-Daten bei der Prostataresektion und dem Heil- und Hilfsmittelverbrauch Rückschlüsse darauf ziehen, ob bestimmte Komplikationen vorliegen oder nicht.

Es ist recht weitreichend, was man schließen kann, wenn man Daten aus verschiedenen Quellen zusammenführt. Da gilt beispielsweise auch das, was Herr Professor Selbmann eben hinsichtlich der Anwendung bestimmter Chemotherapeutika bei bestimmten Tumoren gesagt hat. Die Kurven, die eben aus Großbritannien gezeigt wurden, könnten auch wir mit den entsprechenden Daten ohne Weiteres herleiten. Aber im Moment haben wir darauf keinen Zugriff.

Nicht alles, aber sehr vieles ist mit Routinedaten messbar. Die Erfassung zusätzlicher Sachverhalte ist möglich. Es gibt schon jetzt genügend zu tun, worauf Sie im Moment keinen Zugriff haben, aber haben sollten. Man kann mehr tun, wenn ICD oder OPS entsprechend angepasst werden.

Ich komme zur Verfügbarkeit. Die besten Datenbestände dieser Art lagern derzeit bei den Krankenkassen. Dort ist die personenbezogene Zusammenführung aus abrechnungstechnischen Gründen überwiegend ohnehin bereits erfolgt. Wenn Sie mit der Kasse abrechnen, kennt die Kasse die Versichertenidentität und führt die Daten natürlich zusammen. Das muss man nicht weiter erläutern. Die kassenübergreifende Zusammenführung ist bereits gesetzlich vorgesehen – dazu komme ich gleich noch –, aber bisher nicht erfolgt. Die Kassen machen das bisher nur intern.

Es ist kein Zufall, dass die AOK an diesem Thema arbeitet. Sie hat beispielsweise im stationären Bereich mit einem Marktanteil von 40 Prozent natürlich ganz andere Fallzahlen und kann eine größere Aussagekraft herstellen als beispielsweise die TK. Die Ersatzkassen denken darüber nach, auch ihre Daten zusammenzuführen, um zu einer vergleichbaren Datenmenge zu kommen.

Es gab das QSR-Projekt, ein gemeinsames Projekt des AOK-Bundesverbands, des WIdO, von Helios und Professor Robra aus Magdeburg. Der Begriff „QSR“ steht für „Qualitätssicherung mit Routinedaten“. Ich nenne folgendes Beispiel. Für jedes Krankenhaus kann die AOK einen sogenannten QSR-Bericht erstellen. Man hat diese Daten für alle Kliniken intern sowieso, ob der Bericht erstellt wird oder nicht. Sie sehen in der Grafik die standardisierte risikoadjustierte Sterblichkeitsrate für die Herzinsuffizienz bei deutschen Kliniken. Jeder der blauen Striche ist eine deutsche Klinik. Der rote Balken markiert beispielsweise Ihr Krankenhaus. Auf einer weiteren Grafik sehen Sie die Sterblichkeit bei der Herzinsuffizienz im Startfall, nach 30 Tagen, nach 90 Tagen und nach einem Jahr. Der rote Balken markiert das individuelle Krankenhaus, der blaue Balken die Bundesdaten plus/minus 95 Prozent Konfidenzintervall.

Es handelt sich nicht um Spieldaten, sondern um Echtdaten. Diese Informationen hat die AOK bereits jetzt für alle 2 000 deutschen Kliniken. Sie hat noch mehr als dieses; das sind nur Beispiele.

Die Wege dazu, dies zu erkunden, ist der Auftrag, den wir im Rahmen des Gutachtens haben. Ein Ergebnis kann ich Ihnen jetzt nicht vorstellen; ich denke, das wird nächstes Jahr möglich sein. Die Gesetzeslage ist nicht uninteressant. Eine Datenzusammenführung auf Bundesebene war nach § 303 SGB V bereits vorgesehen. Der mit dem GMG neu eingeführte § 303 regelt die Rahmenbedingungen für eine Zusammenführung der Versichertendaten aller gesetzlichen Krankenkassen. Gemäß § 303 a bilden der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung und die KBV eine Arbeitsgemeinschaft zur Durchführung der Datenzusammenführung. Diese hat die Erfüllung der Aufgaben einer Vertrauensstelle und einer Datenaufbereitungsstelle zu gewährleisten.

Das ist bisher nicht geschehen. Man kann sagen: Dieser § 303 hat eine Art „Zombie-Status“: Das Projekt schläft. Es ist nicht meine Aufgabe, die Gründe dafür zu analysieren. Es existiert ein Rechtsrahmen, den man nutzen könnte, um so etwas umzusetzen.

Die Nutzung der Daten ist in § 303 weitreichend geregelt: Wahrnehmung von Steuerungsaufgaben durch die Kollektivvertragspartner, Verbesserung der Qualität der Versorgung, Planung von Leistungsressourcen, Längsschnittanalysen, Unterstützung politischer Entscheidungsprozesse sowie Analyse und Entwicklung von sektorenübergreifenden Versorgungsformen.

Dies alles sind Themen, die auch die Ärzteschaft – sprich: den Deutschen Ärztetag – interessieren sollten und müssten. Sie sind hier aber noch nicht als direkte Partner vorgesehen. Jetzt geht es darum, dort einen Fuß in die Tür zu bekommen. Die Bundesärztekammer wäre nach derzeitigem Gesetzesstand, wenn man dieses Verfahren wiederbeleben würde, nur indirekt durch die Förderinitiative Versorgungsforschung über hochschulangehörige Projektnehmer zugangsberechtigt. Das wäre der Weg, über den man an diese Daten herankäme, wenn sie denn existieren.

Ein weiterer Datenbestand entsteht zurzeit beim AQUA-Institut. Wie Sie wissen, ist es neu beauftragt. Die sekundäre Nutzung der Daten, die dort in Zukunft gesammelt werden sollen, wäre im Antragsverfahren möglich. Im Moment lautet die Regelung, dass die Daten dort das Haus nicht verlassen dürfen. Man müsste also Zugang zu den Daten an Ort und Stelle bekommen. Nach derzeitiger Lage würde der Gemeinsame Bundesausschuss entscheiden, wer Zugang erhält. Hier stellt sich die Frage: Wird die Bundesärztekammer Zugang zu diesen Daten erhalten? Wenn ja, unter welchen Bedingungen?

Das Gutachten, das wir erstellen, ist auf den technischen Teil fokussiert. Die Expertise analysiert die technischen Möglichkeiten und Konzepte zur Umsetzung der Datenzusammenführung. Wir wollen außerdem anhand von Beispielen aufzeigen, in welcher Weise man die Daten nutzen kann. Es werden Beispiele sein, keine umfassende Analyse. Ich glaube, Sie ahnen, dass man mit diesen Daten eine große Menge an Fragestellungen wird bearbeiten können, die für Sie von Interesse sind.

Ziel ist es, die Bundesärztekammer in die Lage zu versetzen, nicht nur zu reagieren, sondern zu agieren. Dies ist das vornehmste Ziel des Auftrags.

Fazit: Eine Zusammenführung der Daten verschiedener Leistungserbringer – auch sektorenübergreifend; das ist technisch längst möglich, das findet bei den Kassen bereits statt – ist technisch möglich. Die Krankenkassen werden diese Daten früher oder später nutzen. Die AOK nutzt sie bereits im Krankenhausbereich zum Abschluss von speziellen Versorgungsverträgen.

Die Ärzteschaft steht aus meiner Sicht vor der Aufgabe, diesen Prozess aktiv mitzugestalten. Unser Gutachten soll das Realisierungspotenzial aufzeigen. Die faktische Nutzung ist insbesondere im Rahmen der Förderinitiative Versorgungsforschung sinnvoll und fachlich und sachlich möglich.

Soweit meine Darstellung des jetzigen Standes. Ich hoffe, dass wir im nächsten Jahr mehr vorstellen können. Vielen Dank.

(Beifall)

Vizepräsidentin Dr. Goesmann: Herzlichen Dank, Herr Professor Mansky. Aus der eigentlich trockenen Materie haben Sie einen spannenden Vortrag gemacht, der auch sehr ermutigend ist und uns bei unseren eigenen Vorhaben weiterhilft. Wir haben gesehen, welche Aufträge konkret ausgeschrieben sind. Eine Expertise, die auf unsere Ausschreibung hin erfolgt ist, haben Sie in Angriff genommen. Auch dafür herzlichen Dank.

Wir fahren fort mit weiteren konkreten Beispielen dessen, was im Rahmen unserer Förderinitiative erarbeitet worden ist. Herr Professor Scriba wird über weitere Projekte berichten.

© Bundesärztekammer 2010