Dienstag, 18. Februar
2003
Berlin, Axica Kongress- und Tagungszentrum
Dr. Frank Ulrich Montgomery, 1. Vorsitzender des Marburger
Bundes:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine
sehr geehrten Herren Abgeordneten! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Analyse sind wir uns doch alle einig: Wir brauchen eine Reform.
Wir haben heute auch wieder ein Gesprächsangebot bekommen.
Ich sage „wieder“, denn wir haben Gesprächsangebote
bekommen in Lahnstein, auf dem Petersberg zum NOG I und zum NOG
II.
Ich berichte Ihnen hier von den Reformen der letzten zehn Jahre.
Wir hatten immer Gesprächsangebote, aber am Ende, bei den entscheidenden
Runden, als es darum ging, dass das, was besprochen wurde, auch
umgesetzt wird, nicht den Einfluss gehabt, den wir benötigen,
um genau das zu tun, was wir unseren Patienten versprechen und was
wir auf unseren hippokratischen Eid genommen haben. Die Politik
hetzt uns im Moment von Reform zu Reform, getrieben von immer neuen
Ideen, mit immer weniger Perspektiven. Wir werden von einem Reformdorf
ins nächste gejagt. Dabei fehlen ganz offensichtlich Durchblick,
Weitblick und Einblick.
(Beifall)
Um sich diesen Horizont zu verschaffen, hat uns die Politik zur
Jahreswende eine Nullrunde beschert. Sie sollte Zeit zum Luftholen
für die wahre Reform bringen. In Wirklichkeit hat sie uns nur
die Luft zum Atmen abgedrückt.
Am Krankenhaus ist die übereilte Einführung der Fallpauschalen
damit noch schwieriger geworden. Es grenzt an Verantwortungslosigkeit,
diesen engen Zeitplan und diese detailistischen Vorgaben durchzupeitschen
und zugleich die Mittel zu verknappen.
(Beifall)
Nach einer Nullrunde, die ja in Wahrheit eine Minusrunde ist, starten
wir jetzt mit noch weniger materieller Substanz und noch weniger
Vertrauen in die Politik in die nächste Reformrunde. Dabei
ist das, was heute vor uns liegt, im Grunde keine echte Reform,
sondern nur ein weiteres Herumkurieren an Symptomen.
(Beifall)
Drei Therapielinien durchziehen das Reformmodell:
Erstens mehr staatliche Steuerung durch staatlich verordnete Leitlinien
und ein Qualitätsinstitut. Jörg Hoppe hat hierzu alles
gesagt, was nötig war. Angela Merkel hat in entscheidender
Weise einen Aspekt hinzugefügt. Ich bin aber nicht sicher,
ob ihr Optimismus richtig ist, als sie sagte: Am Ende werden die
besten Ärzte in diesem Qualitätsinstitut arbeiten. Meine
Damen und Herren, wie wäre es denn, wenn es gerade nicht die
Besten wären, die in diesem Institut arbeiten, dafür aber
die Arbeit all der anderen, der Besten, am Patienten kontrollieren,
beaufsichtigen und kujonieren? Das wäre im höchsten Maße
gefährlich.
(Beifall)
Zweitens durchzieht die Reform der Versuch, eine Steigerung von
Qualität und Effizienz durch die Beseitigung von Über-,
Unter- und Fehlversorgung zu erreichen. Meine Damen und Herren,
man kann es heute schon nicht mehr hören, wie uns von selbst
ernannten Experten die Prinzipien von ärztlicher Qualitätssicherung
und Qualitätsverbesserung sozusagen im Munde umgedreht werden!
Es ist doch eine Tatsache, dass wir uns seit Jahren intensiv und
erfolgreich hierum bemühen und es gar nicht nötig haben,
dass man uns die aus unseren eigenen Analysen erkennbaren Probleme,
die wir ja analysiert und markiert haben, um sie zu ändern,
nun wieder als Über-, Unter- und Fehlversorgung vorhält.
Lassen Sie uns den Spieß einfach umdrehen! Lassen Sie uns
festhalten: Ja, es gibt sogar Über-, Unter- und Fehlversorgung
- vor allem im Ministerium für Gesundheit!
(Beifall)
Dort gibt es eine Überversorgung mit Bürokratie, eine
Unterversorgung mit medizinischem Sachverstand und eine Fehlversorgung
mit kompetenten Beratern!
(Beifall)
Schließlich, meine Damen und Herren, der dritte Therapieansatz:
Transparenz. Wir sind immer für Transparenz angetreten. Wir
haben nichts gegen eine vernünftige Patientenquittung. Wir
haben das 1995 auf dem Petersberg - Herr Seehofer wird sich erinnern
- selber angeboten. Wir haben nichts gegen eine Beteiligung unserer
mündigen Partner, der Patienten.
Wir haben aber etwas dagegen, dass Transparenz und Bürokratie
miteinander verwechselt werden, dass wir Daten erzeugen, die andere
dann gebrauchen und missbrauchen können. Manchmal beschleicht
einen das Gefühl: Wir sollen Transparenz erzeugen, damit am
Ende garantiert niemand mehr etwas durchschaut.
(Beifall)
Ein Krankenhaus und eine Arztpraxis sind schließlich keine
papierverarbeitenden Betriebe, sondern hoch effektive Orte der Bewältigung
von menschlichen Problemen und Krankheiten.
Wir sagen Ja zur Transparenz, wir sagen Ja zur Mitsprache und zur
Beteiligung, wenn die Rahmenbedingungen stimmen, wenn die Abrechnungssysteme
das überhaupt zulassen, wenn anstelle von überbordendem
Datenschutz endlich ein Heben des vorhandenen Datenschatzes möglich
wird.
Meine Damen und Herren, wir sind hier heute ja nicht zusammengekommen,
um zu jammern und zu klagen. Wir sind hier, weil wir wahre Reformen
einfordern und auf den Weg bringen wollen. Lassen Sie uns deswegen
unseren Zorn und unseren Frust über die Gegenwart ummünzen
in konstruktive Aktivität und Optimismus für die Zukunft.
Optimistisch, kämpferisch sind wir viel gefährlicher als
jammernd und abwehrend.
(Beifall)
Deswegen haben wir auf dem vorjährigen Deutschen Ärztetag
in Rostock eine Resolution verabschiedet, die der Politik den Weg
zeigen könnte, den sie nur beschreiten müsste, um zu einer
vernünftigen Reform zu kommen. Wir haben uns in unserer Resolution
„Gesundheitspolitische Analyse der Ärzteschaft“
zu unserer politischen Mitverantwortung bekannt. Wir haben uns zu
einem solidarisch abgesicherten Versorgungssystem der gesamten Bevölkerung
bekannt. Wir haben Patientenrechte und Patientenbeteiligung eingefordert
wie auch Transparenz für Patient und Arzt. Wir haben der Politik
in zwei Optionsmodellen den Weg beschrieben, wie das heutige Finanzierungssystem
noch auf viele Jahre hinaus erhaltbar und konsolidierbar wäre.
Wir haben der Politik als zweite Option eine Alternative mit auf
den Weg gegeben, in der schon vieles von dem angedacht ist, was
jetzt mit dem Prädikat „aus der Rürup-Kommission
kommend“ geadelt wieder in der Diskussion ist.
Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich noch jene Dinge erwähnen,
die offensichtlich schon wieder nicht in der Reform gelöst
werden sollen, obwohl sie seit langem versprochen und auch längst
überfällig sind.
Da ist zum einen die längst überfällige Abschaffung
des Arztes im Praktikum.
(Beifall)
Es ist nachgerade beschämend, wie bei allen Festreden von
der Abschaffung dieser längst überflüssigen Ausbildungsphase
schwadroniert wird und zugleich jeder Lösungsansatz in den
Reformen umgangen oder vergessen wird. Ich fordere daher: Keine
Reform, in der nicht auch der AiP abgeschafft wird!
(Beifall)
Da ist zum anderen die Arbeitsbelastung im Krankenhaus. Zu dieser
Stunde beraten die Richter des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt über
einen Fall zur Umsetzung der EuGH-Philosophie in deutsches Recht.
Wir haben in allen Vorinstanzen gewonnen. Es müsste schon mit
dem Teufel zugehen, wenn die obersten deutschen Richter anders entschieden
als alle Vorinstanzen. Doch gilt: Auf hoher See und vor Gericht
ist man auf höhere Mächte angewiesen. Deswegen waren wir
klug beraten, ein weiteres Verfahren bis zum Europäischen Gerichtshof
zu betreiben. Dort ist am kommenden Dienstag die mündliche
Anhörung. Wir sind nach der Analyse der Schriftsätze sehr
sicher, hier den Prozess zu gewinnen. Der Schriftsatz der Anwälte
der Europäischen Kommission ist eine schallende Ohrfeige für
die Regelungsfaulheit deutscher Politiker. Das Urteil des EuGH wird
ein Tritt in den Hintern derjenigen sein, die das Problem genau
kennen, die immer wieder Krokodilstränen weinen ob der Ausbeutung
und der Belastung gerade der jungen Ärztinnen und Ärzte,
aber zugleich aus rein monetären Gründen jede Verbesserung
verweigern.
(Beifall)
Deswegen, meine Damen und Herren, ist es wichtig, dass wir den
Politikern auch von hier aus mit auf den Weg geben: Keine Reform,
bei der nicht auch das Arbeitszeitgesetz so geändert wird,
dass menschliche Arbeitsbedingungen im Krankenhaus möglich
werden!
(Beifall)
Schließlich: Wieder steht das Problem der Integration von
stationären und ambulanten Leistungen auf dem Programm. Dieses
Problem muss endlich gelöst werden, auch damit es aufhört,
ein wohlfeiler Keil zu sein, den die Politik zwischen uns treibt,
um uns auseinander zu dividieren.
Mit der Totalöffnung der Krankenhäuser ist unseren Patienten
und uns genauso wenig gedient wie mit der Totalabschottung von heute.
Erinnern wir die Politik deswegen an unser Konsensmodell, das wir
1998 mit großer Mehrheit beschlossen haben. Es sieht eine
vernünftige Integration bei Unterversorgung und bei bestimmten
hoch spezialisierten Leistungen vor.
Deswegen halten wir hier fest: Keine Reform, bei der nicht endlich
die Integration ambulant/stationär im Konsens mit der betroffenen
Ärzteschaft eingeführt wird!
(Beifall)
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schlüssel
zum Erfolg liegt in unserer Einigkeit. Wir sind heute nicht hier
als Facharzt oder als Allgemeinarzt, wir sind nicht hier als Krankenhausarzt
oder als niedergelassener Arzt, wir sind nicht hier als Rechte oder
Linke. Die Reformprobleme tangieren uns alle gemeinsam, wenn auch
jeden ein wenig anders. Deswegen sind wir hier.
Aus diesem Grund steht auch der Marburger Bund als größter
europäischer Ärzteverband hier und heute solidarisch zu
den Forderungen und Anliegen der gesamten Ärzteschaft. In Schillers
„Wilhelm Tell” heißt es: Wir könnten viel,
wenn wir zusammenstünden; verbunden werden auch die Schwachen
mächtig.
Wir sind nicht schwach, wir machen uns nur manchmal schwächer,
als wir sind. Lassen Sie uns damit aufhören und gemeinsam die
Probleme zukünftiger Reformen bewältigen!
Vielen Dank.
(Beifall)
Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe,
Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:
Vielen Dank, Frank Ulrich Montgomery. Deine Interpretation von
Über-, Unter- und Fehlversorgung wird sicher in das Repertoire
vieler Argumentateure eingehen.
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