TOP II: Versorgungsforschung

Donnerstag, 13. Mai 2010, Vormittagssitzung

Prof. Dr. Dr. habil. Dietrich, Bayern: Guten Morgen, meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist inzwischen ziemlich klar, dass Versorgungsforschung notwendig ist und dass wir sie bezahlen müssen. Deswegen möchte ich auf diesen Punkt gar nicht weiter eingehen. Ich möchte zu Beginn betonen: Ich unterstütze voll und ganz den Antrag des Vorstands.

Ich möchte aber zwei Punkte erwähnen, die mir noch kritisch erscheinen.

Der erste Punkt betrifft die Durchsetzung von Leitlinien. Wir haben sehr, sehr viele Leitlinien. Nur: Wie bringen wir sie an den Mann? Ein Beispiel aus meinem Fachgebiet: Wir haben eine S3-Leitlinie, die sich auf die postoperative intensivmedizinische Versorgung von kardiochirurgischen Patienten bezieht. Das ist eine sehr gute Leitlinie. Aber nachdem wir sie beschlossen hatten, war die Luft raus und keiner hat sich Gedanken darüber gemacht: Wie setzen wir das überhaupt um? Wie kommen wir an die Leute heran? Wie können wir kontrollieren, dass die Qualität dieser Leitlinie in der täglichen Praxis umgesetzt wird?

Es gibt ein riesengroßes Problem – ich habe das bereits gestern erwähnt – mit der Transfusionsleitlinie. Sie ist eine der ältesten Leitlinien, die wir haben. Sie wird in der täglichen Praxis nur sehr, sehr mangelhaft umgesetzt. Das ist ein Riesenproblem. Wir müssen uns Gedanken darüber machen: Wie bringen wir die Leitlinien an den Mann? Es geht nicht so sehr um die Frage, ob wir noch viel mehr neue Leitlinien brauchen.

Der zweite Punkt, der mir sehr am Herzen liegt, lautet: Wie gut sind die Leitlinien? „Gut“ bezieht sich dabei nicht auf die Evaluierung der Recherchen, sondern auf die Frage: Welches Wissen steckt in diesen Leitlinien? Da müssen wir etwas vorsichtig sein. Es gibt eine große Leitlinie, die von der amerikanischen herzchirurgischen Fachgesellschaft zusammen mit der amerikanischen kardioanästhesistischen Gesellschaft entwickelt wurde. Da geht es um Bluttransfusionen, post- oder perioperativ in der Herzchirurgie. Es wurden 800 Arbeiten gescreent, fast 60 Methoden wurden untersucht. Von diesen 60 Methoden, die sich mit der Sinnhaftigkeit bestimmter Methoden beschäftigten, hatten ganze sieben Methoden eine 1a-Empfehlung, das heißt, man sollte diese Methoden anwenden. Die restlichen 53 Methoden, diese gefühlten Methoden – „Das habe ich schon immer gemacht, das könnte man so machen“ – hatten eine Klasse-2- bzw. eine Klasse-3-Empfehlung. Elf hatten eine Klasse-3-Empfehlung, was bedeutet: Das soll man gar nicht machen.

Selbst wenn wir unser ganzes Wissen zusammenfassen, sehen wir auf einmal, dass wir gar nicht so viel wissen, wie wir immer denken. Die Frage ist nicht – vielleicht kann Herr Selbmann in seinem Schlusswort darauf eingehen –, wie gut wir diese Leitlinien zusammenfassen, sondern wie gut die Medizin ist, die wir in diesen Leitlinien zusammenfassen. Ich glaube, da haben wir einen zu großen Optimismus, dass wir ein absolutes Wissen über das haben, was richtig und falsch ist.

Vielen Dank.

(Vereinzelt Beifall)

Vizepräsidentin Dr. Goesmann: Danke, Herr Professor Dietrich. – Jetzt kommt meine Kollegin Buckisch-Urbanke aus Niedersachsen.

© Bundesärztekammer 2010