ENTSCHLIESSUNGSANTRAG I - 17
Von: PD Dr. Dr. Dietrich
als Delegierter der Bayerischen Landesärztekammer
DER DEUTSCHE ÄRZTETAG MÖGE FOLGENDE ENTSCHLIESSUNG FASSEN:
Für den Erhalt des solidarisch finanzierten Gesundheitswesens
- Den Kostendruck durch Qualität mindern
Angesichts der Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung
und mangelhaften Ressourcenverwertung im deutschen Gesundheitswesen
fordert der Deutsche Ärztetag:
1. Das solidarisch finanzierte Krankenversicherungssystem muss
erhalten bleiben und ausgebaut werden.
2. Eine Aufteilung des Leistungskataloges in Wahl- und Regelleistungen
wird abgelehnt.
3. Die starre Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung
sowie die sektorale Gliederung des Gesundheitswesens muss weiter
aufgelöst werden. Der Sicherstellungsauftrag muss von allen
Beteiligten im Gesundheitswesen, der Ärzteschaft und den Krankenkassen
wahrgenommen werden. Eine Beteiligung der Patienten an dieser Aufgabe
ist wünschenswert.
4. Versicherungspflichtgrenze und Beitragsbemessungsgrenze in der
gesetzlichen Krankenversicherung müssen angehoben werden mit
dem Ziel, langfristig die Versicherungspflichtgrenze vollständig
aufzuheben.
5. Die Mittel im Gesundheitswesen müssen konzentrierter zur
Behandlung der großen Volkskrankheiten eingesetzt werden.
6. Die Qualität medizinischer Leistung muss objektivierbarer
werden. Nachprüfbare Qualität soll die Richtschnur der
Mittelvergabe werden.
7. Nur über verbesserte Fortbildung der Ärzteschaft kann
der medizinische Fortschritt in eine sichere, rationale und auch
kostengünstige Behandlung unserer Patienten umgesetzt werden.
Der Fortbildungsstand muss kontinuierlich auch durch Rezertifizierung
einmal erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten nachgewiesen werden.
Der Einfluss der pharmazeutischen Industrie auf die Fortbildung
ist zu kontrollieren und einzuschränken.
8. Eine schärfere Kontrolle der Produkte von Pharma- und medizinischer
Geräteindustrie ist notwendig. Es dürfen nur noch die
medizinisch technischen Geräte und Verfahren eingesetzt werden,
deren Nutzen nachgewiesen ist.
9. Der sogenannte medizinisch-technische Fortschritt ist kritischer
zu bewerten. Nicht jede medizinische Neuerung sollte unkontrolliert
in den medizinischen Alltag übernommen werden.
10. Die Gesundheitsberichterstattung ist zu verbessern. Die Datenlage
zur Erarbeitung epidemiologischer Erhebungen ist sehr schlecht bzw.
fehlt es an Möglichkeiten, vorhandene Daten auszuwerten.
11. Die totale Medikalisierung der Versicherten muss gestoppt werden.
Medizin hat ihre Grenzen.
12. Dokumentation und Datenerfassung haben die Tendenz zu unkontrolliertem
Eigenleben. Die Ärzteschaft in Klinik und Praxis sieht sich
heute mit einer Unzahl bürokratischer Aufgaben und Tätigkeiten
konfrontiert, deren Sinn oft verschlossen bleibt, die aber Zeit
der eigentlichen ärztlichen Tätigkeiten kosten. Bürokratische
Vorschriften müssen auf ein nachvollziehbares Mindestmaß
reduziert werden, mehrfach durchgeführte Dokumentation und
Daten- und Leistungserfassung muss vermieden werden.
Begründung:
Der Deutsche Ärztetag setzt sich für die Erhaltung der
solidarisch finanzierten Krankenversicherung in Deutschland ein.
Jeder Mensch hat den gleichen Anspruch auf Gesundheit und Versorgung
im Krankheitsfall, Gesundheit darf nicht abhängen von Einkommen
oder Vermögen. Gesundheit ist keine Ware, deren Qualität
von der Höhe des Preises abhängig ist. Die solidarisch
von allen Versicherten entsprechend ihrem Einkommen getragene Versicherung
stellt einen Eckpfeiler der sozialen Sicherung und des sozialen
Friedens in Deutschland dar, an dem nicht aus kurzfristigen finanziellen
Erwägungen heraus gerüttelt werden darf. Solidarische
Finanzierung heißt auch, dass sie zu gleichen Teilen von Arbeitnehmern
und Arbeitgebern getragen wird, nur so lässt sich die soziale
Verantwortung der Arbeitgeber für die Erhaltung und Wiederherstellung
der Gesundheit der Arbeitnehmer sichern.
Der Deutsche Ärztetag spricht sich gegen jede Form der Beitragsauftrennung
in Grund- und Wahlleistungen oder Wahl- und Regelleistungen aus.
Wenn sich ein Teil der Versicherten von der Vorsorge gegen bestimmte
Risiken ausschließen kann, wird die Versicherung dieser Risiken
für den Rest der Versicherten zwangsläufig teurer werden.
Eine solche Aufteilung wird das Prinzip des solidarisch getragenen
Risikos aushöhlen. Aus dem gleichen Grunde wird auch eine Ausweitung
der Zuzahlung der Versicherten zu bestimmten Leistungen abgelehnt.
Notwendige medizinische Leistungen müssen für alle Versicherten
zu gleichen Bedingungen zugänglich sein.
Untersuchungen von OECD und WHO haben gezeigt, dass der Stand der
medizinischen Versorgung im internationalen Maßstab nicht
den dafür aufgebrachten Mitteln entspricht. Das deutsche Gesundheitswesen
ist teuer und international gesehen nur noch Mittelmaß. Die
vorhandenen Mittel werden ineffektiv eingesetzt, zu sehr bestimmen
wirtschaftliche Partikularinteressen von Industrie, Krankenkassen,
niedergelassenen Ärzten und Krankenhäusern die Mittelverteilung.
Es hat sich gezeigt, dass zunehmende Konkurrenz als Mittel der freien
Marktwirtschaft im Gesundheitswesen keine synergistischen Effekte
hat. Wenn der wirtschaftliche Vorteil im Mittelpunkt steht, kommen
die Interessen der Patienten zu kurz.
Der Maßstab einer solidarischen Gesundheitsversorgung kann
nur die Qualität der erbrachten medizinischen Leistung sein.
Gesicherte und nachprüfbare Qualität muss Steuerinstrument
des Mittelflusses im Gesundheitswesen werden. Qualitativ hochwertige
Medizin wird langfristig Mittel im Gesundheitswesen einsparen. Deshalb
unterstützt und fördert der Deutsche Ärztetag alle
Bestrebungen, die Vorsorge und medizinische Behandlung durch Leitlinien
und evidenzbasierte Grundsätze auf eine rationale, nachprüfbare
Basis zu stellen. Diese Leitlinien müssen regelmäßig
evaluiert werden und die Qualität der erbrachten Leistung ist
in Verbindung zur Vergütung dieser Leistung zu setzen. Qualität
als Maß für medizinische Leistungen wird umso wichtiger
als mit steigender Konkurrenz im Gesundheitswesen wirtschaftliche
Interessen und ökonomische Argumentation Grundlage gesundheitspolitischer
Entscheidungen werden. Leitlinien müssen auf wissenschaftlich
nachprüfbarer Basis stehen. Sie dürfen nicht zur Durchsetzung
von Sonderinteressen missbraucht werden. Die Definition und Überprüfbarkeit
von Qualität in der medizinischen Versorgung ist eine schwierige
Aufgabe. Es ist eine wesentliches Ziel der verfassten Ärzteschaft,
an der Lösung dieser Aufgabe mitzuarbeiten.
Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens fördert die
Ausbildung eines zweiten Gesundheitsmarktes außerhalb des
Aufgabenbereichs der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Wildwuchs
in diesem Bereich wird mit Sorge beobachtet. Der Einnahmerückgang
aus der Vergütung der gesetzlichen Krankenversicherung verleitet
Kollegen, bei gesetzlich versicherte Patienten außerhalb des
Leistungskataloges zu liquidieren. Häufig werden dabei die
Grenzen des ethisch Vertretbaren überschritten. Dieser Bereich
muss zukünftig schärfer kontrolliert oder gänzlich
vom gesetzlichen Versorgungsbereich getrennt werden.
Der Kostenanstieg für Arzneimittel ist ein wesentlicher Grund
für die Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenkassen.
Langfristig kann eine evidenzbasierte, rationale Arzneitherapie
diese Kosten drastisch reduzieren, kurzfristig sind steuernde Eingriffe
in den sich wild entwickelnden Markt erforderlich. Ein Mittel hierfür
kann die Einführung der von der Ärzteschaft auf Ärztetagen
geforderten Positivliste für Arzneimittel sein. Auch die jetzt
eingeführte aut-idem Regelung stellt - bei allen administrativen
Mängeln bei der Einführung - eine sinnvolle Möglichkeit
zur Kostenreduktion dar. Die Überwachung der Arzneimittelsicherheit
muss verbessert werden.
Dringend notwendig ist die verstärkte öffentliche Finanzierung
der klinischen Forschung in Deutschland. Es geht nicht an, dass
dieser für die Sicherheit von Medikamenten so wichtige Bereich
zunehmend und fast ausschließlich von der Pharmaindustrie
bezahlt und kontrolliert wird. Da klinische Forschung im öffentlichen
Interesse durchgeführt wird, sollten auch die Versicherten
und Patienten als Hauptbetroffene ein Mitspracherecht bei Planung
und Mittelvergabe haben. Selbstverständlich aber muss die Industrie
für die Erforschung der Anwendungssicherheit ihrer Präparate
die finanzielle Verantwortung übernehmen. Die Risiken und der
Nutzen des medizinisch-technischen Fortschritts müssen ebenso
wie die Arzneimittelsicherheit von einen zentralen Institution,
die von allen Beteiligten im Gesundheitswesen getragen wird, beurteilt
und für die allgemeine Anwendung freigegeben werden.
Ein weiterer kostentreibender Faktor ist die Trennung von ambulanter
und stationärer Versorgung. Die sektoral gegliederten Teilbereiche
des Gesundheitswesens von Vorsorge über ambulante, stationäre
Versorgung bis hin zur Rehabilitation müssen eng verzahnt werden.
Deshalb begrüßt der Deutsche Ärztetag die im Gesundheitsreformgesetz
2000 gemachten Ansätze zur Aufhebung dieser Trennung und fordert
weitere Entwicklung in diese Richtung. Insbesondere ist die weitere
Einbeziehung der hochtechnisierten Kliniken in die ambulante Versorgung
der Patienten wünschenswert. Umgekehrt müssen auch die
ambulant tätigen Kolleginnen und Kollegen und insbesondere
die Allgemeinmediziner Zugang zu den stationären Versorgungseinrichtungen
erhalten.
Der Sicherstellungsauftrag muss neu geregelt werden. Den gesetzlichen
Krankenkassen als Kostenträger der medizinischen Versorgung
steht das Recht zu, den Mittelfluss ihrer Versicherten mit zu kontrollieren
und steuern. Um diese Aufgabe übernehmen zu können, müssen
die Krankenkassen ihr rein wirtschaftliches Denken zugunsten Versicherten-
und Patienten-zentrierten Perspektiven aufgeben. Auch den Versicherten,
den Patienten und ihren Selbsthilfegruppen steht ein Mitspracherecht
bei der Sicherstellung des Versorgungsauftrages zu. Regionale Gesundheitskonferenzen
mit Einbeziehung aller Beteiligten können ein Mittel der Steuerung
und Planung des Gesundheitswesens sein.
Es ist zu begrüßen, dass die Krankenkassen in Zukunft
ihre Mittel zur Bekämpfung der häufigsten Erkrankungen
der Bevölkerung konzentrieren wollen. Dies stellt eine sicherere
Investition in die Zukunft dar als die Finanzierung spektakulärer,
aber in ihren Auswirkungen noch nicht beurteilbarer hochtechnischer
Leistungen. Doch ist mit Sorge zu beobachten, dass diese Programme
häufig zur ökonomischen Positionierung auf dem Gesundheitsmarkt
missbraucht werden. Um den Erfolg dieser Maßnahmen zu kontrollieren
ist die Gesundheitsberichterstattung in Deutschland massiv zu verbessern.
Mit zunehmender Spezialisierung der Medizin kommt dem Hausarzt
die zentrale Rolle der Koordination und Befundzusammenfassung zu.
Er muss der Partner sein, der den Patienten durch die immer undurchsichtiger
werdenden Wege des Medizinbetriebes begleitet und leitet. Um seine
Entscheidungen nicht durch finanzielle Anreize zu beeinflussen muss
seine Bezahlung nach Möglichkeit pauschaliert unter Berücksichtigung
des Arbeitseinsatzes erfolgen. Je weiter die ärztliche Leistung
vom Geld getrennt ist, um so objektiver kann sie im Sinne der Patienten
erbracht werden.
Das Gesundheitswesen dient den Interessen der Versicherten. Die
Sicherstellung des Wirtschaftsstandortes Deutschland ist nicht Aufgabe
des Gesundheitswesens. Die Patienten sollten im Mittelpunkt unseres
medizinischen Denkens stehen. Wir dürfen nicht vergessen, dass
die Versicherten einen Großteil unseres Gesundheitswesens
und damit auch des ärztlichen Einkommens finanzieren. Deshalb
sollten sie ein größeres Mitspracherecht bei der Planung
des Gesundheitswesens haben. Die Rechte der Patienten müssen
gestärkt werden. Initiativen zur Verabschiedung eines Patientenschutzgesetzes
sind - sofern sie wirklich die Rechte der Patienten stärken
- zu unterstützen.
ENTSCHEIDUNG: ABGELEHNT
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