Deklaration von Ottawa zum Recht des Kindes auf gesundheitliche Versorgung

Verabschiedet von der 50. Generalversammlung des Weltärztebundes Ottawa, Kanada, Oktober 1998

Präambel

  1. Die gesundheitliche Versorgung eines Kindes, ob im Krankenhaus oder zu Hause, beinhaltet medizinische, emotionale, soziale und finanzielle Besonderheiten, die den Heilungsprozeß beeinflussen und die es erforderlich machen, den Rechten des Kindes als Patient besondere Beachtung zu schenken.
  2. In Artikel 24 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 erkennen die Vertragsstaaten das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit an sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit. Die Vertragsstaaten bemühen sich sicherzustellen, daß keinem Kind das Recht auf Zugang zu derartigen Gesundheitsdiensten vorenthalten wird.
  3. Die vorliegende Deklaration definiert den Terminus "Kind" zeitlich von der Geburt des Kindes bis zur Vollendung des siebzehnten Lebensjahres, es sei denn, daß nach geltendem Recht des betreffenden Landes für die Mündigkeit von Kindern ein anderes Alter festgelegt ist.

Allgemeine Grundsätze

  1. Jedes Kind hat ein naturgegebenes Recht auf Leben sowie das Recht auf Zugang zu den geeigneten Einrichtungen zur Gesundheitsförderung, Prävention und Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit. Ärzte und andere Leistungserbringer des Gesundheitswesens haben eine Verpflichtung, diese Rechte anzuerkennen und zu unterstützen und sich mit Nachdruck für die Bereitstellung der medizinischen Ausrüstung und der Humanressourcen zur Verteidigung und Durchsetzung dieser Rechte einzusetzen. Insbesondere sollten alle Anstrengungen unternommen werden, um:
  1. das Überleben und die Entwicklung des Kindes bestmöglich zu schützen und anzuerkennen, daß die Eltern (oder die gesetzlichen Vertreter) die Hauptverantwortung für die Entwicklung des Kindes tragen und beide Elternteile in dieser Hinsicht eine gemeinsame Verantwortung haben;
  2. zu gewährleisten, daß die bestmögliche Wahrnehmung der Interessen des Kindes die wichtigste Aufgabe in der Gesundheitsversorgung sein muß;
  3. bei der ärztlichen Behandlung und medizinischen Versorgung eines Kindes jegliche Art von Diskriminierung in bezug auf Alter, Geschlecht, Behinderung, Konfession, ethnische Herkunft, Nationalität, politische Zugehörigkeit, Rasse, sexuelle Neigung oder soziale Stellung des Kindes oder seiner Eltern bzw. gesetzlichen Vertreter auszuschließen;
  4. für eine angemessene prä- und postnatale medizinische Versorgung der Mutter und ihres Kindes zu sorgen;
  5. dafür Sorge zu tragen, daß jedes Kind eine adäquate ärztliche Betreuung und medizinische Versorgung erhält einschließlich geeigneter Mittel zur Schmerzlinderung, das gilt vor allem für die Primärversorgung und für die psychiatrische Behandlung von Kindern mit psychischen Erkrankungen sowie für die spezielle Betreuung von behinderten Kindern;
  6. das Kind vor unnötigen Diagnoseverfahren, Behandlungen und Forschung zu schützen;
  7. Krankheit und Fehlernährung zu bekämpfen;
  8. Gesundheitsvorsorgemaßnahmen zu entwickeln;
  9. gegen Kindesmisshandlung in all ihren verschiedenen Formen rigoros vorzugehen;
  10. auf für die Gesundheit des Kindes schädliche traditionelle Praktiken zu verzichten.

Konkrete Grundsätze

Qualität der Versorgung

  1. Das für die medizinische Betreuung eines Kindes zuständige Team hat die Kontinuität und die Qualität der gesundheitlichen Versorgung sicherzustellen.
  2. Ärzte und andere mit der medizinischen Betreuung von Kindern betrauten Personen müssen über eine spezielle Ausbildung und besondere Fähigkeiten verfügen, um in geeigneter Weise den medizinischen, physischen, emotionalen und psychologischen Bedürfnissen der Kinder und ihrer Familien gerecht werden zu können.
  3. In den Fällen, wo für eine spezielle Behandlung, die nur in begrenztem Maße zur Verfügung steht, unter mehreren Kindern eine Auswahl getroffen werden muß, haben all diese Patienten das Recht auf ein faires Auswahlverfahren für diese Behandlung, das allein auf medizinischen Kriterien beruhen muß und niemanden diskriminieren darf.

Freie Arztwahl

  1. Die Eltern bzw. die gesetzlichen Vertreter oder, wenn das Kind die erforderliche geistige Reife besitzt, das Kind selbst, sollten in der Lage sein, den Arzt des Kindes frei zu wählen bzw. zu wechseln; sich zu vergewissern, daß der Arzt, für den sie sich entschieden haben, seine medizinischen und ethischen Entscheidungen frei und ohne Einmischung von außen treffen kann; und sie sollten in der Lage sein, jederzeit die Meinung eines anderen Arztes einzuholen.

Zustimmung und Selbstbestimmung

  1. Das Kind und seine Eltern bzw. gesetzlichen Vertreter haben das Recht, über alle Entscheidungen in bezug auf die gesundheitliche Versorgung des Kindes informiert und aktiv daran beteiligt zu werden. In diesen Entscheidungsprozessen sollten die Wünsche des Kindes berücksichtigt werden und in Abhängigkeit von der geistigen Reife des Kindes zunehmende Bedeutung erhalten. Das nach ärztlichem Urteil entscheidungsfähige Kind hat das Recht, die Entscheidungen über seine gesundheitliche Versorgung selbst zu treffen.
  2. Von einer Notsituation abgesehen (s. § 12) muß vor Beginn jeder Diagnose oder Therapie eines Kindes die Zustimmung nach erfolgter Aufklärung erteilt werden, insbesondere wenn es sich um einen operativen Eingriff handelt. In der Regel wird die Einwilligung von den Eltern oder gesetzlichen Vertretern des Kindes erteilt, jedoch sollten zuvor auch die vom Kind geäußerten Wünsche Berücksichtigung finden. Besitzt das Kind jedoch die erforderliche geistige Reife, so muß das Kind nach entsprechender Aufklärung um Zustimmung gebeten werden.
  3. Im allgemeinen hat ein zurechnungsfähiges Kind als Patient und seine Eltern bzw. gesetzlichen Vertreter das Recht, jedes diagnostische Verfahren oder jede Therapie abzulehnen. Obwohl anzunehmen ist, daß die Eltern oder die gesetzlichen Vertreter im besten Interesse des Kindes handeln werden, ist dies manchmal nicht der Fall. Falls ein Elternteil oder der gesetzliche Vertreter die Einwilligung zu einem Verfahren und/oder einer Behandlung verweigert, ohne die die Gesundheit des Kindes ernsthaft gefährdet wäre oder irreversiblen Schaden nehmen würde und zu denen es in der allgemein anerkannten medizinischen Behandlung keine Alternative gibt, dann sollte der Arzt die Entscheidung eines zuständigen Gerichtes oder einer anderen Institution herbeiführen, um dieses Verfahren bzw. diese Behandlung durchführen zu können.
  4. Falls das Kind bewußtlos oder aus anderen Gründen nicht in der Lage ist, seine Einwilligung zu geben und die Eltern oder gesetzlichen Vertreter nicht erreichbar sind, ein medizinischer Eingriff aber dringend erforderlich ist, dann kann die Einwilligung zu diesem Eingriff unterstellt werden, es sei denn, daß es aufgrund vorheriger, eindeutiger Erklärung oder Überzeugung offensichtlich und ohne Zweifel ist, daß die Einwilligung zu einem Eingriff in dieser Situation verweigert würde (vorbehaltlich der in § 7 genannten Bedingung).
  5. Ein krankes Kind und seine Eltern bzw. gesetzlichen Vertreter haben das Recht, die Mitwirkung an der Forschung oder der medizinischen Lehre abzulehnen. Diese Ablehnung darf niemals das Arzt-Patienten-Verhältnis beeinträchtigen noch die gesundheitliche Versorgung des Kindes gefährden oder ihm sonstige medizinische Vorteile vorenthalten, auf die das Kind ein Anrecht hat.

Zugang zu Informationen

  1. Mit Ausnahme der in § 18 dargestellten Fälle haben das kranke Kind und seine Eltern oder gesetzlichen Vertreter das Recht auf umfassende Informationen über den Gesundheitszustand und die medizinischen Befunde des Kindes, vorausgesetzt, daß die Interessen des Kindes dadurch nicht verletzt werden. Vertrauliche Informationen in den Krankenakten des Kindes über eine dritte Person dürfen jedoch nicht ohne Zustimmung dieser dritten Person an das Kind, die Eltern oder die gesetzlichen Vertreter weitergegeben werden.
  2. Alle Informationen müssen dem Empfänger in einer seinem kulturellen Niveau und seiner Verständnisfähigkeit entsprechenden Weise so mitgeteilt werden, daß sie für ihn verständlich sind. Das ist besonders wichtig bei der Information eines Kindes, das ein Recht auf Zugang zu allgemeinen Informationen über seinen Gesundheitszustand haben sollte.
  3. In Ausnahmefällen können bestimmte Informationen dem Kind, seinen Eltern oder gesetzlichen Vertretern vorenthalten werden, wenn es triftige Gründe zu der Annahme gibt, daß diese Informationen zu einer ernsthaften Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit des Kindes oder der physischen oder geistigen Gesundheit einer anderen Person führen würden.

Vertraulichkeit

  1. Im allgemeinen gilt die Verpflichtung von Ärzten und anderen im Gesundheitssektor Tätigen zur vertraulichen Behandlung von identifizierbaren persönlichen und medizinischen Informationen von Patienten (einschließlich der Informationen über den Gesundheits- bzw. Krankheitszustand, Diagnose, Prognose und Behandlung) gleichermaßen für Kinder wie für erwachsene Patienten.
  2. Jedes Kind, das aufgrund seines Reifegrades ohne seine Eltern oder gesetzlichen Vertreter ärztlich beraten werden kann, hat das Recht auf Schutz seiner Privatsphäre und kann die vertrauliche Behandlung seiner Aussagen verlangen. Dieses Verlangen sollte respektiert werden und die während einer Konsultation oder Beratung erhaltenen Informationen sollten nicht ohne Zustimmung des Kindes an die Eltern oder gesetzlichen Vertreter weitergegeben werden, es sei denn, es liegen Umstände vor, die eine Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht auch bei Erwachsenen rechtfertigen. Wenn der behandelnde Arzt allen Grund zu der Annahme hat, daß das Kind bei einer ärztlichen Beratung ohne Teilnahme seiner Eltern nicht in der Lage ist, nach fachgerechter Aufklärung eine Entscheidung in bezug auf die Behandlung zu treffen oder daß ohne die Anwesenheit oder Einbeziehung der Eltern die Gesundheit des Kindes ernsthaften, eventuell sogar irreversiblen Schaden nehmen könnte, dann kann er in Ausnahmefällen die während der Konsultation mit dem Kind allein erhaltenen vertraulichen Informationen an die Eltern oder gesetzlichen Vertreter weitergeben; zuvor sollte er jedoch dem Kind die Gründe für sein Handeln darlegen und versuchen, es von der Notwendigkeit seines Handelns zu überzeugen.

Einweisung ins Krankenhaus

  1. Ein Kind sollte nur in ein Krankenhaus eingewiesen werden, wenn die erforderliche medizinische Versorgung nicht zu Hause oder ambulant erfolgen kann.
  2. Die Umgebung eines stationär behandelten Kindes sollte seinem Alter und seinem Gesundheitszustand entsprechend gestaltet, eingerichtet und ausgestattet sein. Ein Kind sollte nicht zusammen mit erwachsenen Patienten in einem Zimmer untergebracht sein, mit Ausnahme von durch den gesundheitlichen Zustand des Kindes bedingten Sonderfällen, beispielsweise eine Entbindung oder ein Schwangerschaftsabbruch.
  3. Es sollten alle Anstrengungen unternommen werden, damit die Eltern bzw. die gesetzlichen Vertreter bei ihrem stationär behandelten Kind sein können; falls erforderlich, sollte ihnen im oder ganz in der Nähe des Krankenhauses kostenlos bzw. zu sehr geringen Kosten eine Übernachtungsmöglichkeit zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus sollten sie auch Arbeitsbefreiung in Anspruch nehmen können, ohne dabei Nachteile für ihren Arbeitsplatz in Kauf nehmen zu müssen.
  4. Jedes Kind sollte soviel Besuch wie in Übereinstimmung mit den Behandlungsnotwendigkeiten möglich empfangen und Kontakt nach außen halten dürfen, wobei das Alter der Besucher keine Rolle spielt, ausgenommen Situationen, in denen der Arzt allen Grund zu der Annahme hat, daß der Besuch nicht dem Wohl des Kindes dient.
  5. Bei der stationären Aufnahme eines Kleinkindes muß die Mutter die Möglichkeit haben, ihr Kind zu stillen, es sei denn, eine positive medizinische Kontraindikation steht dem entgegen.
  6. Ein Kind im Krankenhaus sollte immer eine seinem Alter adequate Möglichkeit und Gelegenheit zum Spielen und zur Erholung haben; des weiteren sollte der Schulunterricht fortgesetzt werden, indem entweder eigens dafür geschulte Lehrer das Kind im Krankenhaus unterrichten oder dem Kind die Möglichkeit geboten wird, an geeigneten Fernunterrichtsprogrammen teilzunehmen.

Kindesmisshandlung

  1. Es müssen alle erforderlichen Maßnahmen getroffen werden, um Kinder vor allen Formen der Vernachlässigung oder vernachlässigenden Behandlung, physischer und mentaler Gewalt, Misshandlung, Verletzung oder Missbrauch einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen. In diesem Zusammenhang sei auf die Leitlinien in der Erklärung des Weltärztebundes zur Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern (17.W) hingewiesen.

Gesundheitserziehung

  1. Eltern und Kinder, letztere unter Berücksichtigung ihres Alters und Entwicklungsstandes, sollten umfassend über die Gesundheit und die Ernährung des Kindes (insbesondere die Vorteile des Stillens), über Hygiene, Umwelthygiene,
    Unfallverhütung und sexuelle und reproduktive Gesundheitserziehung informiert und dabei unterstützt werden, diese Kenntnisse in der Praxis anzuwenden.

Würde des Patienten

  1. Ein krankes Kind sollte immer mit Feingefühl und Verständnis behandelt und seine Würde und Privatsphäre sollte jederzeit respektiert werden.
  2. Es sollten alle Anstrengungen unternommen werden, um dem Kind Schmerzen und /oder Leiden zu ersparen und wenn dies nicht möglich ist, diese auf ein Minimum zu reduzieren und den physischen und emotionalen Streß des kranken Kindes zu lindern.
  3. Das todkranke Kind sollte die geeignete palliative Versorgung und alle zur Verfügung stehende Hilfe erhalten, damit der Sterbevorgang so angemessen und so würdevoll wie möglich erfolgen kann.

Religiöser Beistand

    • Es sollte alles getan werden, damit das kranke Kind geistigen und moralischen Beistand erhält; dies schließt den Beistand eines Geistlichen der Konfession seiner Wahl ein.

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