Auf Antrag des Vorstandes der Bundesärztekammer (Drucksache
I-1) unter Berücksichtigung der Anträge von Dr. Lippross
(Drucksache I-1b) und Herrn Zimmer (Drucksachen I-1d und I-1e) fasst
der 105. Deutsche Ärztetag mit großer Mehrheit folgende
Entschließung:
Das deutsche Gesundheitswesen geht weiter den Weg
in die Mangelverwaltung.
Die deutsche Ärzteschaft nimmt ihre Verantwortung für
die Versorgung der Patienten - als individuellen Behandlungsauftrag
aber auch als öffentliche Aufgabe gegenüber der Gesellschaft
- wahr.
Unser Auftrag, die gesundheitlichen Probleme der Patienten professionell
nach dem anerkannten Stand der Medizin zu lösen, muss auch
im Sozialversicherungssystem erfüllbar bleiben.
Dies ist akut bedroht. Nicht mehr nur die soziale Gestalt des
Gesundheitswesens ist in Gefahr, sondern grundlegende Versorgungsaufträge
werden - wenn keine Neuorientierung erfolgt - nicht mehr zu erfüllen
sein.
Die rücksichtslose Ökonomisierung unseres Gesundheitswesens,
eines zentralen Teils unseres Sozialsystems, führt nicht
nur zu einer Ausgrenzung der sozial Schwachen und Kranken, sondern
- wie immer deutlicher sichtbar wird - auch zu einem allgemeinen
Qualitäts- und Funktionsverlust.
Die Gesundheitspolitik wird von fragwürdigen Sachverständigengutachten
und Meinungen selbst ernannter Experten getrieben. Nicht die Gesundheitsbedürfnisse
der Menschen in Deutschland, sondern die Interessen und Ideologien
von Experten lenken die Politik. Mit einer nie da gewesenen Hemmungslosigkeit
betrachtet die Expertokratie das Gesundheitswesen als einen Selbstbedienungsladen,
aus dem immer wieder neue Institute, Programme und Gutachten herausgepresst
werden müssen, damit das Geld in die eigenen Institute fließt.
Die Folge sind Ziellosigkeit und ein Wechsel von immer absurderen
Vorstellungen über Reformen im Gesundheitswesen, wie die
Auflösung des Sicherstellungsauftrages, Einkaufsmodelle und
eine weiter steigende Übertragung von Morbiditätsrisiken
auf die Leistungserbringer.
Der Ärztetag warnt vor dem Versagen des Gesundheitswesens
Während einerseits eine strikte Evidenzbasierung der Medizin
verlangt wird, machen Politiker andererseits Wahlgeschenke zu
Lasten der Versichertengemeinschaft. Das Predigen der rationalen
Medizin einerseits und das Verschenken von medizinisch unbewiesenen
Maßnahmen, Luxusbehandlungen oder schlicht völlig medizinfremden
Leistungen zu Lasten der solidarischen Krankenversicherung andererseits,
zeigt die Unredlichkeit der Politik.
Dabei ist es höchste Zeit zu handeln:
Bereits jetzt müssen Menschen wegen der verfehlten Gesundheitspolitik
(Budgets) auf notwendige planbare Operationen teilweise monatelang
warten.
· Bereits jetzt geht der medizinische Fortschritt an Deutschland
vorbei - weil das Geld fehlt. Notwendige Therapien mit neuen,
teuren Medikamenten findet oft nicht mehr statt (z. B. Hepatitis
C-Behandlung) und neue Geräte werden nicht mehr angeschafft
(Investitionsstau).
· Bereits jetzt haben wir massive Defizite in der Behandlung
chronischer Erkrankungen auch und besonders weil Mittel dafür
fehlen (z. B. Diabetes). Auf die neuen Anforderungen durch die
veränderte Demographie unserer Gesellschaft sind wir nicht
gerüstet.
· Bereits jetzt lassen wir dringende Gesundheitsbedürfnisse
ganzer Bevölkerungsgruppen, wie z. B. die Gesundheit unserer
Kinder und Jugendlichen unzureichend berücksichtigt.
Dies alles droht nicht nur - es ist schon Wirklichkeit
in Deutschland!
Die Konsequenzen lasten nicht nur auf den Patienten: Auch die
Ärztinnen und Ärzte sind die Bedingungen, unter denen
gesundheitliche Versorgung in Deutschland stattfindet, leid:
· miserable Arbeitsbedingungen in veralteten und schlecht
instand gehaltenen Kliniken besonders in Westdeutschland,
· eine ständige Überlastung unter grober Missachtung
des Arbeitszeitgesetzes,
· eine ständige öffentliche Diffamierung von
Ärzten· der stete Missbrauch von Ärzten als Verwaltungshilfsarbeiter
und Dokumentationsassistenten
· der stete Missbrauch von jungen Ärzten als billige
- weil faktisch unbezahlte - Hilfskräfte für nicht ärztliche
Tätigkeiten
· die Verlagerung des Morbiditätsrisikos durch Budgets
auf die niedergelassenen Ärzte,
· die ständigen Versuche der Politik, einzelne Arztgruppen
gegeneinander auszuspielen,
· die Verkehrung des freiberuflichen Status des Arztes
in eine Scheinselbständigkeit,
· die immer neuen Drohungen mit überflüssigen
Drangsalierungsmaßnahmen wie Rezertifizierung und Kompetenzüberprüfung,
·
eine Honorierung, die weder der eigentlichen ärztlichen Leistung,
geschweige denn den Überstunden, Bereitschaftsdiensten und
der Mehrarbeit gerecht wird, die besonders in den neuen Bundesländern
völlig unangemessen ist.
Es ist genug!
Viele Ärztinnen und Ärzte ziehen deshalb die Konsequenzen:
· erfahrene Kollegen gehen früher als geplant in den
Ruhestand,
· Ärzte in ungekündigter Stellung wandern in großer
Zahl ins Ausland ab, wo sie vernünftige Arbeitsbedingungen
vorfinden und
· Studienabsolventen weichen in großer Zahl in andere
nicht-ärztliche Tätigkeitsfelder aus, wo sie anständig
bezahlt werden und bessere Arbeitsbedingungen vorfinden.
Schon jetzt ist die Versorgung in etlichen ländlichen Gebieten
nicht mehr gesichert. Schon jetzt können viele Assistenzarztstellen
nicht mehr besetzt werden.
Und das alles, nicht weil es nicht genügend Ärzte gibt,
sondern weil die Bedingungen so schlecht sind! Die Unterversorgung
ist strukturbedingt.
Dabei ist absehbar:
Die gesetzgeberischen Fehlleistungen der letzten
Jahre haben ihre katastrophalen Wirkungen noch gar nicht voll
entfaltet:
Die überstürzte und schlecht vorbereitete Einführung
der Diagnosis Related Groups (DRGs) zur Krankenhausfinanzierung
wird
· es schwer machen, dass Ärzte sich in ausreichendem
Maße um schwerkranke, weil für das Krankenhaus "unrentable"
Patienten kümmern,
· die personellen Engpässe der Krankenhäuser aus
wirtschaftlichen Gründen noch mehr verschärfen
· die Investitionsmisere der Krankenhäuser in den alten
Bundesländern noch verschlimmern,
· die Ärzte noch mehr zu Buchhaltern der Krankenhausverwaltung
machen und Zeit für die Arbeit für und mit den Patienten
stehlen,
· das Interesse der Krankenhäuser an der Weiterbildung
der Fachärzte zunichte machen.
Die Arbeit des neu eingesetzten Koordinierungsausschusses und
die Verhandlungen um die Disease-Management-Programme lassen den
Verdacht aufkommen, dass es dabei nicht wie angekündigt um
eine Verbesserung der medizinischen Versorgung geht, sondern darum,
den Krankenkassen eine direkte Eingriffsmöglichkeit in die
Behandlung der Patienten zu ermöglichen. Dazu sollen Patientendaten
an die Krankenkasse weitergeleitet werden.
Dass sich Krankenkassen am liebsten junge, gesunde und gut verdienende
Mitglieder wünschen, haben sie in den letzten Jahren ausreichend
deutlich gemacht. Nun aber droht Druck auf die chronisch kranken
und damit teueren Patienten und auch auf die Ärzte, die für
ihre Patienten nach Meinung der Krankenkassen zu viel tun. Statt
evidenz-basierter Medizin droht Einheitsmedizin, statt ärztlicher
Beratung die Kontrolle durch die Call-Center der Krankenkassen.
Der Ärztetag fordert einen schnellen und tiefgreifenden
Wechsel der Gesundheitspolitik
Dringende Probleme müssen sofort gelöst werden.
Dazu gehören:
· die strukturbedingte Unterversorgung,
· Wartelisten und Praxisaufgaben wegen sektoraler Budgets,
· eine unmenschliche Arbeitsbelastung,
· das Investitionsdefizit insbesondere in den Kliniken der
alten Bundesländer und
· bisher unzureichend berücksichtigte Gesundheitsprobleme
wie z. B. die Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen.
Notwendig sind:
1. Die Sicherstellung der notwendigen Ressourcen für das
Gesundheitswesen durch
· Erweiterung der Einnahmebasis, u. a. durch Ausdehnung auf
andere Einkunftsarten und eine gerechtere Gestaltung der Familienmitversicherung,
· Beendigung der sozialpolitischen "Verschiebebahnhöfe"
zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung und Aufgabe der
versicherungsfremden Leistungen,
· Kostentransparenz, damit Bürger wissen, was für
ihre Gesundheit einerseits und für die Verwaltungsapparate
der Krankenkassen und Versicherungen sowie für Sachverständige
andererseits ausgegeben wird,
· Abschaffung der Budgets: das Morbiditätsrisiko müssen
die Krankenkassen tragen - dies ist ihre Aufgabe als Versicherung,
· Selbstbehalte mit Steuerungsfunktion, weil Nachdenken über
die eigene Gesundheit hilft, bewusster mit Ressourcen umzugehen
und
· Ausgliederung von Individualleistungen, weil persönliche
Bedürfnisse, die keinen medizinischen Bedarf darstellen,
nicht durch die Solidargemeinschaft finanziert werden dürfen!
2. Eine klare Ausrichtung auf medizinische Notwendigkeiten durch
· Anpassung der Versorgungsstrukturen in Krankenhaus und
Praxis an die Entwicklung der Medizin
· Optimierung der Leistung - u. a. durch Einsatz evidenz-basierter
Medizin,
· eine Positivliste für Arzneimittel, die wissenschaftlich
und nicht politisch begründet ist und
· Strukturierte Versorgungsprogramme (Disease-Management-Programme),
die der Verbesserung der Versorgung und nicht der Kontrolle der
Patienten dienen, d. h.: DMPs für die Patienten, nicht gegen
sie!
3. Die Beachtung des Arbeitszeitgesetzes, die Freistellung klinisch
tätiger Ärztinnen und Ärzte von Verwaltungsarbeiten
und Pflegeaufgaben!
4. Eine vernünftige Einführung der DRGs; Zeit geben
zum Planen, Erproben und Justieren!
5. Schluss mit der Expertokratie - keine neuen Institute, keine
weiteren gesundheitsökonomischen Eskapaden, keine überflüssigen,
inhaltslosen und teuren Gutachten mehr!
6. Keine weiteren Diffamierungen von Ärztinnen und Ärzten!
7. Eine gerechte Honorierung ärztlicher Leistung!