Eröffnungsveranstaltung

Dienstag, 19. Mai 1998, 15.00 Uhr

Gürzenich der Stadt Köln
(Musikalische Umrahmung: Ursula Schoch)
 
 Ministerialdirigent Dr. Hans Sendler, Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen:

Herr Bundesminister! Frau Bürgermeisterin! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gerne hätte Minister Dr. Horstmann, Ihrer Einladung folgend, heute teilgenommen. Er hätte sich gefreut, Ihnen anläßlich des 101. Deutschen Ärztetages die Grüße der Landesregierung überbringen zu können. Weil aber heute zeitgleich schwierige Kabinettsberatungen zum Haushalt stattfinden - es geht auch um Geld für das Gesundheitswesen -, hat er mich gebeten, seine Worte zu überbringen und Sie ganz herzlich zu grüßen.

Die Deutschen Ärztetage haben die Entwicklung unseres Gesundheitssystems von Anfang an maßgeblich beeinflußt - dies nicht zuletzt deshalb, weil die hier geführten Gespräche und Diskussionen in der erforderlichen Klarheit und Offenheit stattfinden. Ich bin davon überzeugt, daß die deutsche Ärzteschaft sich auch künftig ihrer hohen Verantwortung in der Gesundheitspolitik bewußt sein und ihr Augenmaß bei den anstehenden Reformen einbringen wird.

Leider ist der Konsens über die Zukunft des deutschen Gesundheitswesens, der sich jahrelang sehr positiv ausgewirkt hat, inzwischen zum Teil zerbrochen. Das beginnt bereits bei der Analyse der Ursachen für die Defizite bei den Krankenversicherungen. Teilweise wird vor allem der medizinisch-technische Fortschritt hierfür verantwortlich gemacht. Einsparungen werden danach als Einbußen an der Qualität der medizinischen Versorgung oder als massive Einschnitte in die Leistungen der Krankenkassen und damit als nicht realisierbar bezeichnet.

Die Ausgaben für das Gesundheitswesen sind zwar in der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten deutlich angestiegen. Vergleicht man aber die Gesundheitsausgaben mit dem Bruttosozialprodukt, so zeigt sich, daß beispielsweise der Anteil der Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen am Sozialprodukt seit vielen Jahren konstant zwischen 5 und 6 Prozent liegt. Von einer Kostenexplosion, verursacht etwa durch teure medizinisch-technische Entwicklungen, kann also gesamtwirtschaftlich nicht die Rede sein.

Das Hauptproblem liegt vielmehr darin, daß die Einnahmen der GKV durch verschiedene Faktoren zurückgegangen sind. Zum einen haben Massenarbeitslosigkeit, sozialversicherungsfreie Tätigkeiten und scheinselbständige Beschäftigungsverhältnisse in den letzten Jahren zunehmend zu erheblichen Ausfällen an Beitragszahlern geführt. Zum anderen sind die Einkünfte der Arbeitnehmer, die nun ihrerseits diese Ausfälle kompensieren müssen, nicht in dem Maße gestiegen, wie es in früheren Jahren üblich war. Deshalb haben wir heute Beitragssätze auf historischem Rekordniveau. Anfang dieses Jahres mußte ein Arbeitnehmer in den alten Bundesländern durchschnittlich 13,6 Prozent, in den neuen Ländern sogar 14 Prozent an Beitrag zahlen.

Unterschiedliche Analysen bedingen naturgemäß verschiedenartige Problemlösungen. Die Bundesregierung hat sich dazu entschlossen, eine Reihe von tiefgreifenden Veränderungen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung vorzunehmen, die das Fundament einer solidarischen Krankenversicherung - lassen Sie mich das so deutlich sagen - zunehmend zu unterspülen drohen. Ich denke, man darf sich keine Illusionen machen: Das Eintrittsgeld auch in die somatische Behandlung droht als der nächste Schritt.

Gesundheitspolitisch besonders bedenklich an diesen Maßnahmen ist neben der individuellen Belastung der Patienten, daß viele Versicherte voraussichtlich seltener zum Arzt gehen und sich unter Umständen Krankheiten verschlimmern, die dann mit erheblich größeren Kosten kuriert werden müssen. Das neue Instrumentarium könnte sich also durchaus als Bumerang für die Ausgabenentwicklung erweisen.

Die Einbeziehung von Privatversicherungselementen in die GKV ändert auch das besonders sensible Arzt-Patienten-Verhältnis und führt zur Kommerzialisierung dieser Beziehung. Der Regelung über den Festzuschuß beim Zahnersatz kommt insoweit eine gewisse Pilotfunktion zu: Der Patient wird zum Kunden, der Arzt wird zum Verkäufer einer Ware, die Praxis wird zum Markt, auf dem um Preise gefeilscht werden kann. Von einzelnen Krankenkassen wurde den Patienten sogar schon geraten, sich den Zahnersatz im preiswerteren Ausland machen zu lassen. Der Europäische Gerichtshof läßt grüßen.

Es dürfte klar sein: Je mehr der Geldbeutel das Arzt-Patienten-Verhältnis bestimmt, desto schneller schwindet das notwendige Vertrauen in den behandelnden Arzt. Daß Überlegungen zur Honorarhöhe immer öfter das ärztliche Handeln beeinflussen - vielleicht auch beeinflussen müssen -, wird auch an anderen Entwicklungen der letzten Zeit deutlich, von denen ich nur zwei Beispiele erwähne. Ich nenne die sogenannte Liste individueller Gesundheitsleistungen, verniedlichend kurz IGEL-Liste genannt. Festzulegen, was in den Leistungskatalog der GKV gehört und was nicht, ist Aufgabe der gemeinsamen Selbstverwaltung im Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen. Dort gehörten solche Fragen nach unserem Sozialversicherungsrecht hin,

(Zustimmung)

und dort sind sie auch zu beantworten. - Ich weiß, daß das möglicherweise nicht auf ungeteilte Zustimmung stößt, aber Herr Professor Hoppe hat ja schon einiges zu der Streitkultur in diesem Kreise gesagt und seine Hoffnung auf entsprechende Verfahren zum Ausdruck gebracht.

Wer diese eindeutigen gesetzlichen Zuordnungen umgeht, der setzt sich dem Verdacht aus - wie er auch öffentlich erhoben worden ist -, daß er die Zweiklassenmedizin in Kauf nimmt. Denn darum handelt es sich grundsätzlich, wenn Gesundheitsleistungen privatisiert und damit vom individuellen Einkommen abhängig gemacht werden.

Ein weiteres Indiz - auch da erwarte ich möglicherweise Reaktionen von Ihnen - ist das teilweise zu beobachtende Liquidationsverhalten bei Privatpatienten. Die Frontlinien sind bekannt. Ich würde mich freuen, wenn auch einmal Seminare angeboten würden - und vor allen Dingen Zulauf hätten -, die zum Beispiel vermitteln, daß der Faktor 2,3 nicht der Regelwert der Verordnung ist, sondern nur für die schwierigen Fälle gedacht ist, nämlich die Fälle, die sich vom Üblichen deutlich abheben.

Sie kennen die Finanzlage der öffentlichen Haushalte. Sie erklärt nicht zuletzt auch den Vorstoß des Landes Schleswig-Holstein, über den aber noch nicht entschieden worden ist, wie Sie wissen.

Wir dürfen - ich denke, in gemeinsamem Interesse - nicht dahin kommen, daß der ideale Patient derjenige ist - wie es in diesen Tagen ein Medizinsoziologe formuliert hat -, der die höchste Rentabilität verspricht und die großzügigste Versicherung hat. Auch weiterhin muß es bei dem Grundsatz bleiben, daß alle Versicherten eine qualitativ gleichwertige gesundheitliche Versorgung erhalten.

Die Reform des Gesundheitswesens muß deshalb an zwei Stellen ansetzen. Zum einen muß die solidarische Finanzierung der GKV stabilisiert werden. Wir müssen zunächst deren Einnahmen verbessern. Dazu gehört vor allem die Verbreiterung der Versichertenbasis durch eine aktive Beschäftigungspolitik und die Wiederherstellung der Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Dazu gehört aber auch eine gründliche Überprüfung der Beitragsgrundlagen.

Darüber hinaus müssen zum anderen strukturelle Reformen auf der Ausgabenseite ansetzen. Ich sehe die Erschließung von Rationalisierungspotentialen nicht als beendet, sondern vielmehr als Daueraufgabe aller Verantwortlichen in unserem Gesundheitswesen an. Durch verbesserte Selbststeuerung und stärkere Vernetzung müssen und können die vorhandenen Ressourcen effizienter genutzt werden. Ich möchte mich auf drei Beispiele beschränken.

Erstens. Von zentraler Bedeutung ist, daß wir die Steuerung des Krankenhaussektors dauerhaft in den Griff bekommen müssen. Wir müssen den Leistungserbringern und den Krankenkassen breitere Verhandlungsspielräume einräumen, um die Versorgungsstrukturen und deren Finanzierung freier zu gestalten. Die Kassen müssen sich - wie es ein Kassenfunktionär vor kurzem so schön neudeutsch formuliert hat - "vom payer zum player" wandeln, während die Krankenhäuser - das ist der Gegenpol - mehr Eigenverantwortung und unternehmerische Flexibilität brauchen. Auch das muß gleichzeitig eingeräumt werden.

Zweitens. Die Planungssysteme für den ambulanten und den stationären Bereich müssen erheblich mehr als bisher untereinander vernetzt werden.

Drittens. In der ambulanten Versorgung müssen die patientenorientierten hausärztlichen Strukturen gestärkt werden. Ein besonderes Anliegen ist es deshalb auch, daß wir alle gemeinsam die Voraussetzungen für eine Verbesserung der allgemeinmedizinischen Weiterbildung schaffen. Es war schwierig genug, dieses Paket von über 320 Millionen DM für zwei Jahre mit den Beteiligten zu schnüren, mit der Perspektive auch für neue Weiterbildungsstellen im ambulanten Bereich, und so auf die Erwartungen des 100. Deutschen Ärztetages einzugehen - mit den vereinten Kräften der Politik im Bund, in den Ländern und der Selbstverwaltung bis hin zur privaten Krankenversicherung. Was kaum jemand für möglich gehalten hätte, wird Ihnen nun serviert. Letzten Donnerstag ist zwischen allen Beteiligten weißer Rauch aufgestiegen. Alle Beteiligten haben, auch in ihren Organisationen - dies werden Sie hier ebenfalls noch tun -, hart und kontrovers gerungen, bis dieses Ergebnis zustande kam. Die Bundesärztekammer hat sich dabei mit erstaunlich vielen Wünschen erstaunlich weit durchgesetzt. Ich sage dies aus meiner unmittelbaren Erfahrung in diesem Prozeß. Alles andere als eine zügige Umsetzung der Pläne nach dem anstehenden Bestätigungsbeschluß des Deutschen Ärztetages, also durch Sie, würde wahrscheinlich eher auf Unverständnis stoßen. Verabschieden Sie also die Gebietsbezeichnung Allgemeinmedizin, wie sie im letzten Jahr in Aussicht genommen wurde.

Auch ein weiteres Thema wird uns in nächster Zeit stark beschäftigen. Ich meine das Gesetz über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, kurz: Psychotherapeutengesetz, das nach 20jähriger Diskussion nun endlich verabschiedet worden ist. Um es vorweg zu sagen: Ich betrachte dieses Gesetz als einen wesentlichen Beitrag zum gesundheitspolitischen Fortschritt. Die Länder sind dabei, die Durchführung des Gesetzes zu organisieren. Wie bei den übrigen akademischen Heilberufen sollte auch den Psychotherapeuten eine berufsständische Selbstverwaltung gegeben werden.

Für die künftig approbierten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten fallen all die Grenzen und Schranken ihrer Berufsausübung weg. Im gleichen Maße wächst allerdings ihre Verantwortung als eigenständige Behandler. Darin liegen Risiken und Chancen, die alle Beteiligten von vornherein gesehen haben.

Ich appelliere an Sie und rechne darauf, daß beide Berufsstände einander akzeptieren, überholtes Konkurrenzdenken schwindet und dem Miteinander Platz macht, das sich auf anderen heilkundlichen Gebieten glücklicherweise vielerorts entwickelt hat.

Diesem Ziel dient auch der dritte Bereich, den ich an dieser Stelle kurz ansprechen möchte: die Reform der ärztlichen Ausbildung. Ich hoffe, daß es gelingen wird - es ist bereits angesprochen worden -, hier den notwendigen qualitativen Verbesserungen und Veränderungen zum Durchbruch zu verhelfen. Allerdings wird es nicht gelingen, die Tätigkeit des Arztes im Praktikum gleich zu beenden; gesetzgebungstechnische Gründe stehen dem entgegen. Ich denke allerdings, daß es notwendig ist, sehr schnell danach in eine umfassendere Betrachtung einzutreten.

Ein letztes Wort, Herr Professor Hoppe, zur Krankenhausplanung. Die Ärztekammern werden - jedenfalls in Nordrhein-Westfalen - eine bedeutende Rolle spielen. Diese Rolle hängt nicht vom dürren Wortlaut mancher Gesetzesparagraphen ab.

Ich beschränke mich bewußt auf diese wenigen Punkte, obwohl deutlich mehr in der Luft liegt und der Presse in den letzten Tagen sehr beachtliche Beiträge zu entnehmen gewesen sind. Ich habe es nicht für möglich gehalten, daß aus Ihrem Kreise derart Revoluzzerhaftes so schnell das Licht der Welt erblicken könnte. Ich bin sehr gespannt, wie Ihre Diskussionen weitergehen werden.

Ich wünsche dem 101. Deutschen Ärztetag in diesem Sinne einen erfolgreichen Verlauf sowie der Bundesärztekammer und Ihnen, den Ärztinnen und Ärzten, viel Erfolg für die künftige Arbeit zum Wohle der Bevölkerung.

(Beifall)