Der Vorstand der Bundesärztekammer wird beauftragt, nachfolgende
Vorüberlegungen zu einer "Gesundheitspolitischen Analyse
der Ärzteschaft" unter Berücksichtigung der Ärztetagsdebatte
weiter zu beraten mit dem Ziel, diese Thematik auf einen der nächsten
Deutschen Ärztetage als Tagesordnungspunkt vorzusehen:
I. Einleitung
Politische Verantwortung der Ärzteschaft
Warum engagiert sich die Ärzteschaft in der Diskussion um
eine GKV-Reform?
· Weil sie die Versorgung der Patienten verantwortet -
als öffentliche Aufgabe und als individuellen Behandlungsauftrag.
· Diese Versorgungsaufgabe kann sie nur erfüllen,
wenn ihr Berufsauftrag auch im Versicherungssystem erfüllbar
bleibt: nämlich professionell nach dem anerkannten Stand
der Medizin die gesundheitlichen Probleme der Patienten zu lösen.
Versicherungsschutz und Patientenversorgung
Aus Sozialstaatlichkeit und Daseinsvorsorge folgt eine obligatorische
Absicherung der Bevölkerung gegen das Krankheitsrisiko. In
Deutschland wird diese Aufgabe bisher durch eine gesetzliche Krankenversicherung
(GKV) gelöst. Die Ausgestaltung dieses Schutzsystems orientiert
sich jedoch nicht immer vorrangig an einer Patientenversorgung,
die ärztlich verantwortbar ist.
Das politische Dogma der Beitragssatzstabilität sowie die
z. T. strikte Anwendung von Kollektiv- und Individualbudgets haben
zeitweise sogar schon zu einem Vorenthalten medizinisch notwendiger
Leistungen (Rationierung) geführt.
Dies wollen und dürfen Ärzte nicht hinnehmen.
Daher besteht Reformbedarf.
Unabhängig davon, in welcher Tiefe die anstehende Reform
erfolgt, sind folgende Schritte unabdingbar:
a) Patientenrechte und -beteiligung
Die Einbeziehung der spezifischen Kompetenz von Selbsthilfegruppen
mit dem Ziel der Erhöhung der Transparenz bei der Erstellung
von Leitlinien, DMP sowie der Definition dessen, was für
eine bedarfsgerechte Versorgungsstruktur notwendig ist, wird befürwortet.
b) Konvergenz der Vergütungssysteme
Integration der Versorgungsbereiche Ambulant/Stationär/Reha/Pflege
und die
Konvergenz der Vergütungssysteme für die Versorgungssektoren
einschließlich ärztlicher Leistungen.
c) Transparenz und Patientenbeteiligung
Modellversuche mit der sog. Patientenquittung sowie die Erweiterung
der Chipkarte werden unter Beachtung datenschutzrechtlicher Vorgaben
befürwortet. Hinsichtlich der Erweiterung der Chipkarte soll
erprobt werden, ob die Vermeidung der Mehrfachinanspruchnahme
von Ärzten (doctor-hopping) erreicht werden und ob die Chipkarte
als Instrument einer erhöhten Patientensicherheit Verwendung
finden kann.
II. Für die Reform gibt es zwei grundsätzliche
Optionen
Option A: Weiterentwicklung
Die heutige GKV beruht u.a. auf den Elementen:
· solidarische lohn-/gehaltsbezogene Beitragsfinanzierung
· Beteiligung der Arbeitgeber an der Beitragsfinanzierung
· beitragsunabhängige Versorgung nach dem medizinischen
Bedarf
· finanzielle Steuerung der relativ unbegrenzten Bedürfnisse
über Kollektivverträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern
· Gesetzliche Rahmenvorgaben in Form von Beitragssatzstabilität
und sektoralen Budgets
Die heutige GKV befindet sich in einer Finanzierungskrise. Demographischer
Wandel, medizinischer Fortschritt, Ansteigen der Patientenbedürfnisse
sowie ein grundlegender Wandel der Arbeitswelt mit den hinreichend
bekannten Problemen der Dauerarbeitslosigkeit und sinkender Lohnquote
verschärfen die bereits bestehende Krise der Gewährleistung
einer patientengerechten Versorgung.
Die GKV muss in ihren Strukturen den heutigen Bedürfnissen
und Notwendigkeiten angepasst werden.
Das System der GKV wird mit seinen Grundprinzipien, Eigenverantwortung,
Subsidiarität, Solidarität und Beitragsfinanzierung
fortgeführt. Allerdings sollten zu einer wirklich grundlegenden
Weiterentwicklung folgende Forderungen erfüllt werden:
1. Feststellung des Versorgungsbedarfes
Grundlage für das Handeln der Akteure im Gesundheitswesen
muss die fortlaufende Erfassung und Bewertung des Versorgungsbedarfes
sein. Mit Hilfe der Definition von Versorgungszielen werden zum
einen notwendige Prioritäten gesetzt; zum anderen eine bessere
Allokation der zur Verfügung stehenden Mittel gewährleistet.
2. Leistungsumfang - Neudefinition
Es ist untragbar, dass der Gesetzlichen Krankenversicherung in
der Vergangenheit immer mehr versicherungsfremde Aufgaben zugewiesen
wurden. Diese Aufgaben müssen in eine Steuerfinanzierung
überführt werden.
Es dürfen nur die solidarisch zu verteilenden Risiken finanziert
werden. D. h. Konzentration auf das im Krankheitsfall und zur
Gesundhaltung medizinisch Notwendige, Flexibilisierung des Leistungsrechtes
mit Blick auf die Patientenbedürfnisse (z. B. Zusatzleistungen),
Grundoptionen zur Wahl von Sachleistungen oder Kostenerstattung.
Ein sozial abgefederter Einsatz der Instrumente Selbstbehalt und
Selbstbeteiligung soll Anreize zu einer kostenbewussten Inanspruchnahme
notwendiger Maßnahmen durch die Versicherten setzen. Sie
sollen das Kostenbewusstsein stärken.
3. Finanzierung und Bemessungsgrundlagen
Die Fehlfinanzierung der GKV muss strukturell behoben werden.
Die GKV muss so finanziert werden, dass eine gerechte Belastung
aller Versicherten für die Finanzierung des notwendigen medizinischen
Bedarfs gesichert wird. Daher muss die Beitragsbemessungsgrundlage
auf andere Einkommensarten ausgedehnt werden.
4. Versorgungsaufgabe der Ärzteschaft
Die Ärzteschaft übernimmt eine soziale Verantwortung
für die Patientenversorgung unter Wahrung ihres Berufsauftrages.
Dazu sind erforderlich:
· Akzeptable Rahmenbedingungen zur Gewährleistung
freier Berufsausübung in der ambulanten und stationären
Versorgung durch gleichgewichtige selbstverwaltete Vertragsbeziehung
der Krankenkassen mit KVen und Krankenhäusern unter Mitwirkung
von Krankenhausärzten bei frei ausgehandelten Vergütungen;
ergänzende Versorgungsverträge sind zu ermöglichen
("Vertragswettbewerb")
· Kollektive Sicherstellung einer flächendeckenden
und gleichmäßigen Versorgung
· Vertragsfreiheit zwischen den Selbstverwaltungspartnern
Dafür garantiert die Ärzteschaft:
· eine qualitätsgesicherte, medizinische Versorgung
unter Übernahme einer Behandlungsverpflichtung im Rahmen
des definierten und konsentierten Leistungsumfanges.
Option B: Systemwandel
Wenn (Weil) die Umsetzung von Option A 1-4 nicht ergibt, dass
eine ärztlich verantwortbare Patientenversorgung durch eine
solche Neuorientierung gewährleistet ist, bedarf es einer
Überwindung des Systems durch einen grundlegenden Wandel:
· obligatorische Versicherungspflicht aller Bürger
von Geburt an für die Deckung des Krankheitsrisikos in einer
privatwirtschaftlich organisierten "Gesetzlichen Krankenversicherung
Neuer Art"
· Individuelle Wahlfreiheit zur Erweiterung des obligatorischen
Versicherungsschutzes
· Individuelle Wahlfreiheit des Versicherers mit Kontrahierungszwang
Gesellschaftliche Solidarität erfordert die - ggf. anteilige
- Übernahme der Kosten des obligatorischen Versicherungsschutzes
durch den Staat bei den Bevölkerungsgruppen, bei denen die
Prämienzahlung einen definierten Anteil (z. B. 15 %) des
Bruttofamilieneinkommens übersteigt.
Die Überleitung des jetzigen GKV-Systems in ein solches
neues Versicherungssystem müsste unter Wahrung des finanziellen
Beitrages der Arbeitgeber als künftiger Lohnbestandteil durch
einmaligen Aufschlag auf den Lohn erfolgen.
Der Versicherungsschutz bisher geschützter Personen muss
grundsätzlich erhalten bleiben, in Übergangsregelungen
muss diese langfristige Wahloption aller heutig Versicherten festgeschrieben
werden.
Die kollektivvertragliche Übernahme von Behandlungsverpflichtungen
und Versorgungsaufträgen einschließlich der Qualitätssicherung
muss als Option für die Ärzteschaft erhalten bleiben.