Eröffnungsveranstaltung

Dienstag, 28. Mai 2002, 10.00 Uhr

Dr. Martina Bunge (MdL), Sozialministerin des Landes Mecklenburg-Vorpommern:

Sehr geehrter Herr Präsident Professor Hoppe! Sehr geehrter Herr Dr. Crusius! Sehr geehrte Frau Kollegin Ministerin Ulla Schmidt! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf Sie - auch im Namen des Ministerpräsidenten Dr. Harald Ringstorff und der gesamten Landesregierung - hier in Mecklenburg-Vorpommern ganz herzlich begrüßen.

Mit Genugtuung nehme ich zur Kenntnis, dass Sie sich dieses rot-rot regierte Land als Tagungsstätte des 105. Deutschen Ärztetages auserkoren und die Reise hierher gewagt haben. Und ich versichere Ihnen: Sie werden auch mich, die erste PDS-Ministerin in Deutschland, gesund überstehen.

(Beifall)

Mecklenburg-Vorpommern tut gut; das ist ein Schlachtruf unsererseits. Und das gilt nicht nur für den Bereich der Gesundheit. Das Land ist attraktiv für Unternehmen. Sie siedeln sich hier an. Ich nenne als Beispiele unweit dieser Tagungsstätte die Firmen Caterpillar und Nordex. Modernste Windkraftanlagen entstehen hier, die Fischverarbeitung in Saßnitz/Mukran, die Holzbranche in Wismar expandieren, überall im Land entstehen Unternehmen der Biotechnik und der Biomedizin, wir haben ein BioCon Valley gegründet.

Sicher haben wir mit einer hohen Arbeitslosigkeit zu kämpfen, die auch unsere Sozialkassen überbordend belastet. Doch wir müssen einkalkulieren, dass mit dem traditionellen Schiffsbau und der Landwirtschaft zu DDR-Zeiten äußerst arbeitsintensive Branchen nach der Wende durch Rationalisierung und Orientierung an EU-Vorgaben massenhaft Arbeitskräfte freisetzten und andererseits die Hightechbranchen nur wenige hoch spezialisierte Fachleute brauchen.

Wir setzen daher vor allem auch auf den Tourismus. Seit Jahren boomt er. Mit Bayern legen wir in einem Kopf-an-Kopf-Rennen, wer Urlaubsland Nummer eins wird. Wir setzen mit unseren natürlichen Ressourcen, mit sauberer Luft und klarem Wasser, mit unversiegelten Landschaften mit sanften Hügeln, mit weiten Feldern und Wäldern, mit der größten zusammenhängenden Seenlandschaft Europas und 354 Kilometern Ostseestrand auf Gesundheitstourismus und gehen dabei auch manch unkonventionellen Weg.

Von diesem unkonventionellen Denken könnte meines Erachtens das Gesundheitssystems Deutschlands für Reformen mehr gebrauchen. Nicht, dass Sie uns missverstehen: Unkonventionell heißt für mich nicht, alles bisher Praktizierte über Bord zu werfen. Ich gehöre einer Partei an, von der die Bevölkerung zu Recht ein besonderes Engagement für die sozialen Sicherungssysteme erwarten kann. Die gesetzliche Sozialversicherung zur Absicherung von Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit ist für mich nichts Altmodisches, sondern eine der wichtigsten Errungenschaften der Zivilgesellschaft.

(Beifall)

Die solidarische Sicherung muss verteidigt, aber auch zukunftssicher gemacht werden.

Mit mir kann man über alles reden, wenn wir auf einem Grundkonsens über die drei tragenden Prinzipien der sozialen Krankenversicherung aufbauen:

Erstens. Die soziale Krankenversicherung sollte auch in Zukunft alle medizinisch notwendigen Leistungen, auch den medizinischen Fortschritt, zur Verfügung stellen.

Zweitens. Ich vertrete ausdrücklich das Ziel einer aufgabenorientierten Ausgabenpolitik und nicht einer einnahmeorientierten Ausgabenpolitik. Das hat natürlich weitreichende Anforderungen an die Einnahmesituation zur Folge.

(Beifall)

Drittens. Die gesetzliche Krankenversicherung muss als Pflichtversicherung kontinuierlich auf wirtschaftliche Leistungserbringung orientiert sein.

Deshalb werde ich mich beispielsweise hier im Land unnachgiebig für eine bedarfsgerechte, aber zugleich wirtschaftliche Verschreibungsweise bei den Arzneimitteln bemühen, um den exorbitanten Steigerungen Einhalt zu gebieten, sei es mit Zielvereinbarungen oder auch Richtgrößenprüfungen. Zugleich frage ich: Muss es in Deutschland weiterhin an die 50 000 Arzneimittel geben? Weshalb kommen andere entwickelte Industriestaaten mit 10 000 und 15 000 aus? Wem gegenüber sind die Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitiker verpflichtet: dem Versicherten oder der Pharmaindustrie?

Auch ich frage mich: Wie weit kann der Wettbewerb zwischen den Kassen bei einem eigentlich einheitlichen Leistungsanspruch der Versicherten gehen? Er erschöpft sich eigentlich im Streben um Qualität. Doch brauchen wir dazu über 500 Kassen?

(Beifall)

Warum trennen wir immer noch so stark den ambulanten vom stationären Bereich? Hier sitzen die Akteurinnen und die Akteure beider Bereiche in trauter Runde, haben ähnliche Probleme. Warum lassen sich Kooperationen so unsäglich schwer durchsetzen?

(Beifall)

So wie ich vehement auf eine optimale Leistungserbringung dränge, sage ich zugleich: Medizinischer Fortschritt hat seinen Preis, kostet Geld; zum Nulltarif ist er nicht zu haben.

(Beifall)

Die Forderung "Mehr Geld ins System" darf kein Tabu bei künftigen Reformen sein.

(Beifall)

Ich meine: Auch hier dürfen wir nicht konventionell bei den Fragen zum Beispiel nach der Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze oder der Verbreiterung der Beitragsbezugsgröße stehen bleiben, so überfällig die Antworten auf diese Fragen sind. Wir sollten beispielsweise auch darüber diskutieren, ob es nicht besser wäre, bei der Beitragserhebung den Arbeitgeberanteil vom Lohnsummenbezug auf die Wertschöpfung umzustellen, um damit an die wirkliche Leistungskraft der Unternehmen anzuknüpfen. Das brächte mehr Geld ins System und zugleich mehr Gerechtigkeit zwischen kleinen und großen, arbeits- und kapitalintensiven Unternehmen.

Die Auseinandersetzungen zwischen Politik und Ärzteschaft vermittelten in den letzten Wochen und Monaten manchmal den Eindruck, als ob wir in unterschiedlichen Welten in weit voneinander entfernten Galaxien lebten. Ich meine: Eine Verweigerungshaltung darf es auf keiner Seite geben. Und keines der von der Politik geprägten Vorhaben ist in der Realität gegen die Ärzteschaft umzusetzen.

(Beifall)

Ich wünsche mir manchmal mehr Mut zu Entscheidungen. Sie, sehr geehrte Frau Ministerin, haben in Ihrer bisherigen Amtszeit unzweifelhaft einiges auf den Weg gebracht und vor allem, was nicht hoch genug einzuschätzen ist, das Solidarprinzip verteidigt. Viele wichtige Weichenstellungen stehen aber noch aus.

Wir erleben gerade in den neuen Ländern und gerade in den letzten Monaten sehr intensiv die Diskussion um einen sich abzeichnenden Ärztemangel. Der Osten ist in dieser Hinsicht besonders betroffen. Immer noch wird die Lebenssituation hier in den neuen Ländern von vielen Menschen im Vergleich mit den alten Ländern als weniger attraktiv empfunden. Immer noch bestehen infrastrukturelle Unterschiede, immer noch werden die Entwicklungschancen für die eigene Person in den alten Bundesländern als besser eingeschätzt. In den zurückliegenden Jahren konnte dieser Nachteil kompensiert werden, weil es ein gutes, zum Teil sogar ein reichliches Angebot an Ärztinnen und Ärzten gab. Das hat sich mittlerweile spürbar geändert. Immer wieder werden mir Nachbesetzungsprobleme bei den Kliniken in unserem Lande genannt. Arztpraxen müssen aufgegeben werden, ohne dass es einen Praxisnachfolger gibt. Das ist selbst in den schönsten Urlaubsregionen so.

Wir haben sicher nicht einen Ärztenotstand. Die Versorgung der Bevölkerung ist im Wesentlichen gesichert. Das Problem liegt in Mecklenburg-Vorpommern wie auch in den anderen neuen Bundesländern allerdings darin, dass wir in wenigen Jahren einen grundlegenden Generationenwechsel zu bewältigen haben. Fast ein Drittel der niedergelassenen Hausärzte erreicht in unserem Lande in den nächsten fünf Jahren das Ruhestandsalter. Das ist kein Problem der Einheit, sondern die Ursache liegt viel weiter zurück. Das hängt mit dem Bau der Mauer zusammen.

Gleichzeitig ist mit der Einführung der Fallpauschalen im Krankenhausbereich und der deshalb zu erwartenden Verkürzung der Verweildauern der Patientinnen und Patienten in den Kliniken sowie mit der Einführung der Disease-Management-Programme mit steigenden Anforderungen zu rechnen.

Sowohl der Ärzteschaft im stationären Bereich als auch der Ärzteschaft im niedergelassenen Bereich wird in den nächsten Jahren Besonderes abverlangt. Und genau in dieser Situation gelingt es in Deutschland insgesamt und ganz besonders im Osten immer weniger, junge Ärztinnen und Ärzte für den eigentlichen Kernbereich ärztlicher Tätigkeit zu gewinnen.

Deshalb haben wir bei uns im Lande gemeinsam die Initiative ergriffen. Das besondere Engagement von Herrn Dr. Crusius, der ja gleichzeitig Vizepräsident der Bundesärztekammer ist, möchte ich an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen. Es gibt als Ergebnis dieser Gespräche eine ganze Reihe von Handlungsschritten, die unternommen worden sind und die bereits auf den Weg gebracht wurden.

Im Krankenhausbereich stehen vor allen Dingen die Arbeitszeiten in der Kritik. Die Ärzteschaft führt Beschwerde über lange, familien- und sozialfeindliche Dienstzeiten. Sie wirft den Arbeitgebern rechtswidriges Verhalten vor und fordert die Aufsichtsbehörden zu mehr Kontrollen auf. Die Arbeitgeber hingegen halten eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Ärzte für nicht finanzierbar und verweisen auf die starren Bedingungen der Budgetierung.
Ich glaube, die Wahrheit liegt hier irgendwo in der Mitte. Natürlich haben die Budgetierungsmaßnahmen der letzten Jahre den Partnern wenig Spielraum geboten. Auch der Aufschlag zum Gesamtbudget aus dem Fallpauschalengesetz in Höhe von 0,2 Prozent ist nicht viel mehr als ein Signal.

(Beifall)

Das Simap-Urteil des Europäischen Gerichtshofes hat die Diskussion zusätzlich angeheizt. Die rechtlichen Einschätzungen der Interessenvertreter der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber sowie der Behörden divergieren erheblich. Entscheidungen deutscher Arbeitsgerichte sind zwar widersprüchlich und noch nicht rechtskräftig, sie bestätigen aber überwiegend die Anwendung des EuGH-Urteils auch in Deutschland.

(Beifall)

Dies erzeugt Rechtsunsicherheit bei Krankenhausträgern, Beschäftigten und Personalvertretungen. Jederzeit ist mit weiteren Klagen zu rechnen.

Wie andere Länder auch habe ich deshalb in den vergangenen Monaten Schwerpunktaktionen im Bereich des Arbeitsschutzes durchführen lassen und verstärkt Beratungen durchgeführt.

Natürlich sind die Rufe nach einem Ende der fantasielosen Budgetierungspolitik und nach zusätzlichen Stellen auch bis zu mir vorgedrungen. Weder zusätzliches Entgelt noch massenhaft zusätzliche Ärztinnen und Ärzte können jedoch wirklich ernsthaft als Problemlösung ins Feld geführt werden. Beides ist schlicht nicht vorhanden. An einer grundlegenden Auseinandersetzung über die Neuorganisation von Arbeitszeiten werden die Tarifpartner in diesem Bereich meines Erachtens nicht vorbeikommen.

(Beifall)

Für den Bereich der niedergelassenen Ärzteschaft kann der Generationenwechsel nur bewältigt werden, wenn die Versorgung der Bevölkerung durch ein Maßnahmenbündel von allen Beteiligten gesichert wird. Als Sozialministerin erwarte ich, dass es nicht nur den Ruf nach der Politik gibt, sondern dass sich alle Beteiligten im Rahmen ihrer Zuständigkeiten an der Realisierung der erforderlichen Maßnahmen beteiligen.

Der Auftrag zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung liegt nach dem Gesetz bei der Kassenärztlichen Vereinigung. Sie trägt weiterhin die Verantwortung für die ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten. Unerlässliche Weichenstellungen auch finanzieller Art müssen deshalb innerhalb der Selbstverwaltung der Kassenärztlichen Vereinigung gegebenenfalls im Zusammenwirken mit den Krankenkassen getroffen werden.

Als Stichworte nenne ich nur: den Ausbau des Programms zur Förderung der Weiterbildung in der Allgemeinmedizin; die Zusage von Zuschüssen für die
Übernahme von Praxen und Bürgschaften für Praxisinvestitionen; eine dringend erforderliche Landarztzulage; die Verbesserung der wirtschaftlichen Eckpunkte für die Anstellung von Ärztinnen und Ärzten in unterversorgten Gebieten; die Erneuerung poliklinischer Einrichtungen; die Verbesserung der finanziellen Rahmenbedingungen für den kassenärztlichen Notdienst, aber auch die verstärkte Ermächtigung von Krankenhausärztinnen und -ärzten zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung und damit die Bildung von integrativen Einrichtungen an Krankenhäusern, was gerade für unser dünn besiedeltes Flächenland wichtig ist.

Ich habe dazu gerade erst in der letzten Woche einen Maßnahmenkatalog vorgelegt. Das alles kann und wird helfen, die Probleme in diesem Bereich zu lindern.

Allerdings sind auch flankierende gesetzgeberische und politische Aktivitäten unverzichtbar. Bereits jetzt steht fest, dass die vom Gesetz geforderte Frist, nach der bereits zum 1. Januar 2006 nur noch Allgemeinmediziner als Hausärzte zugelassen werden sollen, nicht realisiert werden kann, zumal gerade bis dahin eine große Zahl frei werdender Kassenarztsitze in dieser Facharztrichtung zu besetzen sind. Hier sind durch den Gesetzgeber Handlungsoptionen in Gestalt weitergehender Übergangsbestimmungen zu prüfen. Dies ist umso wichtiger, als gerade der hausärztlichen Tätigkeit des Facharztes für Allgemeinmedizin in Zukunft im Gesundheitswesen eine wichtige Lotsenfunktion zukommen soll.

Unverzichtbar und essenziell für die Weiterentwicklung ist aber auch, dass den Niederlassungswilligen in den neuen Bundesländern eine kalkulierbare einkommensmäßige Perspektive eröffnet wird.

(Beifall)

Ich habe dies auf dem Ostdeutschen Kassenärztetag des letzten Jahres gesagt und ich habe es auch dem Ostdeutschen Kassenärztetag dieses Jahres übermittelt. Ich sage es auch hier und heute: Ein und dieselbe Leistung im Osten muss genauso vergütet werden wie die im Westen!

(Beifall)

Mir ist diese Aussage nicht leicht gefallen, da ich ja auch für die Krankenkassen Verantwortung trage. Ich weiß selbstverständlich auch, wie schwierig diese Diskussion angesichts der realen Finanzströme in der gesetzlichen Krankenversicherung sein wird. Trotzdem glaube ich, dass es hier erheblichen Handlungsbedarf gibt. Gerade deshalb habe ich eingangs auch für die unkonventionellen Wege im Einnahmenbereich geworben. Wenn wir hier jetzt nicht erkennbare Signale setzen, werden wir es in den nächsten Jahren nicht schaffen, die Versorgung in den neuen Ländern zu sichern und den Generationenwechsel zu bewältigen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, gerade in diesem Punkt hoffe ich darauf, dass zugunsten einer solchen Entwicklung auch ein Signal von diesem Ärztetag ausgeht. Behalten Sie uns hier in den neuen Ländern und natürlich uns hier in Mecklenburg-Vorpommern ganz besonders im Auge und in möglichst guter Erinnerung.

Ich wünsche Ihnen alles Gute und ertragreiche Beratungen hier in Rostock.

(Beifall)


© 2002, Bundesärztekammer.