TOP II : Individualisierung oder Standardisierung in der Medizin?

2. Tag: Mittwoch, 29. Mai 2002 Vormittagssitzung

Prof. Dr. Kossow, Niedersachsen:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die von den Kollegen Kolkmann, Encke und Jonitz angesprochenen Probleme und Konflikte zwischen Normung und Individualisierung in der Medizin sind nicht leicht zu lösen. Das zeigt uns zunächst ein Blick in die Geschichte. Schon seit dem Mittelalter begleiten uns andere Fakultäten wie die Theologen und die Juristen bei dem Versuch, diese Probleme in den Griff zu bekommen. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert tun dies in nennenswertem Umfang auch die Naturwissenschaften, die uns das Messen und die Anwendung der Mathematik gelehrt haben, auch beim einzelnen Patienten. Denken Sie an das Ohm'sche Gesetz.

Seit gut 100 Jahren haben die Gesellschaftswissenschaften im weitesten Sinne, also die Soziologie, die Politologie, die Ökonomie und die Bevölkerungs- und Gesundheitswissenschaften einschließlich der hygienischen Betrachtungen im Rahmen der Politologie in die Medizin gedrängt. Letzteres war, was die Bevölkerungswissenschaften angeht, immer auch mit politischen Ideologien verbunden. Am schlimmsten haben wir das zur Zeit des Nationalsozialismus erlebt.

Weil dies so ist und weil dies vermutlich wegen der Ansprüche von gesellschaftlichen Gruppierungen an die Medizin auch so bleiben wird, sind wir gut beraten, bei der Erstellung von Leitlinien zunächst zu differenzieren zwischen dem individualmedizinischen Handlungsauftrag, der immer an denjenigen geht, der vom Patienten oder vom Klienten diesen Auftrag bekommt, also an den Arzt, den Psychologen, den Heilpraktiker, die Krankenschwester, wer immer es sein mag, und dem bevölkerungsmedizinischen Ansatz, der sich immer an statistisch beschriebene Kollektive wendet.

Man muss ganz klar sehen: Es gibt Wissenschaften, die sehen als Bestandteil ihrer inneren Ordnung das Individuum, wie beispielsweise die Theologie oder die Juristen mit der Einzelfallbetrachtung. Es gibt andere Wissenschaften, die sehen das Individuum unter bestimmten Bedingungen, beispielsweise die Naturwissenschaften, aber auch unter anderen Bedingungen; wenn sie allgemein physikalisch abgeleitete Gesetze betrachten, schon nicht mehr. Es gibt ferner eine große Gruppe von Wissenschaften, die sehen das Individuum systemimmanent unter gar keinen Umständen. Dazu gehören die Soziologie, die Politologie, die Ökonomie, Public Health, Bevölkerungs- und Gesundheitswissenschaften. Sie klammern zumindest wichtige Teilaspekte des Individuums aus, weil sie anhand von eindeutig mathematisierbaren, objektivierbaren Einzelparametern Statistiken erstellen. Statistiken wiederum unterliegen einem systemimmanenten Grundsatz, nämlich dem Grundsatz, den Einzelfall nicht zu sehen. Sie machen keine Aussagen für den Einzelfall. Wenn Sie das nicht glauben, gehen Sie in Warnemünde zur Spielbank und versuchen Sie die Voraussage des nächsten Einsatzes. Sie können sich sehr schnell durch eine solche Statistikmaschine davon überzeugen, dass es das achte Mal nicht klappt, selbst wenn Sie siebenmal hintereinander gewonnen haben; selbst wenn Sie hundertmal gewonnen haben, klappt es das 101. Mal nicht. Das heißt, Statistiken sind nicht tauglich für Einzelfallprobleme. Das ist ein Grundgesetz.
Deswegen haben statistisch abgeleitete Regeln keinen Anspruch, im Einzelfall absolut begründet zu werden. Es ist richtig, dass wir, wie es Herr Kolkmann, Herr Encke und Herr Jonitz gesagt haben, diese Versuche zurückweisen. Es muss aus denkgesetzlichen Gründen geschehen, diese Versuche zurückzuweisen.

Das bedeutet nun nicht, dass wir damit politologische, soziologische und ähnliche Betrachtungen in der Medizin zukünftig vergessen könnten. Das bedeutet nur, dass wir sie im individualmedizinischen Teil der Medizin vergessen können. Um welchen Teil handelt es sich dabei? Es geht um all jene ärztlichen, pflegerischen und betreuerischen Maßnahmen, die danach zu fragen haben, wenn sie Patientenprobleme lösen wollen: Was wollen die Patientinnen und Patienten, wenn sie sich an einen Betreuer oder an einen Arzt wenden? Welche subjektiven und objektiven Risiken haben die Patientinnen und Patienten, beispielsweise subjektive Risiken im Verhalten, weil sie zu viel rauchen oder zu viel essen, oder objektive Risiken, weil sie mit Risikofaktoren geboren sind?

Nach den Antworten auf diese Fragen kommt das dritte Fragenbündel: Was können diese Patientinnen und Patienten, Klientinnen und Klienten selbst tun, um ihre Probleme zu lösen? Wir wollen ja die Patienten befähigen, selber etwas zu tun. Das ist bei dem einen viel, bei dem anderen wenig. Schon deshalb ergibt sich, dass eine Leitlinie auf statistischer Grundlage, die eine allgemeinverbindliche Norm zu formulieren trachtet, ins Leere läuft, nämlich weil der eine sie erfüllen kann, der andere nicht.

Das vierte Fragenbündel lautet: Was müssen wir als Professionelle, als Ärzte, als Weißkittel für solche Menschen tun, weil sie mit bestimmten selbst gesetzten Zielen und mit bestimmten Risiken, die sie mitbringen, ohne dass sie etwas dafür können, nicht allein fertig werden? Erst dann fängt im Grunde genommen die rationale, die mathematisierbare Medizin an. Dann müssen wir nämlich für alle diese Menschen das tun, was wissenschaftlich abgesichert ist nach wissenschaftlichen so genannten evidenzbasierten Regeln. Wenn wir diese Regeln abgearbeitet haben und das Problem gelöst ist, können wir uns glücklich schätzen. Ist das Problem aber nicht gelöst, dürfen wir auch alles tun, was uns sonst noch so einfällt, natürlich im Rahmen des ökonomisch Möglichen. Ökonomische Grenzen hat es immer gegeben und wird es immer geben.

Die Frage ist nur, ob man diese Grenzen setzt, bevor alles andere in der Medizin anfängt, oder ob man diese Grenzen setzt, nachdem man gemerkt hat, dass die Mittel für alles, was man gern noch täte, nicht ausreichen. Das Setzen von Grenzen vor der Tat ist unter Umständen unsittlich. Das Setzen der Grenzen, nachdem man während der Tat gemerkt hat, dass die Mittel nicht ausreichen, muss unter Umständen akzeptiert werden. Man kann es durchaus auch in Leitlinien schreiben, wenn hier regelhafte Vorgänge ablaufen. Professor Hardt aus Bremen hat dazu differenziert zwischen medizinischen Leitlinien, in die alles gehört, was evidenzbasierte Medizin mit medizinisch-wissenschaftlichen Möglichkeiten zu tun erlaubt, und den Versorgungsleitlinien, in die alles hineingehört, was einer Volkswirtschaft, einer Versichertengemeinschaft oder einer sonstigen Gemeinschaft von Individuen zu finanzieren möglich ist.

Ich komme jetzt zu dem Begriff Managementkunde, der auch von Herrn Encke angesprochen wurde. Hier ist zu unterscheiden zwischen individualmedizinischen Problemen, Case-Management-Problemen, die immer Sache desjenigen sind, der den Patientenauftrag zu erfüllen hat, und statistischen Disease-Management-Problemen, die durchaus mit bevölkerungsmedizinischen Maßnahmen wie beispielsweise Fernsehprogrammen abgearbeitet werden können.

Es ist auch den Krankenkassen nicht verboten, Erkenntnisse statistisch zu gewinnen und dann in Informationen zur Gesundheitspflege für ihre Versicherten umzuwandeln.

All dieses kann man auch in Leitlinien schreiben. Dazu möchte ich mich nicht weiter äußern, weil ich mich, was die Erstellung von Leitlinien angeht, bei der Ärztlichen Zentralstelle für Qualitätssicherung ganz gut aufgehoben fühle. Diese hat ja erstmals im Oktober 1998 im "Deutschen Ärzteblatt" einen Grundsatzartikel veröffentlicht, wie sie mit der Leitlinienerstellung umzugehen trachtet.

Ich bin allerdings traurig, dass ich in dieser nationalen Leitlinie die Mitwirkung der Allgemeinärzte nicht dokumentiert finde. Es ist ziemlich bizarr, beim Diabetes vom Typ II, also einer Erkrankung, die zu 80 Prozent in hausärztlichen Praxen versorgt wird, die wissenschaftliche Allgemeinmedizin bei der Erstellung der Leitlinie zu übergehen. Aber das kann man ja in der nächsten Auflage ändern.

Entscheidend ist, dass bei dieser Leitlinie die Gefahr offenbar geworden ist, dass die Ärztliche Zentralstelle für Qualitätssicherung ihre im Herbst 1998 selbst erstellten Grundsätze aufweicht. Das wiederum ist natürlich eine Gefahr für die Abwehr der Case-Management-Ansprüche der Krankenkassen, wie wir sie kürzlich vernehmen konnten.

Zu den wichtigen Grundsätzen der ÄZQ gehörte: Erstens. Alle an einem Patientenproblem beteiligten Fachkreise müssen bei der Erstellung der Leitlinie mitwirken. Zweitens. Die Leitlinie muss in dem Bereich, in dem sie angewendet wird, mit statistischen Methoden evidenzbasiert werden.

Beide Grundsätze sind in diesem Fall nicht beachtet worden, sondern man hat Leitlinien aus dem Ausland zugrunde gelegt und Selektivarbeiten aus dem Inland. Das ist im Prinzip so nicht zulässig, sondern wenn man bevölkerungsmedizinische Ansätze propagiert und eine Leitlinie wie die zum Diabetes Typ II propagiert, auch bevölkerungsmedizinische Ansätze, muss man an einer repräsentativen Stichprobe der zu behandelnden Bevölkerung diese Leitlinie überprüfen und das Ergebnis dieser Überprüfung zur generellen Anwendung propagieren, dabei die Schnittstellen definieren und das Evaluationssystem definieren und natürlich auch den zeitlichen Ablauf. Letzteres ist bei der hier vorliegenden Leitlinie dankenswerterweise geschehen.

Nicht vorgenommen hat man allerdings eine differenzierende Bewertung der unterschiedlichen Therapieansätze. Da gibt es gut erprobte, entwicklungsgeschichtlich alte wie beispielsweise die Insulinanwendung. Diese Therapieansätze sind nicht mit dem Nutzen-Risiko-Profil bewertet. So etwas gehört aber als Minimum in eine Leitlinie, weil sie anderenfalls ihrer Orientierungsfunktion nicht gerecht wird.

Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt keine weiteren Ausführungen machen, obwohl es noch einige Dinge zu bemerken gäbe. Aber diese Ergänzungen schienen mir gleichwohl wichtig.

Vielen Dank.

(Beifall)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Vielen Dank, Herr Kossow. - Es gibt einen Geschäftsordnungsantrag - ich bin ganz sicher, nicht wegen des Redebeitrags von Herrn Kossow - auf Be-grenzung der Redezeit auf fünf Minuten.

(Zuruf: Drei Minuten!)

- Drei Minuten sind der weitergehende Antrag. Gibt es eine Gegenrede? - Formal. Wer möchte die Begrenzung der Redezeit auf drei Minuten? - Wer ist dagegen? - Ich glaube, das Erste war die Mehrheit.

(Widerspruch)

- Dann stimmen wir noch einmal ab. Ich kann das gut verstehen; es ist ja wichtig.

(Zuruf)

- Wir können auch alternativ abstimmen; einverstanden. Wer ist für drei Minuten? - Wer ist für fünf Minuten? - Noch einmal bitte: Wer ist für drei Minuten? - Wer ist für fünf Minuten? - Ich glaube, das Erste war die Mehrheit.

(Erneuter Widerspruch)

- Dann zählen wir. Ich müsste ja auch noch fragen, wer überhaupt keine Begrenzung der Redezeit haben möchte. Auch das gibt es ja. - Herr Henke macht gerade den Vorschlag: vier Minuten.

(Beifall)

Wer ist für vier Minuten? - Das ist eindeutig. Die Redezeit ist also auf vier Minuten begrenzt.
Als nächster Redner bitte Herr Baumgärtner aus Baden-Württemberg.

© 2002, Bundesärztekammer.