TOP II : Individualisierung oder Standardisierung in der Medizin?

2. Tag: Mittwoch, 29. Mai 2002 Vormittagssitzung

Henke, Vorstand der Bundesärztekammer:

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Professor Kolkmann hat in seinem Vortrag mehrfach David Sackett, den Vater der evidence based medicine, zitiert. Dafür bin ich dankbar, weil mir dies die Gelegenheit gibt, klar zu machen, dass die evidence based medicine, wie Sackett sie formuliert hat, auch missbraucht wird. Der heutige Gebrauch von evidence based medicine im Bereich der Gesundheitspolitik, im Bereich der Kassenverwaltungen ist ein Missbrauch. Es ist 1997 ein Aufsatz von Sackett erschienen, in dem er die evidence based medicine von der "Kochbuchmedizin" abgrenzt. Er schreibt:

Weil es eines "Bottom-up"-Ansatzes bedarf, der die beste verfügbare externe Evidenz mit individueller klinischer Expertise und Patientenpräferenzen verbindet, ist das Konzept nicht mit dem sklavischen Befolgen eines "Kochrezeptes" zur Patientenbehandlung vereinbar.

Sackett fährt fort:

Externe klinische Evidenz kann individuelle klinische Erfahrung zwar ergänzen, aber niemals ersetzen.

Das scheint mir der Grund dafür zu sein, warum diejenigen, die die evidence based medicine im Sinne von Sackett interpretieren, gemeinsam mit uns, wie ich glaube, auf der Barrikade stehen, wenn es ihnen so geht, dass sie evidence based medicine von Einkäufern von Gesundheitsleistungen und von Managern gekidnappt sehen.

So sieht die Situation nämlich aus, die wir heute erleben. Wie weit das in die politische Diskussion vorgedrungen ist, kann man erkennen, wenn man in eines der beiden möglichen Szenarien hineinschaut, die die vom Deutschen Bundestag eingesetzte und über drei Legislaturperioden hinweg tätig gewesene Enquete-Kommission "Demographischer Wandel" in ihren Abschlussbericht aufgenommen hat. Ich zitiere wörtlich:

Im Gegensatz zu anderen europäischen und außereuropäischen Ländern wie zum Beispiel Großbritannien oder Kanada gibt es in Deutschland keine einheitliche oder verbindliche Definition von Versorgungszielen im Gesundheitswesen. Dies hat dazu geführt, dass es in Deutschland bis heute keine qualitativ hochwertigen Behandlungsleitlinien für wichtige Volkskrankheiten gibt. Vielmehr existiert eine Vielzahl von Pseudostandards, die zusammen mit einem opinion based management des einzelnen Arztes zu einer großen Varianz in der Therapie führen.

Das heißt, der Gesetzgeber geht - jedenfalls in seiner jetzigen Zusammensetzung - davon aus, dass es ein Mangel ist, dass wir in der Therapie eine große Varianz vorfinden, während die Anhänger und Väter der evidence based medicine davon ausgehen, dass es gerade diese große Varianzbreite ist, die überhaupt die Prüfung möglich macht, ob eine Evidenz auf den Einzelfall anwendbar ist, ob die noch so exzellenten Ergebnisse von Forschungsstudien im Einzelfall überhaupt angewendet werden können.

Ich glaube, es ist diese krasse Missachtung des Könnens und der Urteilskraft von Ärzten, die krasse Missachtung dessen, was unsere Erfahrung, unsere klinische Praxis uns zur Verfügung stellt, was in der gegenwärtigen gesundheitspolitischen Debatte dazu führt, dass viele Ärzte inzwischen den Eindruck haben, dass sie aus dieser Rolle des Patientenanwalts verdrängt werden und dass sie - das ist bewusst sehr hart formuliert, aber ich glaube, das ist auch unser Gefühl - zum Kassenknecht oder zum Verwaltungsvasallen gemacht werden sollen, anstatt Patientenanwalt zu bleiben. Dazu müssen wir Nein sagen, dem müssen wir entgegentreten.
Ich glaube allerdings nicht, dass die Formulierung richtig ist, dass wir alle gesundheitspolitischen Fehlentscheidungen verhindern können. Ich würde von "Entgegentreten" sprechen. Dem entgegentreten, das müssen wir in der Tat tun, das ist der Auftrag unseres Berufs. Wenn wir das nicht tun, rauben wir mit dem Verzicht auf unsere eigene Freiheit dem Patienten den Raum für seine Freiheit und für seine Würde.

Ich bedanke mich.

(Beifall)

Prof. Dr. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Vielen Dank. - Vor der Mittagspause hören wir jetzt noch Herrn Professor Griebenow aus Nordrhein.

© 2002, Bundesärztekammer.