TOP IV: Patientenrechte – Anspruch an Staat und Gesellschaft

Mittwoch, 12. Mai 2010, Vormittagssitzung

Prof. Dr. Dr. habil. Dietrich, Bayern: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin Kardioanästhesist, beschäftige mich seit Jahren aber auch mit der Transfusionsmedizin. Ich bin also auch Transfusionsmediziner. Ich beschäftige mich seit Jahren mit Leitlinien und Richtlinien in der Transfusionsmedizin. Dabei fällt mir immer wieder die enorme Diskrepanz zwischen dem, was wir in unserer Leitliniendiskussion besprechen, und dem, was in der täglichen Praxis stattfindet, auf. Ich denke, dass wir in der Transfusionsmedizin etwa 25 Prozent aller Bluttransfusionen, die in Deutschland stattfinden, unnötigerweise geben.

Weshalb sage ich das jetzt zu Ihnen, meine Damen und Herren? Ich finde durch das Referat von Herrn Montgomery bestätigt, dass eine enorme Diskrepanz zwischen der Theorie und der täglichen Praxis besteht. Wir haben – da gebe ich Herrn Montgomery ohne Weiteres recht – in der Berufsordnung für Ärzte sehr gute Paragrafen, die die Patientenrechte regeln. Wir haben auch mit der ÄZQ sehr gute Leitlinien entwickelt. Dort waren Patientenvertreter beteiligt.

Ich vermisse allerdings ehrliche Zahlen. Wem von Ihnen ist es in der täglichen Praxis noch nie passiert, dass irgendwo ein Fehler gemacht wurde? Ich kann von mir, der ich seit über 30 Jahren in der Kardioanästhesie, also einem relativ risikoreichen Gebiet, tätig bin, sagen, dass ich sehr viel Mist erlebt habe, dass ich sehr viele Fehler erlebt habe. Ich habe sehr oft erlebt, dass die Patienten nicht wussten, was mit ihnen passiert.

Ich habe das auch aus dem ambulanten Bereich erfahren, indem ich Arztbriefe gelesen habe, bei denen ich dachte: Das gibt es doch nicht, wie kann man so einen Schwachsinn machen, das hat mit Medizin nichts mehr zu tun!

Das mag meine subjektive Erfahrung sein. Aber jeder Kollege, den ich frage, sagt, dass er diese Erfahrung auch schon gemacht hat. Das ist mein Problem bei dieser ganzen Diskussion. Warum brauchen wir Patientenrechte? Wo fehlen diese Rechte? Was passiert mit den Patienten in unserem System? Es gibt Zahlen, die in der Presse veröffentlicht sind – ich weiß nicht, woher die wissenschaftliche Grundlage dafür kommt –, wonach 20 000 bis 40 000 Patienten pro Jahr in deutschen Krankenhäusern sterben, nicht obwohl sie behandelt werden, sondern weil sie behandelt wurden. Ich will nicht sagen, dass diese Zahlen stimmen. Ich will nur darauf hinweisen, dass wir überhaupt keine wissenschaftliche Grundlage dafür haben, was wir mit unseren Patienten anstellen und wo es einen wirklichen Regelungsbedarf zur Verbesserung der Rechte der Patienten gibt. Bessere Patientenrechte führen letztendlich auch zu einer besseren Behandlung der Patienten.

Ich sage Ihnen ganz offen, dass ich mir schon sehr oft überlegt habe: Wem sage ich eigentlich etwas, wenn Pfusch passiert ist? Ich war sehr oft sehr feige und habe es nicht gesagt. Ich habe mich an den Kopf gegriffen und versucht, bei diesem Patienten oder diesem Operateur die Anästhesie zu verweigern. Ich wusste nie eine Stelle, zu der ich gehen konnte, um zu sagen: Hört mal zu, so geht es doch nicht, das darf nicht sein, dem Patienten wird Schaden zugefügt bzw. der Patient weiß überhaupt nicht, was mit ihm gemacht wird! Das galt auch für den Fall, dass das Ergebnis der Operation positiv für den Patienten ausfiel.

Das heißt, die Patienten sind uns in einer ganz eklatanten Art und Weise ausgeliefert. Sie haben meiner Meinung nach sehr wenig Chancen, sich in realiter über das, was ihnen zusteht, zu informieren.

Ich kritisiere an dem Beitrag von Herrn Montgomery, dass wir überhaupt keine Zahlen über Patientenschäden, über Fehlbehandlung gehört haben. Er hat das CIRS erwähnt. Das CIRS ist eine sehr gute Sache. Ich kenne viele Kliniken, die es einrichten. Auch wir haben uns bemüht, so etwas einzurichten. Aber was hat es bisher genützt? Wir wissen es nicht. Es gibt nichts über die Fehlerkultur bei uns in Deutschland.

Es ist ja bezeichnend, dass bei der Evaluation der Weiterbildung herausgekommen ist: Der schlechteste Punkt, den die Weiterzubildenden angeführt haben, war, dass Leitlinien und Richtlinien in den Kliniken nicht eingehalten wurden. Es ist meiner Meinung nach eines der ersten Patientenrechte, dass die Patienten verlangen können, dass sie nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft behandelt werden. Das werden sie zum Teil nicht. Das müssen wir offen sagen. Deswegen müssen wir uns überlegen, wie wir das verbessern können und wie wir da Fortschritte erzielen können.

Es nützt einfach nichts, wenn wir uns auf die Schultern klopfen und sagen: Wir sind so gut, wir haben die tollsten Paragrafen in unserer Berufsordnung, wir haben die tollsten Vorschläge für Patientenaufklärung, wenn in der täglichen Praxis nichts passiert. In der täglichen Praxis – das sehen wir immer wieder – passiert es gerade heutzutage unter dem ökonomischen Druck, unter dem wir stehen. Ich habe schon zig Patienten operiert, die ich nur vom Computer her kannte, wo ich überhaupt nicht wusste, wer es ist, einfach weil gewechselt wurde, irgendetwas passierte oder ich keine Zeit hatte, den Patienten anzuschauen. Das passiert täglich. Es passiert zunehmend.

Wir haben heute die Situation, dass wir beispielsweise fachübergreifende Bereitschaftsdienste in manchen Kliniken leisten müssen. Das ist Patientengefährdung. Ein Patient hat das Recht, dass ihm so etwas nicht widerfahren darf.

Da müssen wir ansetzen. Da geht es darum, dass wir den Patienten schützen. Es geht nicht darum, dass wir immer wieder sagen: Wir sind die Besten, wir sind so toll, wir haben die tollsten Paragrafen. Diese Paragrafen – das sage ich Ihnen hier ganz offen und ehrlich – werden bei uns genauso wenig wie die Leitlinien und Richtlinien zur Transfusionsmedizin eingehalten. Sie werden tagtäglich verletzt. Darüber sollten wir diskutieren. Da sollten wir Zahlen sammeln. Da sollten wir versuchen, eine Verbesserung des Patientenschutzes zu erreichen, nicht durch ein Patientenschutzgesetz, ein Patientenrechtegesetz oder die Kodifizierung bestehender Paragrafen.

Ich war immer der Meinung: Ein Patientenrechtegesetz ist gut. Nachdem ich gemerkt habe, wie wenig die Ärzteschaft bereit ist, darauf einzugehen, war ich sogar dafür, ein Patientenschutzgesetz zu schaffen. Ich habe klipp und klar gesagt: Die Patienten gehören geschützt vor manchen Ärzten.

Ich bin mir allerdings sicher: Weder ein Schutzgesetz noch ein Rechtegesetz werden irgendetwas an der täglichen Praxis ändern. Wir müssen unten anfangen, wir müssen die Fehlerkultur verbessern, wir müssen schauen, dass wir besser mit den Patienten ins Gespräch kommen, dass wir die Patienten besser durch ihre Erkrankung leiten können usw.

Das sind die wesentlichen Punkte, nicht irgendwelche Paragrafen oder irgendwelche Rechte, die wir in einem Gesetz kodifizieren oder neu formulieren.

Meine Kritik an dem Referat von Herrn Montgomery lautet: Dazu fehlte jegliche Information, keinerlei Selbstkritik oder Kritik an dem, wie die Situation bei uns ist, keinerlei Information über Fortschritte, die wir durch CIRS-Systeme, Qualitätssicherung oder Ähnliches gemacht haben. Es war nur das Beharren auf dem, was ist: Wir sind die Besten, wir sind gut, was will die Politik, was wollen die Patientenverbände!

Das ist ein Punkt, den ich kritisiere. Hier hätte ich erwartet, mehr ehrliche Informationen über das zu bekommen, was in unserem System mit unseren Patienten geschieht.

Diese acht Punkte, die Herr Montgomery vorgeschlagen hat, sind ja sehr gut. Ein besseres Gesundheitswesen ist gut für den Patienten. Wenn das der beste Patientenschutz ist, ist es gut. Aber es geht einfach an der täglichen Praxis vorbei.

Natürlich sind wir für eine solidarische Krankenversicherung und für Solidarität in der Gesellschaft. Die acht Punkte sind eigentlich nicht zu diskutieren. Aber was das mit dem direkten Patientenschutz zu tun hat, ist mir völlig unklar, meine Damen und Herren. Von daher bitte ich darum, in die Diskussion darüber einzusteigen, was in der täglichen Praxis geschieht, wo es einen Nachholbedarf gibt, wo wir die Patienten schädigen, wo die Patienten wirklich einen Anspruch auf ein besseres Recht haben.

Vielen Dank.

(Vereinzelt Beifall)

Präsident Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe: Danke, Herr Dietrich. – Der nächste Redner ist Herr Kajdi aus dem Saarland.

© Bundesärztekammer 2010