Prof. Dr. Kossow, Niedersachsen:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
von den Kollegen Kolkmann, Encke und Jonitz angesprochenen Probleme
und Konflikte zwischen Normung und Individualisierung in der Medizin
sind nicht leicht zu lösen. Das zeigt uns zunächst ein
Blick in die Geschichte. Schon seit dem Mittelalter begleiten uns
andere Fakultäten wie die Theologen und die Juristen bei dem
Versuch, diese Probleme in den Griff zu bekommen. Spätestens
seit dem 18. Jahrhundert tun dies in nennenswertem Umfang auch die
Naturwissenschaften, die uns das Messen und die Anwendung der Mathematik
gelehrt haben, auch beim einzelnen Patienten. Denken Sie an das
Ohm'sche Gesetz.
Seit gut 100 Jahren haben die Gesellschaftswissenschaften im weitesten
Sinne, also die Soziologie, die Politologie, die Ökonomie und
die Bevölkerungs- und Gesundheitswissenschaften einschließlich
der hygienischen Betrachtungen im Rahmen der Politologie in die
Medizin gedrängt. Letzteres war, was die Bevölkerungswissenschaften
angeht, immer auch mit politischen Ideologien verbunden. Am schlimmsten
haben wir das zur Zeit des Nationalsozialismus erlebt.
Weil dies so ist und weil dies vermutlich wegen der Ansprüche
von gesellschaftlichen Gruppierungen an die Medizin auch so bleiben
wird, sind wir gut beraten, bei der Erstellung von Leitlinien zunächst
zu differenzieren zwischen dem individualmedizinischen Handlungsauftrag,
der immer an denjenigen geht, der vom Patienten oder vom Klienten
diesen Auftrag bekommt, also an den Arzt, den Psychologen, den Heilpraktiker,
die Krankenschwester, wer immer es sein mag, und dem bevölkerungsmedizinischen
Ansatz, der sich immer an statistisch beschriebene Kollektive wendet.
Man muss ganz klar sehen: Es gibt Wissenschaften, die sehen als
Bestandteil ihrer inneren Ordnung das Individuum, wie beispielsweise
die Theologie oder die Juristen mit der Einzelfallbetrachtung. Es
gibt andere Wissenschaften, die sehen das Individuum unter bestimmten
Bedingungen, beispielsweise die Naturwissenschaften, aber auch unter
anderen Bedingungen; wenn sie allgemein physikalisch abgeleitete
Gesetze betrachten, schon nicht mehr. Es gibt ferner eine große
Gruppe von Wissenschaften, die sehen das Individuum systemimmanent
unter gar keinen Umständen. Dazu gehören die Soziologie,
die Politologie, die Ökonomie, Public Health, Bevölkerungs-
und Gesundheitswissenschaften. Sie klammern zumindest wichtige Teilaspekte
des Individuums aus, weil sie anhand von eindeutig mathematisierbaren,
objektivierbaren Einzelparametern Statistiken erstellen. Statistiken
wiederum unterliegen einem systemimmanenten Grundsatz, nämlich
dem Grundsatz, den Einzelfall nicht zu sehen. Sie machen keine Aussagen
für den Einzelfall. Wenn Sie das nicht glauben, gehen Sie in
Warnemünde zur Spielbank und versuchen Sie die Voraussage des
nächsten Einsatzes. Sie können sich sehr schnell durch
eine solche Statistikmaschine davon überzeugen, dass es das
achte Mal nicht klappt, selbst wenn Sie siebenmal hintereinander
gewonnen haben; selbst wenn Sie hundertmal gewonnen haben, klappt
es das 101. Mal nicht. Das heißt, Statistiken sind nicht tauglich
für Einzelfallprobleme. Das ist ein Grundgesetz.
Deswegen haben statistisch abgeleitete Regeln keinen Anspruch, im
Einzelfall absolut begründet zu werden. Es ist richtig, dass
wir, wie es Herr Kolkmann, Herr Encke und Herr Jonitz gesagt haben,
diese Versuche zurückweisen. Es muss aus denkgesetzlichen Gründen
geschehen, diese Versuche zurückzuweisen.
Das bedeutet nun nicht, dass wir damit politologische, soziologische
und ähnliche Betrachtungen in der Medizin zukünftig vergessen
könnten. Das bedeutet nur, dass wir sie im individualmedizinischen
Teil der Medizin vergessen können. Um welchen Teil handelt
es sich dabei? Es geht um all jene ärztlichen, pflegerischen
und betreuerischen Maßnahmen, die danach zu fragen haben,
wenn sie Patientenprobleme lösen wollen: Was wollen die Patientinnen
und Patienten, wenn sie sich an einen Betreuer oder an einen Arzt
wenden? Welche subjektiven und objektiven Risiken haben die Patientinnen
und Patienten, beispielsweise subjektive Risiken im Verhalten, weil
sie zu viel rauchen oder zu viel essen, oder objektive Risiken,
weil sie mit Risikofaktoren geboren sind?
Nach den Antworten auf diese Fragen kommt das dritte Fragenbündel:
Was können diese Patientinnen und Patienten, Klientinnen und
Klienten selbst tun, um ihre Probleme zu lösen? Wir wollen
ja die Patienten befähigen, selber etwas zu tun. Das ist bei
dem einen viel, bei dem anderen wenig. Schon deshalb ergibt sich,
dass eine Leitlinie auf statistischer Grundlage, die eine allgemeinverbindliche
Norm zu formulieren trachtet, ins Leere läuft, nämlich
weil der eine sie erfüllen kann, der andere nicht.
Das vierte Fragenbündel lautet: Was müssen wir als Professionelle,
als Ärzte, als Weißkittel für solche Menschen tun,
weil sie mit bestimmten selbst gesetzten Zielen und mit bestimmten
Risiken, die sie mitbringen, ohne dass sie etwas dafür können,
nicht allein fertig werden? Erst dann fängt im Grunde genommen
die rationale, die mathematisierbare Medizin an. Dann müssen
wir nämlich für alle diese Menschen das tun, was wissenschaftlich
abgesichert ist nach wissenschaftlichen so genannten evidenzbasierten
Regeln. Wenn wir diese Regeln abgearbeitet haben und das Problem
gelöst ist, können wir uns glücklich schätzen.
Ist das Problem aber nicht gelöst, dürfen wir auch alles
tun, was uns sonst noch so einfällt, natürlich im Rahmen
des ökonomisch Möglichen. Ökonomische Grenzen hat
es immer gegeben und wird es immer geben.
Die Frage ist nur, ob man diese Grenzen setzt, bevor alles andere
in der Medizin anfängt, oder ob man diese Grenzen setzt, nachdem
man gemerkt hat, dass die Mittel für alles, was man gern noch
täte, nicht ausreichen. Das Setzen von Grenzen vor der Tat
ist unter Umständen unsittlich. Das Setzen der Grenzen, nachdem
man während der Tat gemerkt hat, dass die Mittel nicht ausreichen,
muss unter Umständen akzeptiert werden. Man kann es durchaus
auch in Leitlinien schreiben, wenn hier regelhafte Vorgänge
ablaufen. Professor Hardt aus Bremen hat dazu differenziert zwischen
medizinischen Leitlinien, in die alles gehört, was evidenzbasierte
Medizin mit medizinisch-wissenschaftlichen Möglichkeiten zu
tun erlaubt, und den Versorgungsleitlinien, in die alles hineingehört,
was einer Volkswirtschaft, einer Versichertengemeinschaft oder einer
sonstigen Gemeinschaft von Individuen zu finanzieren möglich
ist.
Ich komme jetzt zu dem Begriff Managementkunde, der auch von Herrn
Encke angesprochen wurde. Hier ist zu unterscheiden zwischen individualmedizinischen
Problemen, Case-Management-Problemen, die immer Sache desjenigen
sind, der den Patientenauftrag zu erfüllen hat, und statistischen
Disease-Management-Problemen, die durchaus mit bevölkerungsmedizinischen
Maßnahmen wie beispielsweise Fernsehprogrammen abgearbeitet
werden können.
Es ist auch den Krankenkassen nicht verboten, Erkenntnisse statistisch
zu gewinnen und dann in Informationen zur Gesundheitspflege für
ihre Versicherten umzuwandeln.
All dieses kann man auch in Leitlinien schreiben. Dazu möchte
ich mich nicht weiter äußern, weil ich mich, was die
Erstellung von Leitlinien angeht, bei der Ärztlichen Zentralstelle
für Qualitätssicherung ganz gut aufgehoben fühle.
Diese hat ja erstmals im Oktober 1998 im "Deutschen Ärzteblatt"
einen Grundsatzartikel veröffentlicht, wie sie mit der Leitlinienerstellung
umzugehen trachtet.
Ich bin allerdings traurig, dass ich in dieser nationalen Leitlinie
die Mitwirkung der Allgemeinärzte nicht dokumentiert finde.
Es ist ziemlich bizarr, beim Diabetes vom Typ II, also einer Erkrankung,
die zu 80 Prozent in hausärztlichen Praxen versorgt wird, die
wissenschaftliche Allgemeinmedizin bei der Erstellung der Leitlinie
zu übergehen. Aber das kann man ja in der nächsten Auflage
ändern.
Entscheidend ist, dass bei dieser Leitlinie die Gefahr offenbar
geworden ist, dass die Ärztliche Zentralstelle für Qualitätssicherung
ihre im Herbst 1998 selbst erstellten Grundsätze aufweicht.
Das wiederum ist natürlich eine Gefahr für die Abwehr
der Case-Management-Ansprüche der Krankenkassen, wie wir sie
kürzlich vernehmen konnten.
Zu den wichtigen Grundsätzen der ÄZQ gehörte: Erstens.
Alle an einem Patientenproblem beteiligten Fachkreise müssen
bei der Erstellung der Leitlinie mitwirken. Zweitens. Die Leitlinie
muss in dem Bereich, in dem sie angewendet wird, mit statistischen
Methoden evidenzbasiert werden.
Beide Grundsätze sind in diesem Fall nicht beachtet worden,
sondern man hat Leitlinien aus dem Ausland zugrunde gelegt und Selektivarbeiten
aus dem Inland. Das ist im Prinzip so nicht zulässig, sondern
wenn man bevölkerungsmedizinische Ansätze propagiert und
eine Leitlinie wie die zum Diabetes Typ II propagiert, auch bevölkerungsmedizinische
Ansätze, muss man an einer repräsentativen Stichprobe
der zu behandelnden Bevölkerung diese Leitlinie überprüfen
und das Ergebnis dieser Überprüfung zur generellen Anwendung
propagieren, dabei die Schnittstellen definieren und das Evaluationssystem
definieren und natürlich auch den zeitlichen Ablauf. Letzteres
ist bei der hier vorliegenden Leitlinie dankenswerterweise geschehen.
Nicht vorgenommen hat man allerdings eine differenzierende Bewertung
der unterschiedlichen Therapieansätze. Da gibt es gut erprobte,
entwicklungsgeschichtlich alte wie beispielsweise die Insulinanwendung.
Diese Therapieansätze sind nicht mit dem Nutzen-Risiko-Profil
bewertet. So etwas gehört aber als Minimum in eine Leitlinie,
weil sie anderenfalls ihrer Orientierungsfunktion nicht gerecht
wird.
Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt keine weiteren Ausführungen
machen, obwohl es noch einige Dinge zu bemerken gäbe. Aber
diese Ergänzungen schienen mir gleichwohl wichtig.
Vielen Dank.
(Beifall)
Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer
und des Deutschen Ärztetages:
Vielen Dank, Herr Kossow. - Es gibt einen Geschäftsordnungsantrag
- ich bin ganz sicher, nicht wegen des Redebeitrags von Herrn Kossow
- auf Be-grenzung der Redezeit auf fünf Minuten.
(Zuruf: Drei Minuten!)
- Drei Minuten sind der weitergehende Antrag. Gibt es eine Gegenrede?
- Formal. Wer möchte die Begrenzung der Redezeit auf drei Minuten?
- Wer ist dagegen? - Ich glaube, das Erste war die Mehrheit.
(Widerspruch)
- Dann stimmen wir noch einmal ab. Ich kann das gut verstehen;
es ist ja wichtig.
(Zuruf)
- Wir können auch alternativ abstimmen; einverstanden. Wer
ist für drei Minuten? - Wer ist für fünf Minuten?
- Noch einmal bitte: Wer ist für drei Minuten? - Wer ist für
fünf Minuten? - Ich glaube, das Erste war die Mehrheit.
(Erneuter Widerspruch)
- Dann zählen wir. Ich müsste ja auch noch fragen, wer
überhaupt keine Begrenzung der Redezeit haben möchte.
Auch das gibt es ja. - Herr Henke macht gerade den Vorschlag: vier
Minuten.
(Beifall)
Wer ist für vier Minuten? - Das ist eindeutig. Die Redezeit
ist also auf vier Minuten begrenzt.
Als nächster Redner bitte Herr Baumgärtner aus Baden-Württemberg.
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