Top III: Ärztliche Arbeit und Zusammenarbeit in Europa

2. Tag: Mittwoch, 10. Mai 2000

Nachmittagssitzung

Prof. Dr. Hoppe, Präsident:

Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir setzen unsere Beratungen fort. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt III: Ärztliche Arbeit und Zusammenarbeit in Europa auf.

Wir haben dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt, weil wir der Auffassung sind, dass es dazu vieler Informationen bedarf. Es gibt zu diesem Tagesordnungspunkt drei Referenten. Der erste Referent ist Herr Dr. Markku Äärimaa aus Helsinki, der derzeitige Präsident des Ständigen Ausschusses der Europäischen Ärzte und derzeitiger Generalsekretär der Finnischen Ärztevereinigung. Er ist Facharzt für Chirurgie, ebenso wie unser Ehrenpräsident Karsten Vilmar, den es auch aus der Chirurgie in die Politik und in die Gestaltung unseres Berufs getrieben hat.

Herr Dr. Äärimaa hat das Wort. Wir sind ihm sehr dankbar dafür, dass er sein Referat in deutscher Sprache halten wird, sodass wir keine Übersetzung benötigen.

(Beifall)

Bitte, Herr Dr. Äärimaa.

Dr. Äärimaa, Referent:

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zusammenarbeit und Hilfe für Kollegen sind schon immer Grundprinzipien gewesen, die im ärztlichen Eid und in unseren ethischen Vorschriften festgeschrieben waren. Es hat auch allen Ärzten zum Vorteil gereicht, dass, egal welche bemerkenswerten wissenschaftlichen Fortschritte und Entdeckungen gemacht wurden, diese allen Ärzten schnell zur Verfügung standen - zum Wohl ihrer Patienten! Der Beruf des Arztes ist auch immer schon ausgesprochen international gewesen, was besonders in der Freiheit der wissenschaftlichen Information, der Schnelligkeit ihrer Veränderung und ihrer raschen Anwendung überall auf der Welt zum Ausdruck kam und kommt.

Der Beruf des Arztes ist andererseits streng reglementiert und Politiker sowie Behörden begegnen der Berufsausübung des Arztes mit fortgesetztem und detailliertem Interesse. Die Arbeit des Arztes wird von der politischen und wirtschaftlichen Umgebung stark beeinflusst.

Bezogen auf Europa ist der so genannte Integrationsprozess derjenige Faktor gewesen, der die Rahmenbedingungen am stärksten verändert hat. Im engeren Sinne meint man mit Integration die politische Bewegung, die nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen und zur Entstehung der Europäischen Union geführt hat. In einer weiteren Perspektive jedoch bekam die wirtschaftliche Integration Europas bereits im 19. Jahrhundert einen starken Impuls: Mit dem Durchbruch der Dampfmaschine kam es zu einer Umwälzung der industriellen Fertigungsprozesse, die letztlich zur Entstehung der Großindustrie führte. Gleichzeitig entstand auch eine neue politisch-soziale Klasse - die Fabrikarbeiter -, die mithilfe von solchen Persönlichkeiten wie Marx und Engels schnell eine starke und sogar internationale politische Identität erlangte. Die Regierungen versuchten, den durch diese Entwicklung entstehenden Druck entweder abzuwehren oder geeignete Antworten darauf zu finden. Das vielleicht erfolgreichste Mittel, auf den sozialen Druck zu antworten und die drohende Revolution abzuwehren, war das von Bismarck entwickelte System der Sozialversicherung.

Dieses hatte auch zur Folge, dass die Ärzte schnell bemerkten, dass sie sich in einer gänzlich neuartigen Situation befanden: Früher hatten sie von den Vermögenden für deren ärztliche Behandlung eine angemessene Honorierung verlangt und die Armen aus Barmherzigkeit behandelt. Jetzt standen ihnen jedoch politische Entscheidungsträger sowie große und sachkundige Krankenversicherungen gegenüber, was die Ärzte dazu zwang, sich zu organisieren. Als Folge entstanden im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts große Ärztevereinigungen. Einer der wesentlichen Gründe für die Entstehung der Finnischen Ärztevereinigung war, dass im finnischen Parlament über das Bismarck’sche Modell diskutiert wurde; und um diese Diskussion zu beeinflussen, musste die Ärzteschaft versuchen, möglichst mit einer Stimme zu sprechen.

Die Veränderung der Rolle des Arztes führte auch dazu, sich international zu organisieren. Im Jahre 1926 wurde in Warschau die internationale Ärztevereinigung APIM (Association Professionel International de Medicine) gegründet. Ihre Zielsetzung war, sich mit den Beziehungen der Ärzteschaft zum Staat, zu den Sozialversicherungsanstalten und sozialen Gruppen, aber auch mit den Beziehungen der Ärzte untereinander zu beschäftigen. Der Zweite Weltkrieg beendete die Tätigkeit dieser Organisation.

Die politische Integration Europas nach dem Zweiten Weltkrieg führte zur Entstehung bedeutender europäischer Ärzteorganisationen. Zu den Chefarchitekten der europäischen Integration gehören die Franzosen Jean Monnet und Robert Schuman sowie der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer. Das Hauptmotiv war zweifellos, mithilfe der wirtschaftlichen Integration einen weiteren europäischen Krieg zu verhindern. Es entstand die Europäische Wirtschaftsunion, deren Gründungsvertrag im Jahre 1957 in Rom geschlossen wurde. Als Reaktion auf die Entstehung der gemeinsamen Märkte haben auch die Ärzte bedeutende europäische Organisationen gegründet: Im Jahre 1959 wurde in Amsterdam das Comité Permanent mit dem Ziel gegründet, als gemeinsames Organ der Ärzte gegenüber den europäischen Einrichtungen und Organen zu wirken.

Die Befreiung der Märkte sowie die Garantie des freien Verkehrs für die Menschen und von Produkten, Dienstleistungen und Kapital sind ebenfalls unabdingbar für die europäische Entwicklung gewesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg forderte die optimale Größe von immer mehr Unternehmen deutlich größere Produktions- und Absatzgebiete, als die nationalen Grenzen es zugelassen hätten. Heute sieht es so aus, als bewege sich die optimale Größe in vielen Bereichen auf globaler Ebene.

Die Internationalisierung der Unternehmen zwang auch die Arbeitnehmer zur Gründung internationaler Einrichtungen zur Vertretung der eigenen Interessen. Auf europäischer Ebene vielleicht die stärkste Arbeitnehmerinteressen vertretende Organisation ist der im Jahre 1973 gegründete Europäische Gewerkschaftsbund EGB. Er vertritt rund 60 Millionen Arbeitnehmer.

Die vom EGB geforderten kollektiven Verhandlungsrechte sind ihm durch den Maastrichter Vertrag zugestanden worden. Zwei bedeutende Verhandlungsergebnisse sind mittlerweile erreicht worden: zum Elternurlaub und zur Teilzeitarbeit. Die entsprechenden Verträge sind vom EGB und von UNISE/SEP - den Organisationen, die auf europäischer Ebene die Arbeitgeber vertreten - unterschrieben worden. Diese Verträge sind vom Europäischen Ministerrat anerkannt worden und sind nun Teil des europäischen Rechts.

Es gibt jedoch Bereiche, in denen die Produktion stark im nationalen Interesse liegt. Solche Bereiche sind unter anderem das Gesundheitswesen und die Landwirtschaft. In der Landwirtschaft wurde der entscheidende Vertrag in den 60er-Jahren geschlossen und danach durften Lebensmittel in der gesamten Europäischen Union frei vermarktet werden. Als Folge haben sich die Preise für Lebensmittel innerhalb der EU angeglichen. Gleichzeitig hat man jedoch die Position der Lebensmittelproduzenten in den einzelnen Staaten absichern wollen. Dies bedeutete umfangreiche Einkommenstransfers und eine umfassende Subventionspolitik. So fließt heute mehr als die Hälfte des gesamten EU-Budgets in die Landwirtschaftsausgaben und in Brüssel ist eine Vielzahl von Lobbyisten und Organisationen aus diesem Feld tätig.

Das Gesundheitswesen scheint aus irgendeinem Grund ein erheblich schwierigeres Feld zu sein. Über eine größere vertragliche Freizügigkeit auf diesem Gebiet wollen die Regierungen noch nicht einmal etwas hören; sie verweisen stattdessen auf das Prinzip der Subsidiarität. Die europäische Binnenmarktgesetzgebung scheint aber auch hier den Weg zu mehr Freizügigkeit zu ebnen. Der Europäische Gerichtshof hat die berühmten Grundsatzurteile in den Fällen Kohll und Decker gefällt, mit denen die nationalen Finanziers des Gesundheitswesens verpflichtet wurden, im Ausland in Anspruch genommene Gesundheitsdienstleistungen zu bezahlen. Die Beschlüsse wurden mit der Binnenmarktgesetzgebung - genauer: mit der Dienstleistungsfreiheit - begründet.

Es ist klar, dass auch diese Märkte freigegeben werden. Die Ärzte haben bereits das Recht, ihren Beruf in jedem Land der Europäischen Union auszuüben, aber der Patient hat auf europäischer Ebene noch keine Wahlfreiheit. Bei einem Treffen im vergangenen Monat hat auch das Comité Permanent in dieser Frage klar Stellung bezogen: Der Patient soll die Freiheit haben, Gesundheitsdienstleistungen dort innerhalb der EU in Anspruch zu nehmen, wo er will. Dabei soll er darauf vertrauen können, dass sein nationales Finanzierungssystem in der gesamten EU gilt. Spätestens dann ist es wichtig, dass die europäische Zusammenarbeit der Ärzte ausreichend organisiert ist und effektiv funktioniert.

Obwohl die Prinzipien der freien Marktwirtschaft die verkrusteten Strukturen der Gesundheitssysteme wohltuend erschüttern können, eignen sie sich nur begrenzt als Leitlinien für die Entwicklung des Gesundheitswesens. Ziemlich oft müssen Ärzte rein ökonomisch begründete Anforderungen an ihr Handeln abwehren. Viele sind der Meinung, dass sich die medizinische Wissenschaft in diesem gerade begonnenen Jahrhundert vor allem auf dem Gebiet der Gentechnologie und der sich darauf gründenden Arzneimittelinnovationen und Therapien neue Anwendungsmöglichkeiten erschließen wird. Der Schlüsselfaktor dafür, dass gerade auf diesem Gebiet schon gewaltige Summen investiert worden sind, könnte in der erhofften Patentierung von Genen und Genteilen liegen. In dieser Hinsicht ist die Position des Comité Permanent kategorisch: Erfindungen können patentiert werden, aber menschliche Anatomie nicht! Menschliche Genome oder Teile davon dürfen nicht patentiert werden.

(Beifall)

Die Wirtschaft und die Marktpolitik stellen die Grundlage der Europäischen Union dar. Jetzt hat man jedoch auch eine Diskussion darüber eröffnet, ob auch die allgemeineren humanen Grundwerte die weitere Entwicklung Europas leiten sollen. Insbesondere die Ärzte sind eine starke und glaubwürdige Schlüsselgruppe, um die Verstärkung dieses Gesichtspunkts zu fordern. Ein Meilenstein im Rahmen dieser Entwicklung kann das derzeit laufende Projekt sein, die Grundrechte des EU-Bürgers zu definieren. Das Comité Permanent ist zu dieser Angelegenheit gehört worden und hat vorgeschlagen, dass zu den Rechten des europäischen Bürgers eine hochwertige GesundheitsVersorgung und ein gleichwertiger Zugang zu medizinischer Behandlung gehören sollten.

Ähnlich wie die individuelle Revolution scheint auch die politische Integration Europas zur Identifizierung einer neuen Klasse geführt zu haben: der des Verbrauchers. Diese neue Klasse ist groß und politisch wichtig und diese Tatsache hat bereits ihren Niederschlag in der Gesetzgebung gefunden.

Im Zusammenhang mit dem Erlass des Verbraucherschutzgesetzes hat das Comité Permanent intensiv die besondere Stellung der Ärzte verteidigen müssen. Ärztliche Dienstleistung ist kein Produkt, das entweder funktioniert oder nicht funktioniert;

(Beifall)

die Fähigkeit des Arztes zu heilen gründet sich vielmehr auf ganz andere Faktoren wie beispielsweise das Patient-Arzt-Verhältnis. Obwohl die Behörden die Ärzte aus dem Bereich des normalen Verbraucherschutzgesetzes ausgenommen haben, bezahlen die Ärzte weiterhin für die Unzufriedenheit ihrer Kunden einen sehr viel höheren Preis als andere Berufsgruppen. Die Jahresprämien für die Haftpflichtversicherungen vermindern in einigen Fachgebieten die Einkommen bereits beträchtlich. Das Comité Permanent hat gerade einen Beschluss gefasst, der darauf abzielt, diese Verantwortung in der Gesellschaft gerechter zu verteilen.

Europa ist gerade dabei, sich zu erweitern, besonders um solche Länder, die die deutsche Ärzteschaft am besten kennt. Die zur Harmonisierung dieser Erweiterungsphase benötigten Instrumente hat man jedoch rosten lassen. So ist zum Beispiel das derzeitige Advisory Committee on Medical Training (ACMT) nicht in der Lage, im Zusammenhang mit dem Erweiterungsprozess die Entsprechbarkeit der ärztlichen Ausbildung tatsächlich zu garantieren. Auch diese Aufgabe müssen die Ärzte immer stärker in die Hand nehmen - auch deshalb, weil sie davon am meisten verstehen.

(Beifall)

Ein wesentlicher Faktor in diesem Prozess ist die Zusammenarbeit aller Ärzte, sowohl derjenigen innerhalb des jetzigen EU-Gebiets als auch der Ärzte aus den Ländern, die der EU beitreten wollen.

Meine Kolleginnen und Kollegen, die deutschen Ärzte haben eine ehrenvolle medizinische Geschichte; viele grundlegende Erkenntnisse und Erfindungen sind hier gemacht worden. Auch die nordischen Länder sind stolz auf ihr eigenes System, aber in einem wirklichen Wettbewerb hat es sich nicht behauptet: Das deutsche System der Sozialversicherung und der Ärztekammern ist von den Ländern als Muster genutzt worden, in denen die alten Systeme zusammengebrochen sind und neue gebraucht werden. Sie hier in Deutschland haben besondere Kenntnisse und Erfahrungen auf den Gebieten, um die sich die Europäische Union jetzt erweitern will. Sie haben eine stabile ethische Grundlage. Ich hoffe, dass Ihre gesamte Erfahrung und Ihr Wissen auch den anderen Ärzten Europas zur Verfügung steht; denn ich bin überzeugt davon, dass unser Berufsstand bei der Schaffung eines neuen und besseren Europas viel Gewichtiges zu sagen hat und zu sagen haben sollte!

Danke schön.

(Anhaltender Beifall)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident:

Vielen Dank, Herr Präsident Dr. Äärimaa, für Ihr Referat über die Philosophie bei der Gründung der europäischen Gremien, für Ihren Blick in die Zukunft und für Ihre Aufforderung, den Mut zu haben, die eigenen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen. Darauf komme ich nachher noch zurück. Sehr herzlichen Dank dafür, dass Sie zu uns gekommen sind und dieses Referat gehalten haben.

(Beifall)

Nun wird uns Herr Rechtsanwalt Schirmer über den Einfluss des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Gesundheitssysteme und die ärztliche Berufsausübung berichten.

Bitte sehr, Herr Rechtsanwalt Schirmer.


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