Auf Antrag des Vorstandes der Bundesärztekammer (Drucksache
I-01) fasst der Außerordentliche Deutsche Ärztetag bei
nur wenigen Gegenstimmen und Enthaltungen folgende Entschließung:
Patient und Arzt brauchen Vertrauen und stabile Rahmenbedingungen
für eine gute Medizin. Der Patient hat Anspruch auf eine
individuelle Behandlung entsprechend dem medizinischen Fortschritt.
Für eine solche Krankenversorgung zahlen die Versicherten
bisher ihre Beiträge.
Allerdings braucht der Arzt auch die notwendige Zeit, um auf
den einzelnen Patienten eingehen zu können. Schematisierung
und Standardisierung der Medizin führen mehr und mehr in
die Entfremdung der Patienten-Arzt-Beziehung. Staatlich vorgegebener
Dokumentationswahn bindet Zeit, die für die Patientenbehandlung
verloren geht.
Entmündigung des Patienten und Bevormundung des Arztes,
das sind die offensichtlichen Konsequenzen der Gesundheitspolitik
dieser Regierung. Die bisherigen Leistungen werden schlecht geredet,
um eine staatlich verordnete Wartelisten-Medizin aufzubauen. Denn
was jetzt als Effizienzsteigerung versprochen wird, ist in Wahrheit
der direkte Weg in die Zuteilungsmedizin. Der Patient hat dann
keine Aussicht mehr auf eine individuelle Behandlung. Die Ärzte
werden nicht mehr das tun können, was nach dem medizinischen
Fortschritt geboten ist. Der kranke Mensch wird so zur Norm- und
Kostengröße, der Arzt zum Erfüllungsgehilfen der
Krankenkassen.
Gesundheitspolitik heute plant unverkennbar den Wechsel von der
Patientenversorgung in die Krankheitsverwaltung.
Notwendig sind vernünftige Arbeitsbedingungen in Klinik
und Praxis, unter denen gute Medizin wieder möglich wird.
Erforderlich sind außerdem Konzepte gegen den zunehmenden
Ärztemangel.
Notwendigkeiten für eine gute Medizin
Die Entwicklung hin zu einer Gesellschaft des langen Lebens,
die enormen Möglichkeiten des medizinischen Fortschritts
und die gestiegene Bedeutung der Gesundheit im Leben des einzelnen
Menschen bedeuten eine gewaltige Herausforderung für die
Finanzierung unseres Gesundheitswesens. Eine Neugestaltung der
sozialen Krankenversicherung ist unausweichlich, soll auch in
Zukunft noch eine Gesundheitsversorgung für alle möglich
sein. Die jetzt geplante Weichenstellung ist deshalb der wichtigste
Einschnitt im Gesundheitswesen seit der Deutschen Einheit.
Eine Neugestaltung der sozialen Krankenversicherung muss gewährleisten,
- dass Patientinnen und Patienten die Gesundheitsversorgung
bekommen, die sie individuell benötigen,
- dass Patientinnen und Patienten selbst entscheiden können,
wem sie vertrauen und welche Behandlung sie akzeptieren, Patienten
wollen in eigener Souveränität und mit dem Arzt als
Partner die Behandlung selbst steuern,
- dass die Mittel für die Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung
gerecht zur Verfügung gestellt werden.
Die Ärzteschaft fordert deshalb die Politik auf, dem Arztberuf
die Freiheit zu sichern, damit
- sich die Behandlung des Patienten nach medizinischen Notwendigkeiten
richten kann und nicht nach ökonomischen Vorgaben;
- die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und anderen Gesundheitsberufen
gefördert wird und nicht der Konflikt um finanzielle Ressourcen;
- der Arzt nach höchstmöglicher Qualität der
Patientenversorgung streben kann, statt an das Mittelmaß
einer staatlich verordneten Programm-Medizin gebunden zu sein.
Eckpunkte des Bundesministeriums für
Gesundheit und Soziale Sicherung - oder: Rezepte von gestern für
die Probleme von morgen
Der Ausblick der Bundesregierung ist ein Blick in den Rückspiegel.
Mit Rezepten von gestern sollen die vor uns liegenden Probleme
der modernen Medizin und der Gesundheitsversorgung von morgen
gelöst werden. Eine rigide Kontrolle der Leistungserbringer,
staatlicher Dirigismus und Zuteilung von medizinischen Leistungen
lassen nicht erkennen, dass die Regierung die Probleme des Gesundheitswesens
bisher wirklich verstanden hat.
Deutsches Zentrum für Qualität
in der Medizin. Wenn die Regierung mit dem deutschen Zentrum
für Qualität in der Medizin eine Art "Stiftung
Warentest im Gesundheitswesen" eröffnen will, dann zeigt
das einmal mehr, dass diese Regierung das Gesundheitswesen zu
einem Marktsegment degradieren will, indem es lediglich um Waren
und Dienstleistungen geht, nicht aber um Menschen und deren Bedürfnisse.
Die Qualität in der Medizin reduziert sich für die Regierung
auf Kontrolle und staatlichen Dirigismus, der die Bedürfnisse
des kranken Menschen in den Hintergrund drängt. Die Schematisierung
von Diagnose und Therapie durch ein nicht-ärztliches, durch
die Regierung installiertes Gremium, ist keine Garantie für
Qualität, sondern eine Rechtfertigung der Rationierung und
der Zuteilungsmedizin.
Behandlungs-TÜV. Der
Medizin liegt kein mechanistisches Weltbild zu Grunde und sie
ist auch nicht nur Naturwissenschaft. Medizin ist vor allem auch
Erfahrungswissenschaft; der ärztliche Beruf den Grundsätzen
einer humanen Patientenversorgung verpflichtet. Deshalb auch bedarf
ärztliche Fortbildung der Vielfalt, deshalb auch ist Fortbildung
Berufspflicht. Sinnvoll ist die Weiterentwicklung des von den
Ärztekammern geschaffenen praxisbezogenen
Fortbildungszertifikats und der Maßnahmen des Continuous
Professional Development (CPD), d.h.
der kontinuierlichen Kompetenzentwicklung unter Einschluss der
entsprechenden Dokumentation. Zwangsmaßnahmen und staatliche
Kontrollen hingegen mit denen überwacht werden soll, ob Seminare
und Kurse besucht worden sind, suggerieren nur eine trügerische
Sicherheit für den Patienten. In der internationalen Literatur
gibt es nicht den geringsten Beleg dafür, dass eine Rezertifizierung
- und um die handelt es sich hier - eine positive Wirkung auf
die Behandlung der Patienten hat.
Anstatt die Bemühungen um Qualität zu fördern,
wird hier im Gegenteil ein System von Repressionen aufgebaut werden.
Zerschlagung der fachärztlichen
Struktur. Die Reformvorschläge der Regierung zielen
darauf ab, die fachärztliche Versorgung radikal auszudünnen.
Nach den Plänen der Regierung sollen sich die Patienten in
Zukunft im Krankenhaus anstellen, um eine fachärztliche Behandlung
zu erlangen. Wenn allerdings die Zahl der niedergelassenen Ärzte
reduziert wird, ist eine wohnortnahe, fachärztliche Behandlung
auf hohem Niveau nicht mehr möglich. Wie in den staatlichen
Gesundheitswesen werden die Patienten dann längere Wege und
lange Wartezeiten für die fachärztliche Behandlung in
Kauf nehmen müssen. Kurzfristig mag damit Geld gespart werden
können, langfristig aber wird der Schaden für die Gesundheit
der Menschen dramatisch sein und bezahlen werden in erster Linie
kranke Menschen. Auch dieser Vorschlag ist ein weiterer Schritt
in die Rationierung und die Zuteilungsmedizin.
Reformvorschläge der Ärzteschaft
Der Patient hat Anspruch auf eine Krankenversicherung, die diesen
Namen auch verdient. Aber allein in den letzten acht Jahren sind
der Patientenversorgung 30 Milliarden Euro zur Quersubventionierung
anderer Sozialversicherungszweige entzogen worden. Es gäbe
kein milliardenschweres Defizit, wenn die Versichertengelder nur
für die Patientenversorgung verwendet würden.
Neben einer sauberen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung
ist auch eine Weiterentwicklung der Strukturen notwendig. Die
Ärzteschaft ist zu konstruktiver Mitarbeit bereit:
Hausärztliche Versorgung ausbauen.
Die Gesellschaft eines langen Lebens - im Jahre 2030 ist mehr
als ein Drittel der Bevölkerung älter als 60 Jahre -
, die Entwicklung hin zu einer Single-Gesellschaft, vor allem
aber die zunehmende Differenzierung in der Medizin sprechen für
eine kontinuierliche Betreuung des Patienten durch eine qualifizierte
hausärztliche Versorgung. Die modellhafte Erprobung freiwilliger
Hausarzttarife erscheint gerade vor diesem Hintergrund sinnvoll.
Fachärztliche Versorgung stärken.
Die ambulante fachärztliche Versorgung ist eine der
bedeutendsten Strukturelemente der GKV. Sie garantiert eine wohnortnahe,
den Patientenerfordernissen entsprechende Versorgung. Tendenzen,
die eine generelle Ausdünnung der fachärztlichen ambulanten
Versorgung favorisieren, ist entgegen zu treten.
Durchgängige medizinische Betreuung.
Die bisherigen Grenzen zwischen ambulanter und stationärer
Behandlung und die getrennten Budgets müssen zu Gunsten einer
durchgängigen Betreuung des Patienten überwunden werden.
Die Leistung sollte dort erbracht werden, wo sie patientengerecht
und effizient durchgeführt werden kann. Krankenhausärzte
sollten, über das heutige Maß hinaus, personenbezogen
in hochspezialisierte ambulante Versorgung einbezogen werden;
Vertragsärzte sollen verstärkt auch am Krankenhaus tätig
werden können.
Wirtschaftliche Stabilität der
Krankenkassen gewährleisten. Durch Verschiebebahnhöfe
und versicherungsfremde Leistungen werden der GKV seit Jahren
Milliardensummen (6 Milliarden Euro pro Jahr) entzogen. Zudem
ist die Finanzierungsbasis darüber hinaus durch ihre alleinige
Ankoppelung an die Löhne und Gehälter konjunkturellen
Schwankungen und Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt schutzlos
ausgesetzt. Diese Konstruktion der Einnahmeseite ist insbesondere
im Hinblick auf die demographischen Veränderungen weder verteilungsgerecht
noch zukunftsfest.
Mehr Transparenz schaffen.
Jeder Patient sollte das Recht haben, sich über Art, Menge,
Umfang und auch Kosten der für ihn erbrachten Leistungen
informieren zu können. Transparenz bedeutet aber auch, dass
Patienten in der Krankenversicherung die Möglichkeit erhalten,
an den Entscheidungsprozessen mitzuwirken.
Prävention stärkt Lebensqualität.
Steigende Lebenserwartungen bei schwindenden Finanzressourcen
machen Prävention und Eigenvorsorge zunehmend wichtiger.
Dabei sollten die Menschen verstehen lernen, dass sich gesundheitsbewusstes
Verhalten für sie persönlich lohnt, wie auch für
die Versichertengemeinschaft insgesamt. Die Ärzteschaft unterstützt
deshalb nachhaltig nationale Präventionskampagnen wie auch
das vom Bundesgesundheitsministerium geplante und ausreichend
zu finanzierende "Forum für Prävention und Gesundheitsförderung".
Ja zu einer Positivliste.
Angesichts der Vielzahl der Arzneimittel und die Vielfalt der
Informationen zur Arzneimittel-Therapie kann eine Positivliste
ein wirkungsvolles Instrument zur rationellen Arzneitherapie sein.
Voraussetzung allerdings ist, dass eine solche Liste verordnungsfähiger
Arzneimittel am jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft
ausgerichtet ist und keine medizinisch fragwürdigen Arzneien
enthält. Das Buch “Arzneiverordnungen” der Arzneimittelkommission
der deutschen Ärzteschaft ist bereits eine tragfähige
Grundlage für die Erstellung einer Positivliste.
Nationales Leitlinien-Programm.
Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität ärztlicher
Arbeit gehören zum Selbstverständnis des Arztberufes
und zu den originären Aufgaben ärztlicher Selbstverwaltung.
Die Ärzteschaft selbst hat deshalb medizinisch-wissenschaftliche
Leitlinien als Entscheidungshilfe für eine wirksame Behandlung
entwickelt. Die individuelle Entscheidung im konkreten Behandlungsfall
aber ist und bleibt ärztliche Kunst. Eine staatlich eingesetzte
Zentralbehörde für Qualität aber, wie derzeit geplant,
kann hingegen nur zu Normenmedizin und Schematisierung der Patientenbehandlung
führen.
Sinnvoll sind also nationale Leitlinien, die als Entscheidungshilfen
dienen, den Kriterien der evidenzbasierten Medizin entsprechen
und zugleich ständig den rasant wachsenden Möglichkeiten
des medizinischen Fortschritts angepasst werden. Das Nationale
Leitlinien-Programm unter der Schirmherrschaft der Bundesärztekammer
und mit Beteiligung von Patientenvertretern ist die konsequente
Weiterentwicklung einer solchen Leitlinienarbeit.
Patientenrechte verteidigen.
Das wichtigste Patientenrecht ist der einklagbare Anspruch auf
eine qualitativ hochstehende, dem wissenschaftlichen Stand der
Erkenntnisse entsprechende medizinische Versorgung. Der Patient
hat Anspruch auf eine individuelle, nach seinen Bedürfnissen
ausgerichtete Behandlung und Betreuung. Das setzt die Therapiefreiheit
des Arztes ebenso voraus, wie die Bereitstellung der notwendigen
Mittel. Der Patient hat auch Anspruch auf die freie Arztwahl.
Patientenrechte und Patientenautonomie bleiben hohle Phrasen,
wenn dieses Recht auf freie Wahl und damit auf die individuelle
Vertrauensbeziehung zum Patienten aufgehoben wird.
Menschliche Arbeitsbedingungen
schaffen. Überbürokratisierung abbauen. Arbeitsüberlastung
von Ärzten und Pflegekräften mit Millionen unbezahlter
Überstunden gefährden die Sicherheit der Patientenversorgung.
Eine unsinnige Bürokratisierung wirkt demotivierend und entzieht
der Patientenversorgung zusätzlich notwendige Zeit.
Versorgungsforschung fördern.
Das deutsche Gesundheitswesen wird zur Zeit mit den Negativattributen
Über-, Unter- und Fehlversorgung schlecht geredet. Die Begründungen
dafür bleiben vage und halten einer wissenschaftlichen Prüfung
nicht stand. Zwingend geboten ist eine solide Beschreibung der
Versorgungssituation im deutschen Gesundheitswesen, die auch den
internationalen Vergleich mit einschließt. Die Ärzteschaft
ist bereit, sich am Aufbau einer Versorgungsforschung in Deutschland
zu beteiligen.
Die Ärzteschaft steht für
eine soziale Krankenversicherung. Doch dazu ist eine Neudefinition
von Subsidiarität und Solidarität und Eigenverantwortung
notwendig. Die vor uns liegenden Probleme lassen sich durch Engagement
der Gesundheitsberufe allein nicht mehr kompensieren.
Eine neue soziale Krankenversicherung, die auch in Zukunft gute
Medizin für alle versprechen kann, wird nur dann entstehen,
wenn wir ehrlich miteinander umgehen und uns tatsächlich
um Generationengerechtigkeit bemühen!