TOP V: Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer
3. Tag: Donnerstag, 24. Mai 2001 Nachmittagssitzung

Prof. Dr. Hoppe, Präsident:

Ich begrüße jetzt als Gast Herrn Professor Siegrist aus Düsseldorf, der im Rahmen des Tätigkeitsberichts der Bundesärztekammer einen Bericht zum Thema "Verletzungen und deren Folgen - Prävention als ärztliche Aufgabe" vortragen wird.

Der Reihenfolge nach wäre zunächst Tagesordnungspunkt IV an der Reihe, der die Änderung der §§ 4, 5, 8 und 10 der Satzung der Bundesärztekammer betrifft. Manche meinen, dieser Tagesordnungspunkt könne so schnell abgehandelt werden, dass Herr Professor Siegrist so zügig an der Reihe ist, dass er gar nicht bemerkt, dass zwischendurch ein anderes Thema behandelt wurde. Andere meinen, es könne sich etwas hinziehen. Ich möchte auch aus Gründen der Gastfreundschaft, da Herr Professor Siegrist heute wieder zurück muss, fragen, ob wir zunächst den Bericht von Herrn Professor Siegrist hören und darüber diskutieren sollten, sodass die Satzungsfragen anschließend beraten werden, oder ob wir erst die Satzungsänderung behandeln und Herrn Siegrist auch dann noch so früh hören können, dass er heute noch die Rückreise antreten kann.

Wer ist dafür, dass wir Herrn Professor Siegrist vorziehen? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Einige Enthaltungen. Das Erste war die Mehrheit.

Demgemäß rufe ich nun Tagesordnungspunkt V auf:

Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer

Hier geht es speziell um den Bericht von Herrn Professor Siegrist zum Thema "Verletzungen und deren Folgen - Prävention als ärztliche Aufgabe". Bitte sehr, Herr Siegrist.

Prof. Dr. Siegrist, Referent:

Die Präsentationen liegen auf dieser CD-ROM als Microsoft PowerPoint Präsentaionen vor. Wenn Sie den Microsoft Internet Explorer Version 5.xx benutzen und Microsoft PowerPoint installiert ist, können sie die Präsentaion durch einen Klick auf das Miniaturbild direkt starten.


Falls auf Ihrem Computer kein PowerPoint vorhanden ist, so finden Sie hier den Microsoft PowerPoint Viewers.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die deutsche Ärzteschaft wird mit steigenden Forderungen und Erwartungen konfrontiert. Forderungen und Erwartungen vonseiten der Politik, von Verbänden, aber auch von der Öffentlichkeit, von Patientinnen und Patienten werden in der täglichen Arbeit in der Arztpraxis und im Krankenhaus spürbar und hörbar. Und nun soll in dieser Situation eine weitere Forderung erhoben werden, die Forderung nämlich, dass Ärztinnen und Ärzte die Verhütung von Verletzungen, in erster Linie von Unfällen, stärker als bisher zu einem Anliegen ihres eigenen beruflichen Wirkens machen sollen. Diese Forderung kommt nicht von außen, sondern sie stammt aus dem eigenen Kreis, und zwar aus den Beratungen des 102. Deutschen Ärztetages.

Interessanterweise wurde dieses Anliegen von einem Vertreter eines renommierten Zentrums der Akutmedizin, einer unfallchirurgischen Universitätsklinik, geäußert. Hier nämlich setzt sich immer mehr die Einsicht durch, dass noch so eindrucksvolle medizintechnische und ärztliche Erfolge nicht ausreichen, dem in der Gesellschaft in wachsendem Maße produzierten Verletzungsgeschehen langfristig wirksam zu begegnen.

Der Vorstand der Bundesärztekammer hat deshalb in Reaktion auf den Antrag von Professor Lob eine Arbeitsgruppe "Prävention von Unfällen" eingesetzt, der mehrere Unfallchirurgen, ein Kinderchirurg, ein Geriater und ein Public-Health-Forscher angehören, ebenso drei wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesärztekammer. Diese Gruppe hat in mehrmonatiger Arbeit den Ihnen vorliegenden Bericht erarbeitet. Zum heutigen Tag hat mich der Vorstand der Bundesärztekammer als Leiter dieser Arbeitsgruppe beauftragt, die wichtigsten Ergebnisse des Berichts kurz zu erläutern, soweit sie für den Ihnen vorliegenden Beschlussantrag von Bedeutung sind.

Lassen Sie mich das Wesentliche in vier Punkten zusammenfassen:

Erstens. Die Behandlung verletzter Patientinnen und Patienten bildet ein wichtiges und häufiges Thema ärztlicher Arbeit. Nach den Ergebnissen des Bundesgesundheitssurveys von 1998 haben 12 Prozent der erwachsenen deutschen Bevölkerung innerhalb der letzten zwölf Monate eine Verletzung erlitten, die ärztlich versorgt werden musste. Weit über 90 Prozent aller Verletzungen erfolgen durch Unfälle. Die wichtigsten Unfallorte sind Haus und häusliche Umgebung, Arbeitsplatz, Erholungs- und Sportstätten sowie Straßen.

Durch unfallbedingte Todesfälle werden mehr Lebensjahre verloren als durch Krebs- und Herz-Kreislauf-Krankheiten zusammen, wenn - wie in der Statistik üblich - eine Lebensspanne von 70 Jahren zugrunde gelegt wird. Lebenslange Behinderung, längere Arbeitsunfähigkeitszeiten sowie akute Behandlungen bilden weitere medizinische, psychosoziale und ökonomische Belastungen.

Allein bei Straßenverkehrsunfällen werden hierzulande jährlich mehr als eine halbe Million Menschen verletzt. Im Jahr 2000 wurden 45 500 Kinder Opfer von Verkehrsunfällen.

Neben dem Unfallgeschehen müssen jene Verletzungen beachtet werden, die durch Gewalt zwischen Menschen entstehen: Körperverletzungen einschließlich sexueller Misshandlungen. Einer in allgemeinärztlichen Praxen Großbritanniens durchgeführten Patientenbefragung zufolge hat immerhin jede 20. Patientin oder jeder 20. Patient den Arzt wegen körperlicher oder psychischer Folgen einer erfahrenen Gewalthandlung aufgesucht.

Zweitens. Die Verletzungshäufigkeit ist nicht naturgegeben. Sie kann durch Präventivmaßnahmen drastisch gesenkt werden. Ich nenne die Verkehrsunfälle als Beispiel. Durch Maßnahmen wie Gurtanschnallpflicht und Geschwindigkeitsbegrenzung beim Autofahren, durch Helmpflicht beim Motorradfahren, durch Verkehrserziehung sowie durch die Begrenzung von Alkoholverkauf an Autobahnraststätten und Tankstellen konnte in vielen Industrieländern die Zahl der Verkehrstoten und -verletzten deutlich gesenkt werden.

Bedenkt man, dass jeder zweite unter Alkoholeinfluss verunfallte Verkehrsteilnehmer jünger als 35 Jahre ist, so wird hier ein gezielter Präventionsbedarf sichtbar.

Wie groß dieser Spielraum der Prävention ist, verdeutlicht ein Vergleich der Verkehrstoten in verschiedenen Ländern der Europäischen Gemeinschaft. Die Spanne reicht von 5,3 Verkehrstoten pro 100 000 Personen in Schweden bis zu 23,3 Verkehrstoten pro 100 000 Personen in Portugal. Mit 11,7 Verkehrstoten pro 100 000 liegt Deutschland keinesfalls an der Spitze. Würden wir diesbezüglich mit Großbritannien gleichziehen - dort gibt es 5,8 Verkehrstote pro 100 000 Einwohner -, so könnten jährlich rein rechnerisch 4 800 Menschenleben zusätzlich gerettet werden.

Vorbildlich ist Deutschland hingegen bei der Verhütung von Arbeitsunfällen. Hier ist es wesentlich dem konsequent gestalteten dualen Arbeitsschutz zu verdanken, dass - um nur eine Zahl zu nennen - die Zahl tödlicher Arbeitsunfälle in den vergangenen 40 Jahren um über 80 Prozent verringert werden konnte.

Drittens. Trotz vorrangiger Bedeutung struktureller Maßnahmen kann die Ärzteschaft einen wesentlichen Beitrag zur Senkung von Verletzungsrisiken leisten. Bei folgenden Arbeitsgruppen kommt der Ärzteschaft eine besondere Verantwortung zu: erstens bei Säuglingen und Kleinkindern bezüglich der Verringerung der Zahl von Verletzungen im Haus und in häuslicher Umgebung sowie bezüglich der Verringerung der Zahl von Verkehrsunfällen, zweitens bei Adoleszenten und jungen Erwachsenen bezüglich der Verringerung der Zahl von Sport- und Verkehrsunfallrisiken sowie drittens bei älteren Patientinnen und Patienten hinsichtlich einer Verringerung der Zahl von Stürzen im Haus sowie der Zahl von Verkehrsunfällen.

Zum Thema Sturzunfälle soll hier lediglich eine Angabe genügen: Jedes Jahr ereignen sich bei der über 65 Jahre alten deutschen Bevölkerung etwa eine halbe Million Stürze in Haus, Umgebung und Freizeit, die ärztlich versorgt werden müssen.

Es sind fünf Elemente ärztlichen Handelns, die bei der Verletzungsprävention in unterschiedlicher Gewichtung zum Einsatz gelangen:

Ich nenne erstens die anamnestische Risikoabschätzung: Welche Personen sind besonders gefährdet und durch welche Umstände? Hier reicht das Spektrum von der Erkundung unfallträchtiger häuslicher Gegebenheiten bei Eltern von Säuglingen und Kleinkindern bis hin zur Erhebung des Sturzrisikos im Alter durch behandelnde niedergelassene und im Krankenhaus tätige Ärztinnen und Ärzte.

Ich erwähne zweitens die diagnostische Untersuchung. Im Vordergrund stehen hier Maßnahmen wie die Überprüfung der Fahrtüchtigkeit älterer Verkehrsteilnehmer oder die Visusprüfung sowie der Balance- und Mobilitätstest bei sturzgefährdeten Älteren.

Das dritte Element ist das ärztliche Beratungsgespräch. Diesem Aspekt ärztlicher Präventionsarbeit kommt höchste Bedeutung zu. Denken Sie daran: Eine qualifizierte ärztliche Beratung kann unter Umständen Leben retten.

Ich nenne viertens die ärztliche Verordnung. Unter Umständen sind bereits zu präventiven Zwecken ärztliche Verordnungen erforderlich. Wiederum ist hier in erster Linie an ältere Bevölkerungsgruppen zu denken, beispielsweise an die Änderung der Medikation zur Verringerung der Sturzgefahr. Immerhin sind nach neuen Untersuchungen Medikamenteneinflüsse an jedem vierten Sturz bei Älteren mit beteiligt.

Das fünfte Element schließlich ist die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen. Die Reichweite mancher präventiven Maßnahmen geht notwendigerweise über die Praxis des einzelnen niedergelassenen Arztes und über das einzelne Krankenhaus hinaus. Ärzte werden aufgefordert, mit Vertretern derjenigen Berufsgruppen verstärkt zusammenzuarbeiten, die noch näher als sie mit den Verletzungsgefahren im Alltag konfrontiert sind, beispielsweise die Lehrerschaft, die Verkehrsbehörden und die Sozialarbeiter, zu deren Arbeit aufsuchende Dienste gehören.

Bereits aus diesen kurzen Hinweisen ist deutlich geworden, welche wichtige Rolle die Ärzteschaft bei der Prävention von Verletzungen spielen kann und spielen soll.

Lassen Sie mich in einem letzten und vierten Punkt das Fazit unserer Ausführungen ziehen:

Viertens. Die Stärkung der Rolle der Ärzteschaft bei der Prävention von Verletzungen erfordert strukturelle Verbesserungen auf den Ebenen der Aus- und Fortbildung, der Vergütung und der professionsübergreifenden Zusammenarbeit.

Als einen besonders geeigneten Weg zur Umsetzung dieser strukturellen Verbesserungen betrachten wir die engagierte Mitarbeit der deutschen Ärzteschaft an einem von uns geforderten nationalen Unfallpräventionsprogramm. Ein solches Programm hat verschiedene Aufgaben. Erstens soll es zur Entwicklung einer qualitätsgesicherten, einheitlichen Datenlage bezüglich des Unfallgeschehens in Deutschland beitragen, unter anderem auch durch Einrichtung eines Traumaregisters. Zweitens soll es als eine Art Clearinghouse erfolgreiche internationale Präventionsprogramme dokumentieren und an entsprechenden Umsetzungen mitwirken. Schließlich hat es die Funktion, die vorhandenen Programme sinnvoll aufeinander abzustimmen und neue Aktivitäten zur Verhütung von Verletzungen zu planen.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich hoffe, verdeutlicht zu haben, dass Sie uns, die Unfallmediziner und Public-Health-Experten, die diesen Bericht und die aus ihm hervorgehenden Folgerungen erarbeitet haben, nicht als eine weitere Bürde angesichts steigender Lasten erleben, sondern als Partner, die Sie in Ihren wertvollen Bemühungen um den Erhalt und die Verbesserung der Gesundheit unserer Bevölkerung unterstützen.

Vielen Dank.

(Beifall)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident:

Vielen Dank, Herr Siegrist, für Ihren Bericht. Ich habe eine Frage zu diesem Ranking hinsichtlich der Unfalltoten, das von Schweden bis Portugal reichte. Handelt es sich hierbei nur um Straßenverkehrsunfälle? Oder sind auch andere Verkehrsmittel gemeint? Ich könnte mir vorstellen, dass, wenn in Großbritannien die Eisenbahn mit berücksichtigt würde, die Zahlen etwas schlechter aussähen.

Prof. Dr. Siegrist, Referent:

Das betraf in der Tat nur die Straßenverkehrsunfälle.

Prof. Dr. Hoppe, Präsident:

Man müsste dabei eigentlich auch die Zahl der gefahrenen Kilometer berücksichtigen.

Nochmals vielen herzlichen Dank. Es gibt zu diesem Thema den Antrag V-2 des Vorstands der Bundesärztekammer, der als Anlage den vollständigen Bericht enthält. Zu dem Bericht hat Herr Kollege Schilling aus Berlin den Änderungsantrag V-2 a gestellt. Außerdem hat er ums Wort gebeten. Bitte schön.

© 2001, Bundesärztekammer.