Anhang A
Beschlüsse und Entschließungen

TOP I: Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik

ENTSCHLIESSUNGSANTRAG I - 6

Auf Antrag des Vorstandes der Bundesärztekammer (Drucksache I-6) fasst der 105. Deutsche Ärztetag folgende Entschließung:

Der 105. Deutsche Ärztetag fordert, die Rechte der Ärzte zur grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung und zur Niederlassung in den Mitgliedsländern der Europäischen Union nicht zu beschränken.

Der 105. Deutsche Ärztetag fordert daher das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und die Bundesregierung auf, die Migrationsfreiheit für Ärzte in Europa durch das System der automatischen Anerkennung von Diplomen und Befähigungsnachweisen zu erhalten und den von der Kommission vorgelegten Vorschlag für eine (allgemeine) Richtlinie "über die Anerkennung von Berufsqualifikationen"1 der die spezifische ("sektorale") Ärzterichtlinie ablösen soll, zurückzuweisen.

Der Deutsche Ärztetag stellt dazu fest:
In den siebziger Jahren wurde die Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise detailliert und für einzelne Berufe geregelt. Begonnen wurde mit den Professionen des Gesundheitswesens, weil diese eine traditionell (und allein aus wissenschaftlich-technischen Gründen notwendige) hohe Migration aufwiesen. Um die inhaltlichen Fragen der gegenseitigen Anerkennung klären zu können, wurden die sogenannten "Beratenden Ausschüsse" eingerichtet, die Kommission und Rat bei der Gestaltung und Entwicklung der Richtlinien seitdem beraten haben. Im Lauf ihrer Arbeit haben die Beratenden Ausschüsse das System der gegenseitigen Anerkennung maßgeblich beeinflusst. Dieses System ist in seiner administrativen Einfachheit, Wirksamkeit und Bürgerfreundlichkeit beispiellos auf der Welt.

Später wurde dieses System wegen des zentral hohen Regelungsaufwandes für weitere Berufe durch das sogenannte allgemeine System ersetzt. Letzteres überlässt den nationalen Anwendern den Prüfungsaufwand und führt dort, wo die inhaltliche Prüfung des Diplomgegenstandes zum Beispiel wegen des Verbraucherschutzes notwendig ist, zu einer Multiplikation des Arbeitsaufwandes, da alle Fragen immer wieder neu und in jedem einzeln Land geklärt werden müssen. Für Berufe, bei denen die Qualität des Befähigungsnachweises nicht die Differenzierung oder die hohe Bedeutung hat wie im Gesundheitswesen, mag dies kein gravierendes Problem sein - für das Gesundheitswesen wird der Verzicht auf die sektoralen Richtlinien zu ernsthaften Schwierigkeiten führen.

Der jetzt vorliegende Vorschlag der Kommission wird auch die Ärzte in dieses allgemeine System überführen. Die Kommission begründet ihren Vorschlag, dass damit das System, insbesondere in Hinblick auf die Erweiterung der Europäischen Union, vereinfacht werde. Tatsächlich ist das neue System aber nur für die Kommission einfacher!

Die bisherigen Erfahrungen mit den sektoralen Richtlinien sind sehr positiv:

· Der für die Entwicklung der Medizin, der Pflege und der weiteren Fachwissenschaften im Gesundheitswesen eminent wichtige internationale Austausch wurde erfolgreich gefördert.
· Die Aspekte der öffentlichen Sicherheit, die besonders bei den Qualifikationen im Gesundheitswesen eine wichtige Rolle spielen, werden berücksichtigt.
· Die Migrationszahlen der Gesundheitsberufe wachsen stetig. Auch die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung funktioniert und wird lebhaft praktiziert. Mangelsituationen in einzelnen Mitgliedsländern, z.B. an Ärzten sowie Pflegekräften, konnten deshalb teilweise ausgeglichen werden.
· Ohne großen Verwaltungsaufwand können Zeugnisse gegenseitig anerkannt werden, wenn die betreffenden Qualifikationen in den Richtlinien aufgelistet sind.
· Streitfragen sind ausgesprochen selten und können durch eine dezentrale Auslegung der differenzierten Richtlinien meist abschließend geklärt werden.

Die sektoralen Richtlinien sind durch ihre Klarheit in Ausführung und Anwendung dem allgemeinen System weit überlegen. Durch einen Wechsel auf oder eine Annäherung an das allgemeine System würde der Verwaltungsaufwand in jedem einzelnen Migrationsfall vervielfacht; die Kosten würden enorm erhöht.

Die sektoralen Richtlinien haben allerdings den größten Teil der Verwaltungsarbeit, der im allgemeinen System in jedem Einzelfall durchgeführt werden muss, zentral auf die europäische Ebene gehoben und konzentriert. Dort sind die anfallenden Fragen durch die Beratenden Ausschüsse kompetent und zielführend bearbeitet worden. Die Erweiterung der Union ist daher auch kein Argument gegen die sektoralen Richtlinien, wie dies von Beamten der Kommission gerne angeführt wird, sondern im Gegenteil: sie ist ein dringendes Argument für die Erhaltung und Weiterentwicklung der sektoralen Richtlinien
Die bevorstehende faktische Abschaffung der Beratenden Ausschüsse und die beabsichtigte Ablösung der sektoralen Richtlinien mag zwar zu einer Arbeitsentlastung der Kommission führen, sie ist aber ein schlechter Dienst an der Europäischen Idee, denn sie ist extrem kostspielig für die Mitgliedsstaaten, die ein Vielfaches von dem, was an Arbeit in Brüssel gespart wird, als zusätzlichen Verwaltungsaufwand national aufbringen werden müssen:

· die Bearbeitungszeiten werden sich verlängern,
· die Migrationsfreiheit wird unter dem Strich nicht gefördert, sondern stark behindert werden,
· die kurzfristige grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung wird dramatisch und unnötig erschwert,
· die Vielzahl der mit der Prüfung beauftragten nationalen Stellen wird wahrscheinlich dazu führen, dass eher nationale als europäische Standards die Entscheidungen künftig lenken
· und zu Recht wird bei den Bürgern Unmut über die europäischen Regelungen entstehen.

Das System der sektoralen Richtlinien muss deshalb beibehalten und weiter entwickelt werden, die Beratenden Ausschüsse sind mit Augenmaß an die bevorstehende Erweiterung der Union anzupassen und umgehend wieder arbeitsfähig zu machen.

1) "RICHTLINIE DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES über die Anerkennung von Berufsqualifikationen" vom 7. März 2002 [KOM(2002)119 endgültig, 2002/0061 (COD)]

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