Top III: Ärztliche Arbeit und Zusammenarbeit in Europa

Schirmer, Referent:

Herr Präsident! Herr Dr. Äärimaa! Meine Damen und Herren! Dem Titel meines Referats vermögen Sie zu entnehmen, dass ich ein Referat unter Verwendung juristischer Begriffe und juristischer Sprache halten werde. Mein Referat liegt auch schriftlich vor. Sie müssen nicht befürchten, dass meine Ausführungen zu kompliziert werden; die schriftliche Fassung ist kompliziert.

Wenn Sie mir eine Weile folgen, werden Sie am Ende mehr vom Europarecht verstehen als manche Juristen. Mit dieser Captatio Benevolentiae kann ich Sie vielleicht motivieren, mir eine Weile zuzuhören.

Als im April 1998 der Europäische Gerichtshof in seinen inzwischen der Öffentlichkeit geläufigen Entscheidungen mit den Namen "Kohll" und "Decker" - man kann übrigens in Europa berühmt werden, wenn man vor den Europäischen Gerichtshof geht; denn alle Entscheidungen werden mit dem Namen des Ausgangsklägers versehen, anders als in Deutschland, wo die Namen geschwärzt werden - maßgebliche Grundsätze entwickelt hat, herrschte in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union teilweise Aufgeregtheit. In Deutschland sprach man sogar von einer Anmaßung des Europäischen Gerichtshofs. In der Sonntagszeitung "Welt am Sonntag" erschien ein Beitrag unter einer entsprechenden Überschrift. Die Kritik lautete:

Der Europäische Gerichtshof maßt sich an, durch Richterrecht die nationalen Sozialsysteme zur Sozialunion zusammenzuzwingen.

Man forderte gar eine Änderung der Verträge.

Was zeigt dieser Vorgang? Obwohl vor bald 50 Jahren durch die Römischen Verträge über die EWG, Euratom und die Montanunion auch auf dem Gebiet des Rechts ein Integrationsprozess begründet worden ist, ist erst in den letzten Jahren bewusst geworden, in welchem Ausmaß europäisches Recht unsere Lebensverhältnisse beeinflusst. Ein Schlüsselwort dabei lautet: "Gemeinsamer Markt" - ein Markt ohne unmittelbare und mittelbare Beschränkungen, dessen ideelle Herstellung das Ergebnis eines rechtlichen Anpassungs- und Harmonisierungsprozesses sein soll. Der EG-Vertrag nennt dieses Ergebnis "Binnenmarkt" und definiert ihn folgendermaßen:

Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist.

Der durch die eingangs erwähnten Entscheidungen ausgelöste Diskussionsprozess zeigt zugleich wie in einem Brennspiegel die Kollision zwischen den Prinzipien des freien Markts und denen der Planwirtschaft. Was am Ende des daraus entstehenden Verschmelzungsprozesses im Bereich des Gesundheitswesens und der gesetzlichen Krankenversicherung auf europäischer Ebene entsteht und welche Veränderungen in den Gesundheitswesen bewirkt werden, ist offen. Jedenfalls ist die Unruhe produktiv. Sie lenkt das Augenmerk auf das bislang wenig bekannte Freiheitspotenzial des europäischen Rechts auch für das Gesundheitswesen.

Die heute so bezeichnete Europäische Gemeinschaft ist eine Rechtsgemeinschaft mit eigenständiger Rechtsordnung. Sie ist durch das Recht gegründet. Anders als andere Völkerrechtsgemeinschaften setzt die Europäische Gemeinschaft selbst Recht kraft Übertragung von Souveränitätsrechten der Mitgliedstaaten. In Art. 23 unseres Grundgesetzes ist das ausdrücklich so geregelt.

Auch anders als andere Völkerrechtsgemeinschaften wird die Europäische Gemeinschaft durch das Recht kontrolliert. Der Europäische Gerichtshof ist eine mit Rechtsprechungs- und Entscheidungsfunktion ausgestattete Institution der Gemeinschaft - in der Vergangenheit wie heute durch seine integrationsfreundliche und mitgestaltende und oft mutige Rechtsprechung ein maßgeblicher Motor der Integration in Europa.

Die Europäische Gemeinschaft ist kein Staat. Ihre Zuständigkeit ist eine für bestimmte Regelungsbereiche übertragene und daher nicht allumfassend wie die eines Staates. Man spricht vom Prinzip der so genannten Einzelermächtigung: Die Gemeinschaft darf nur tätig werden, wenn dies im Vertrag geregelt ist. Darüber hinaus stehen ihre Handlungsvollmachten unter der Einschränkung des Prinzips der Subsidiarität. Dies ist insbesondere für den Bereich des Gesundheitswesens von Bedeutung.

Hierzu eine kurze Bemerkung: Ursprünglich verfügten die Europäischen Gemeinschaften über keine spezielle Zuständigkeit im Gesundheitswesen. Es wurden jedoch viele Regelungen erlassen, die das Gesundheitswesen berühren, die aber anderen Kompetenzbereichen zuzuordnen waren: Arzneirecht, Lebensmittelrecht, Medizinprodukterecht, Arbeitsschutz, gegenseitige Anerkennung von Berufsabschlüssen bei medizinischen Berufen, Umweltrecht, Verbraucherschutzrecht usw.

Der Vertrag von Maastricht hat eine entsprechende umfassende Kompetenz durch einen neuen Titel X eingefügt. Art. 152 zur Regelung der Gemeinschaftskompetenzen im Gesundheitswesen hat durch den Amsterdamer Vertrag eine neue Fassung erhalten. Es handelt sich um eine Querschnittskompetenz. Der derzeit geltende Wortlaut verankert das Erfordernis der Berücksichtigung von Gesundheitsschutzaspekten in allen Gemeinschaftspolitiken ähnlich wie beim Umweltschutz und beim Verbraucherschutz. Es ist allerdings keine Kompetenz zur Harmonisierung der nationalstaatlichen Gesundheitswesen. Das sei hier ausdrücklich erwähnt.

Hauptziel der Europäischen Union ist - ich habe es bereits erwähnt - die Herstellung des europäischen Binnenmarkts. Um dieses Hauptziel ranken sich so genannte Politiken. Art. 2 des EG-Vertrags formuliert die Aufgabe der Gemeinschaft unter anderem so: eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens; ein hohes Beschäftigungsniveau und ein hohes Maß an sozialem Schutz; die Gleichstellung von Männern und Frauen; ein beständiges, nicht inflationäres Wachstum; ein hoher Grad von Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz der Wirtschaftsleistungen; ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der UmweltQualität; die Hebung der Lebenshaltung und der LebensQualität; der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt; die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.

Das alles sind ehrgeizige Ziele. Sie sollen verdeutlichen, dass die Europäische Union nicht nur wirtschaftlich ausgerichtet ist zur Herstellung eines Marktes, sondern auch die soziale Verfassung gestalten möchte.

Die Ausdrucksformen europäisch begründeter Rechtsgestaltung sind begrenzt. Die Verträge selbst, die Richtlinien, welche die Mitgliedstaaten zur Transformation ihrer Bestimmungen in nationales Recht verpflichten, die Verordnungen des Rates, die gleichsam europäische Gesetze sind und unmittelbar wirken, sind die legislativen Formen des Europäischen Gemeinschaftsrechts.

Schon früh hat der Europäische Gerichtshof wegweisende Entscheidungen zur Bedeutung dieses Rechts getroffen. Seine Judikate zur unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts und zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht haben dem Gemeinschaftsrecht einen unangefochtenen Rang und damit eine fortschrittswirkende Funktion eingeräumt - auch vor den nationalen Verfassungsgerichten. Auch hier haben europäische Bürger diese Leitentscheidungen ausgelöst. Als im Jahre 1963 die italienische Stromindustrie verstaatlicht wurde, gefiel das dem Bürger Costa nicht. Er bezahlte seine Stromrechnungen nicht mehr. Der Rechtsstreit ging bis zum Europäischen Gerichtshof. Die italienische Regierung sprach dem Europäischen Gerichtshof die Kompetenz ab, darüber zu befinden. Dazu hat der Europäische Gerichtshof ganz lapidar festgestellt: Es gilt die europäische Rechtsordnung auch in Italien.

Das hat auch im Zusammenhang mit einem anderen Rechtsstreit 25 Jahre später eine Rolle gespielt, der unter dem Namen Francovich bekannt geworden ist. Es handelt sich um einen italienischen Bürger, der in dem schönen Ort Bassano del Grappa arbeitete und dort eine Weile ohne Lohn tätig war. Er ging seines Lohnes und seines Arbeitsplatzes verlustig, als der Handwerksbetrieb Pleite ging. Italien hatte es verabsäumt, das, was wir in Deutschland als Konkursausfallgeldversicherung kennen, einzuführen. Das geht auf eine europäische Richtlinie zurück.

Es ging um die bedeutsame Frage: Kann ein Mitgliedstaat, der es versäumt, eine Richtlinie umzusetzen, zu Schadenersatz herangezogen werden? In Italien kennt man die bei uns in Deutschland gegebene Amtshaftung nicht.

Der Europäische Gerichtshof hat gleichwohl festgestellt: Der italienische Staat haftet gegenüber Herrn Francovich für alle Schäden, die aus der Nichteinführung dieser Versicherung entstanden sind.

Wieder einige Jahre später - dies ist ein Rechtsstreit, der für das Facharzt- und Weiterbildungsrecht eine große Bedeutung hat - hat der Europäische Gerichtshof im Rechtsstreit Carbonara gegen Universität Bologna entschieden, dass das in den europäischen Richtlinien vorgeschriebene Gebot, Ärzte in der Weiterbildung zu vergüten, in allen Mitgliedstaaten verbindlich ist und die Mitgliedstaaten Gefahr laufen, dass eine Facharztausbildung, die nicht unter dieser Prämisse erfolgte, nicht anzuerkennen ist.

Auch hier ist die Entwicklung in der Rechtsprechung festzustellen, dass die Bürger bei eindeutigen Richtlinien entsprechende Rechte haben.

Die so genannten Grundfreiheiten im Vertrag - Warenverkehrsfreiheit, Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit - sind die Konstituanten des Binnenmarkts. Sie haben eine grundrechtsähnliche Bedeutung. Die Mitgliedstaaten müssen Beschränkungen dieser Grundfreiheiten rechtfertigen, ähnlich wie wir das in Deutschland tun müssen, wenn wir beispielsweise die Berufsfreiheit einschränken. Es müssen überragende Gründe des Gemeinwohls geltend gemacht werden.

Wir haben heute in Europa weitestgehend das Ursprungslandprinzip: Eine in einem Mitgliedstaat rechtmäßig in den Verkehr gebrachte Ware oder eine rechtmäßig erbrachte Dienstleistung können auch in anderen Mitgliedstaaten hergestellt bzw. erbracht werden. Die Europa-Juristen nennen dies die "Cassis de Dijon"-Doktrin, weil der Ursprungsstreit auf die Einfuhr dieses Getränks nach Deutschland zurückzuführen ist.

Für die Ärzte sind neben der Arbeitnehmerfreizügigkeit - für angestellte Ärzte - die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit die wichtigsten Grundfreiheiten. Die Richtlinien zur Freizügigkeit der Ärzte waren die ersten maßgeblichen Richtlinien über reglementierte Berufe. Sie ermöglichen die Vereinheitlichung des Berufszugangs. Gerade im Bereich der genannten Freiheitsrechte ist der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung sehr unnachgiebig. Er hat das Verlangen von Mitgliedstaaten, über die anerkannten Diplome hinaus bei zuwandernden Ärzten besondere Qualifikationsvoraussetzungen für den Zugang zu den Systemen der sozialen Sicherheit zu verlangen, verworfen. Er hat diesen Grundsatz sogar auf die eigenen Staatsangehörigen übertragen, wenn diese ihr Diplom in einem anderen Mitgliedstaat erworben haben.

Als der niederländische Arzt Broekmeulen im Besitz einer entsprechenden Ausbildung aus Belgien die Eintragung in das Hausarztregister in den Niederlanden verlangte und ihm die niederländischen Behörden die Gleichbehandlung mit den eigenen Staatsangehörigen entgegenhielten, hat der Europäische Gerichtshof zu seinen Gunsten entschieden. Ähnlich ist es in Deutschland mit der Vorbereitungszeit für Vertragsärzte geschehen, die es in dieser Fassung ja nicht mehr gibt.

In zwei Entscheidungen hat der Europäische Gerichtshof das Recht der Ärzte aus dem Gemeinschaftsvertrag abgeleitet, auch in anderen Mitgliedstaaten eine Zweitpraxis zu errichten, ohne im Herkunftsstaat ihre Tätigkeit aufgeben zu müssen. Als ein deutscher Arzt in Frankreich tätig werden wollte und von ihm verlangt wurde, seine deutsche Kammereintragung aufzugeben, kam es zu einem Streit zwischen der Kommission und Frankreich mit dem eben angedeuteten Ergebnis.

Sie finden das übrigens in unserer (Muster-)Berufsordnung in Abschnitt D III Nr. 12 im Einzelnen geregelt.

Nicht harmonisiert ist indessen das Recht der Mitgliedstaaten, zu bestimmen, wer die Heilkunde am Menschen ausüben darf. So hat ein französisches Gericht einen französischen Staatsbürger verurteilt, der entgegen den französischen Vorschriften, die die Ausübung der Heilkunde den Ärzten vorbehalten, unter Berufung auf den Erwerb eines Diploms als Osteopath an einer britischen Schule die Heilkunde ausüben wollte, ohne Arzt zu sein. Der Europäische Gerichtshof hat dieses Verbot für gemeinschaftsrechtskonform angesehen, da Frankreich zu Recht bestimmen darf, dass die Heilkunde am Menschen nur Ärzten vorbehalten ist. Daraus folgt, dass es keine Freizügigkeit für nicht ärztliche Heilbehandler gibt. Das Europäische Parlament hat ja kürzlich erwogen, ob man nicht entsprechende Richtlinien für die nicht konventionelle Medizin durch Nichtärzte einführen müsste. Das ist allerdings gescheitert.

Bei allem fragt sich: Gibt es auch Rechte der Patienten? In den Rechtsbegriffen des Binnenmarktrechts ist der Patient ein Verbraucher. Die Grundfreiheit, auf welche er sich berufen kann, ist die so genannte passive Dienstleistungsfreiheit, das Recht des Nachfragers, über die Grenzen hinweg, also transnational, Dienstleistungen auch freiberuflicher Art in anderen EU-Staaten nachzufragen.

Wie sich das auswirkt, zeigen die eingangs erwähnten Entscheidungen Kohll und Decker von 1998, in denen der Europäische Gerichtshof wirksame Grundsätze für die Freizügigkeit der Patienten geschaffen hat. Der luxemburgische Versicherte Kohll wollte in Trier eine zahnärztliche Behandlung in Anspruch nehmen und erbat dafür die Zusage der Kostenerstattung nach den luxemburgischen Tarifen von seiner Versicherung, die dies verweigerte. Der luxemburgische Versicherte Decker erwarb aufgrund der Verschreibung eines luxemburgischen Augenarztes bei einem belgischen Optiker eine Brille und erwartete von seiner luxemburgischen Krankenkasse die Erstattung von Kosten entsprechend den luxemburgischen Tarifen. Auch dieses Ansinnen wurde von der Krankenkasse zurückgewiesen.

Die Streitigkeiten gingen bis zum Europäischen Gerichtshof. Dieser entschied, dass der Genehmigungsvorbehalt der luxemburgischen Krankenkassen hinsichtlich der Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat, die nach den Tarifen des Herkunftsstaats vergütet werden sollen, gemeinschaftsrechtswidrig ist.

Demnächst wird der Europäische Gerichtshof in weiteren Fällen zu entscheiden haben, ob auch die Inanspruchnahme von Krankenhausleistungen diesem Freizügigkeitsrecht unterliegt.

Mit dieser Materie sind komplizierte Rechtsfragen verbunden: Gilt das Recht auf Inanspruchnahme ausländischer Leistungen nur, wenn der Herkunftsstaat das Kostenerstattungsprinzip kennt? Oder gilt es auch, wenn - wie in Deutschland - das Sachleistungsprinzip gilt? Gilt dies gar für Mitgliedstaaten, die einen nationalen Gesundheitsdienst haben, der seine Bürger unter Verweis auf dieses Versorgungssystem versorgt?

Die ungehinderte Wanderung setzt einen freiheitlichen Erstattungsmechanismus voraus: die Möglichkeit, im Herkunftsstaat nach dessen Tarifen oder Versicherungsmodi die Kosten der Behandlung erstattet zu erhalten. Es kann nicht Sinn der Freizügigkeit sein, unterschiedlich hohe Kosten in die unterschiedlichen Systeme zu tragen. Vielmehr muss der wandernde Versicherte den Mehraufwand bezahlen, der durch einen höheren Behandlungsaufwand in einem anderen Mitgliedstaat entsteht.

Schwierigkeiten entstehen durch die Fragen nach der Qualität, nach der Eingliederung in Budgets. Damit möchte ich Sie hier jetzt nicht befassen.

Letztendlich läuft die Entwicklung darauf hinaus, dass in der Abwägung der Grundfreiheiten der Patienten mit den administrativen Organisationsprinzipien der Versicherungs- und Versorgungssysteme die Freizügigkeit den Vorrang in dem Sinne genießen muss, dass nicht das Sachleistungssystem abgeschafft werden muss, aber der Versicherte muss die Möglichkeit einer Kostenerstattung bekommen, die man übrigens - national gesehen - durch ReFinanzierungsfonds einfach auffangen kann.

Ein Binnenmarkt kann nicht ohne Wettbewerbsregeln sein. Dementsprechend enthält das europäische Recht Wettbewerbsregeln im Sinne eines Kartellverbots und Regeln für so genannte öffentliche Unternehmen. Es ist mehrfach die Frage aufgetaucht, ob auch die Krankenkassen diesen Wettbewerbsregeln unterliegen. Der Europäische Gerichtshof hat einerseits entschieden, dass die Systeme der sozialen Sicherheit in der Domäne der Mitgliedstaaten liegen und von ihnen gestaltet werden können. Andererseits hat er entschieden, dass der Begriff des Unternehmens im Sinne des Kartellrechts jede wirtschaftliche Tätigkeit umfasst, unabhängig von ihrer Rechtsform, also auch durch Körperschaften des öffentlichen Rechts.

Es hat sich ein so genannter funktionaler Unternehmensbegriff entwickelt, der in Deutschland überraschenderweise dazu geführt hat, dass deutsche Gerichte beispielsweise die Funktion der Krankenkassen als Nachfrager nach Gesundheitsleistungen im Sachleistungssystem, etwa bei der Festsetzung des Festbetrags für Arzneimittel, als Kartell bezeichnet haben.

Daraus folgen mehrere Fragen, die die Möglichkeit nicht ausschließen, dass damit das deutsche System der öffentlich-rechtlichen Beziehungen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern auf den Europarechtlichen Prüfstand gestellt wird, möglicherweise mit dem Ergebnis, dass der Staat alle Regelungen im Krankenversicherungsrecht treffen müsste. Aber meines Erachtens sind wir noch nicht so weit. Es wird darauf ankommen, dass einerseits die gesetzlichen Krankenkassen sich auf ihr Prinzip der Binnenverteilung, auf das Prinzip der Solidarität, auf das Prinzip des Risikostrukturausgleichs begrenzen, dass es keine Privatversicherungen gibt.

Interessant ist auch die Frage nach der Anwendung bei den Leistungserbringern. Gelten auch dort die Wettbewerbsregeln? Hier wird vermutlich die Entwicklung von Wettbewerbsrecht und europäischem Vergaberecht dazu führen, dass mehr Zugangschancen auch für ausländische Leistungserbringer in Deutschland geschaffen werden müssen.

Fazit: Der Einfluss des europäischen Gemeinschaftsrechts sowohl auf die Binnenstruktur der gesetzlichen Krankenversicherung als auch auf das Leistungserbringerrecht ist unbestreitbar. Es wird ein rechtlicher Transformationsprozess entstehen, welcher in der Stärkung der Chancengleichheit der Leistungserbringer in Bezug auf die Teilhabe an der Versorgung der Versicherten auch im grenzüberschreitenden Verkehr mündet.

Abschließend noch einige Bemerkungen in Stichworten. Natürlich haben nicht nur die Krankenversicherung und die Grundfreiheiten einen Einfluss auf die ärztliche Berufsausübung. Das europäische Recht stellt viele Fragen zu allen Rechtsfiguren, die wir kennen: ärztliche Berufsordnungen, ärztliche Gebührenordnungen, Berufsgeheimnis, Datenschutz, Haftung für medizinische Behandlungsfehler, Ärzte- und Gesellschaftsrecht, Arzneimittel, Medizinprodukte, Biotechnologie.

In allen diesen Bereichen bedarf es der Einfluss nehmenden Mitwirkung der Ärzteschaft auf europäischer Ebene, damit ihre berufliche Selbstständigkeit gewahrt wird, auch im Interesse der Patienten. Dies scheint auch über eine gemeinsame europäische Vertretung zweckmäßig zu sein.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident:

Vielen Dank, Herr Schirmer. Herr Schirmer ist nicht nur Justiziar der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, sondern auch Vorsitzender der juristischen Arbeitsgruppe des Comité Permanent. Darüber freuen wir uns sehr, denn das ist auch für uns wichtig. Es ist für unser Land eine ganz große Ehre, dass ein Deutscher diese Arbeitsgruppe leitet. Das ist auf die Kompetenz von Herrn Schirmer zurückzuführen.

(Beifall)

Ich übergebe jetzt die Sitzungsleitung an Frau Vizepräsidentin Auerswald.


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