Eröffnungsveranstaltung

Dienstag, 20. Mai 2003, 10.00 Uhr

Prof. Dr. Hellmut Mehnert:

Sehr verehrte Frau Ministerin Schmidt! Sehr verehrte Frau Ministerin Fischer! Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister! Lieber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Namen von Herrn Buck-Gramcko und Herrn Hege sowie in meinem eigenen Namen darf ich mich herzlich für die Ehrung bedanken, die uns die Bundesärztekammer mit der Verleihung der Paracelsus-Medaille in diesem Jahr zukommen ließ. Was uns bewegt, hat Hans Hege wie folgt formuliert:

Die Ehrung fügt den Taten oder Leistungen der Geehrten nichts hinzu, sie macht sie nur publik, hebt sie für die öffentliche Wahrnehmung heraus aus der Menge der vielen, die solche Ehrungen auch verdient hätten. Die Verleihung der Paracelsus-Medaille hat nicht den Charakter einer Siegerehrung und so ist die einzige Frage, ob die Geehrten als Beispiel taugen für das, was im Selbstverständnis der Ärzteschaft zu ehren ist. Es sind Werte, zu denen wir uns bekennen und die in unserer Berufsordnung formuliert sind und denen treu zu bleiben wir uns in unserem Leben bemüht haben.

Und Horst Buck-Gramcko sagt uns in diesem Zusammenhang:

Warum ich mich über die Auszeichnung freue: Weil ich meinen Lebenslauf für den eines zwar engagierten und vielseitig interessierten, aber eigentlich ganz normalen Arztes halte und mich freue, dass auch ein derartiges Arztleben einer Auszeichnung für würdig befunden worden ist.

Für uns drei spricht Buck-Gramcko mit der Aussage:

Ich will auch die Mitarbeiter in Klinik, Praxis und den berufs­ständischen Organisationen mit Dank erwähnen und vor allem die Unterstützung und das Verständnis der Familie, ohne die ein solches Engagement nicht möglich gewesen wäre.

Diese ernsten Worte wollte ich meinen Ausführungen voranstellen, um Ihnen, meine Damen und Herren, vor Augen zu halten, was uns drei an dieser Stelle bewegt. Aber wir drei haben uns auch, wie man so schön sagt, gesucht und gefunden in dem Bestreben, das Leben mit all seinen Unwägbarkeiten nicht nur ernst zu nehmen, sondern dem Humor genügend Raum einzuräumen in der Anschauung der Welt und auch - wenn Sie gestatten - bei der Verleihung der diesjährigen Paracelsus-Medaille.

Wir Deutschen sind ja ein Volk von Dichtern und Denkern, zumindest sind wir das in früheren Jahrhunderten gewesen,

(Beifall)

und haben genügend Möglichkeiten, aus dem Fundus unserer großen Vorfahren zu schöpfen, wenn es darum geht, eine Preisverleihung zu kommentieren. Ich habe mir nun gedacht, dass ich Ihnen, meine Damen und Herren, Poeme oder auch ein Prosastück anbiete von Goethe - wem sonst? -, Schiller - wem sonst? - und von Thomas Mann. Ich muss mich schon jetzt bei den Puristen unter Ihnen entschuldigen, dass es sich jeweils nur um parodistisch aufgemachte Literatur handelt, in der einer der Preisträger - in diesem Falle ich - versucht hat, das darzulegen, was nach seiner Ansicht die Dichter bei der heutigen Preisverleihung bewegt hätte, einmal im Hinblick auf uns, nämlich Buck-Gramcko, Hege und Mehnert, und zum anderen unter Berücksichtigung der derzeitigen gesundheitspolitischen Situation.

Der Faust-Monolog zu Beginn des größten deutschen Dramas ist uns allen aus der Schule her noch einigermaßen geläufig. Weniger bekannt hingegen ist die Abwandlung dieses Monologs als gemeinsame Aussage von drei Männern - wiederum Buck-Gramcko, Hege und Mehnert -, die sich mit den folgenden, dem Faust-Monolog entlehnten Zeilen dem geneigten Auditorium stellen. Die Überschrift lautet:

Das Bekenntnis dreier Ärzte, frei nach „Faust“
Johann Wolfgang von Goethe

Wir haben nun, ach! Orthopädie
Und Allgemeine Medizin
Und leider auch Diabetologie
Durchaus studiert, mit heißen Mühn.
Und haben geschuftet wie noch nie.
Wir sind nun in fast fünfzig Jahren
Als Ärzte überall hingefahren,
Mal rechts, mal links, mal quer, mal krumm,
Kurz, in der ganzen Welt herum.

Doch nun erfahrn wir böse Sachen,
Die uns und andren Sorge machen.
Die Anglizismen, die sind „in“,
Und „out“ ist alte Medizin.
So reimt sich zwar auf DMP
Das andre Kürzel DRG.
Doch ob sich das zusammenreimt,
Ob nicht der Kranke wird geleimt?

„Zusammenarbeit“ sagt man nicht,
„Compliance“ faselt jeder Wicht!
„Empowerment“ für die Patienten
Soll allemal das Schicksal wenden?
Doch wenn die „Power“ uns erwischt,
Verliern wir dann nicht das Gesicht?

Und „Evidence based medicine“,
Wo führt denn das nun wieder hin?
Als man das Insulin entdeckte
Und Hypoglykämien weckte,
Wo war da Evidenz fürs Gute?
Zwar sah die Wirkung man im Blute,
Doch Blutglucose in der Tat
Ist doch wohl nur ein Surrogat.
Hat Evidenz man je im Sinn,
Wenn man benutzt das Insulin?

Wir drei Doctores haben nun
Noch immer einiges zu tun.
Wir wollen streiten für die Kranken,
Die hierfür uns mit Liebe danken.
Mephisto sprach zur Witwe Marthe
Als Kenner der Soldatensparte:
„Ihr Mann ist tot, er lässt Sie grüßen“.
So wolln wir andre nicht verdrießen!
Ein „harter Endpunkt“ ist der Tod,
Wir sind fürs Weiche, ohne Not.
Wie Gretchens Bruder sagen wir:
„Bin Arzt und brav, heut, jetzt und hier“.

Wir haben nun, ach! die Medizin
Durchaus studiert, mit heißen Mühn.
Und haben Fehler auch begangen
Und warn im Irrtum oft gefangen.
Bekennen wolln wir am Schluss
Das, was ein Arzt bekennen muss:
Die Medizin bleibt unser Stern,
Das ist fürwahr des Pudels Kern.

(Heiterkeit - Lebhafter Beifall)

Wenn schon Goethe zu uns gesprochen hat, dann darf Schiller nicht fehlen. Hier drängt es sich auf, bei dem bekannten Gedicht „Die Bürgschaft“ eine Anleihe zu machen und zur Verleihung der Paracelsus-Medaille wie folgt Stellung zu nehmen:

Die Ordensverleihung
nach Friedrich von Schiller

Zu Hoppe, dem Präsidenten, schlichen
drei Ärzte - im dunklen Gewande.
Die Kammer schlug sie in Bande:
Warum seid ihr Ärzte nach Köln entwichen?
Wir wollten den Paracelsus ehren,
und lauschen mit Inbrunst den trefflichen Lehren.

Und Hoppe sprach - der Sorge enthoben,
dass jene Ärzte, die festnahm er eben,
trachteten nach seinem, nach Hoppes Leben -:
Fürwahr, ihr Männer, ich muss euch loben!
Und da wir vier nunmehr Freunde geworden,
verleihe ich euch einen prächtigen Orden.

(Heiterkeit - Beifall)

Schließlich und endlich wollen wir noch Thomas Mann zu Worte kommen lassen, der im Jahre 1930 zur Situation im Krankenhaus des Jahres 2003 wie folgt Stellung genommen haben könnte. Das Stück, „echte“ Mann’sche Prosa, hat den Titel:

Die Zauberberg-Klinik im Jahre 2003
Ein futuristischer Ausblick von Thomas Mann aus dem Jahre 1930

So manches deutsche Sanatorium, ja so manches Allgemeinkrankenhaus in Deutschland, Österreich und in der Schweiz wird sich nach Erscheinen meines Romans „Der Zauberberg“ in Zukunft eben diesen Namen „Zauberberg-Klinik“ geben, um den verehrlichen Patienten zu bedeuten, dass sie in dieser Stätte mit dem verheißungsvollen Namen eine wirkliche Heilung und eine Menschwerdung erfahren, die über die von anderen Krankenhäusern gewährte Hülfe bei der Gesundung weit hinausgehen.

Versetzen wir uns also in das Jahr 2003 in die „Zauberberg-Klinik“ in einer deutschen Kleinstadt und verfolgen wir mit Aufmerksamkeit das Schicksal eines Patienten, den wir nicht ohne Absicht in latinisierter Form Germanicus Medicus nennen wollen, was, wie der geneigte Leser weiß, übersetzt „der deutsche Arzt“ bedeutet. Und in der Tat war der Patient auch wirklich Arzt - Allgemeinarzt, um die Berufswahl genauer zu definieren -, der sich nur ungern zu einer Durchuntersuchung im 250-Betten-Haus seiner Heimatstadt entschlossen hatte: Kamen doch immer wieder Meldungen über die mangelnde Qualität des Krankenhauses an die Öffentlichkeit, die Germanicus Medicus als Arzt, aber vor allem auch als potenziellen Patienten der Klinik stark beunruhigten. Der stationäre Aufenthalt war aber notwendig geworden, da sich Medicus - wie übrigens die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen im Jahre 2003 - im Zustand der Auszehrung befand, ohne dass etwa eine Lungenschwindsucht diagnostiziert worden wäre. Vielmehr hatte Medicus stark an Gewicht abgenommen und litt an einer unklaren Anämie sowie an Depressionen, Krankheitserscheinungen, die abzuklären nun die Aufgabe des Chefarztes mit dem klangvollen Doppelnamen Dr. Hoppe-Weißmantel und seiner Kollegen geworden war.

Wenn Medicus angenommen hatte, dass überzogene Sparmaßnahmen nur in der Praxis die Qualität der Medizin infrage stellten, so musste er jetzt erkennen, dass die Verhältnisse im Krankenhaus im Jahre 2003 keinen Deut besser, ja eher schlechter waren als bei der Versorgung seiner ambulanten Patienten.

In der Klinik, in der Medicus ein Einzelzimmer ohne Nasszelle bezogen hatte, war eine neue Hierarchie etabliert. Wichtigste Personen waren nicht mehr im ärztlichen und pflegerischen Bereich zu suchen - selbst die Meinung des angesehenen Chefarztes Dr. Hoppe-Weißmantel galt wenig -, alle wesentlichen Entscheidungen wurden vielmehr von der Verwaltung getroffen, genauer gesagt: von der Verwaltungsdirektorin Frau Ulla Schnitt, die von dem gefürchteten Vorsitzenden des Klinikkonzerns Spree AG, einem gewissen Gerhard Schredder - nomen est omen? - für ihre verantwortungsvolle Tätigkeit gewonnen worden war. Schredder und Schnitt hatten schon früh zur Unterstützung ihrer Arbeit eine Kommission berufen, die wegen ihrer zähflüssigen Beratungen im Volksmund „Syrup-Kommission“ genannt wurde und die nur ab und zu durch die Eskapaden eines intellektuellen Fliegenträgers, eines gewissen Professors Lauterkrach, aufgemischt worden war. Frau Schnitt - eine belesene und gebildete Dame - hatte im Übrigen bei ihrem Dienstantritt in allen Arztzimmern ein Rundschreiben anheften und darin extreme Sparmaßnahmen verkünden lassen, ein Schreiben, das in dem etwas modifizierten Zweizeiler aus Goethes „Erlkönig“ gipfelte: „Und bist du nicht billig, dann brauch ich Gewalt“.

Nun, zur Anwendung von Gewalt gegenüber der Personalstelle des Krankenhauses wäre es beinahe gekommen, als die Ärzte ihre zahlreichen, nein zahllosen Überstunden - entgegen den Vorstellungen von Hoppe-Weißmantel - nicht abgegolten bekamen und dies unter dem törichten Motto „Dafür erhaltet ihr Freizeitausgleich“ vollzogen wurde. Der pfiffige Stationsarzt unseres Patienten hatte in diesem Zusammenhang zu Recht auf die semantische Problematik des Wortes „Freizeitausgleich“ hingewiesen und erklärt, dass dies eigentlich ja nicht „Freizeit als Ausgleich“, sondern schon vom Sprachlichen her unsinnigerweise „Ausgleich der Freizeit“ bedeutete. Freizeit müsse also danach durch vermehrte Arbeit und nicht umgekehrt Arbeit durch vermehrte Freizeit ausgeglichen werden. Welche Begriffsverwirrung!

Im Ernst: Wie will man denn ständig als Ausgleich vermehrt Freizeit verordnen, ohne dass für andere Arbeitnehmer mehr Arbeitszeit anfällt? Fast provokativ brachten die Ärzte - natürlich in der Freizeit - ihrem Chefarzt ein Ständchen, in dem sie ein altes Kinderlied sinnvoll abwandelten:

              Hoppe, Hoppe Reiter,
              bleibe unser Leiter!
              Dass er niemals falle,
              wünschen wir uns alle.

Germanicus Medicus drehte sich der Kopf bei all diesen Vorkommnissen, die dem Heilungsprozess durchaus nicht unbedingt dienlich waren. Und wie sollte er erst die zahlreichen neudeutschen Abkürzungen einstufen, die die Sprache der Mediziner und vor allem der Verwaltung immer unverständlicher machten! Im Krankenhaus wurde viel von den DRGs gesprochen, die als Fallpauschalen bundesweit eingeführt werden sollten. DRG bedeutete wohl „Das reicht ganz und gar“, meinte Dr. Hoppe-Weißmantel süffisant, und Germanicus Medicus wurde erinnert an die für die Praxis relevante neue Abkürzung DMP, die von seinen Kollegen entweder als Kürzel für „Diese Masse Papier“ oder „Die maximale Panne“ oder gar als „Deutschland macht Pleite“ angesehen wurde, was allerdings selbst von dem kritischen Medicus als arge Übertreibung empfunden wurde.

Zurück zum Gesundheitszustand unseres Patienten, der angesichts des wenig schmackhaften Krankenhausessens zunächst nicht an Gewicht zunehmen wollte. Und auch bei der Versorgung mit Medikamenten gab es Probleme: Die Verwaltungsdirektorin hatte im Krankenhaus eine so genannte Positivliste mit Billigpräparaten eingeführt, die bei den Schulmedizinern auf Verwunderung, ja auf Belustigung stieß. Schleimhaut des Schweineauges und jugendliche Rinderhoden mochten die Patienten ebenso wenig gern zu sich nehmen wie Blutegelextrakte, selbst nicht in hochgradigen Verdünnungen, die immerhin eine gewisse Sicherheit gaben. Denn wie sagte schon der große Paracelsus: Die Dosis macht das Gift.

Und doch geschah dann eines Tages ein Wunder, die Patientenversorgung wurde deutlich besser, auch Germanicus Medicus nahm endlich an Gewicht zu und hatte zudem kaum noch Anzeichen einer Anämie. Der Grund hierfür war eine optimierte Versorgung der Kranken mit Lebensmitteln und Medikamenten. Was war nun hierfür wiederum die Ursache? War womöglich Ulla Schnitt versetzt worden? Nein, Ulla Schnitt war - gottlob nur vorübergehend - an einer schweren Grippe erkrankt und wurde selbst Patientin in der „Zauberberg-Klinik“. Hier lernte sie die Nachteile der Sparmaßnahmen kennen und war einsichtig genug, nun doch vieles im Sinne von Dr. Hoppe-Weißmantel und seinen Kollegen zu ändern.

Germanicus Medicus wachte eines Morgens in der Klinik schweißgebadet auf. Hatte er das alles nur geträumt? Oder war es doch die gute, die erfreuliche Wahrheit? War das die Metamorphose der „Zauberberg-Klinik“ oder war es doch nur fauler Zauber? Wir wissen es nicht, denn dies war ja nur eine futuristische Betrachtung aus dem Jahre 1930 für das Jahr 2003.

(Heiterkeit - Beifall)

Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, dass ich mit den letzten beiden Sätzen vom Manuskript abweiche und Ihnen versichere, dass wir drei die Verleihung der Paracelsus-Medaille nicht nur als eine hohe Ehre, sondern als eine besondere Verpflichtung empfunden haben. Wir werden unser Engagement in Fragen der Fortbildung, der medizinischen und ärztlichen Probleme in berufspolitischer und gesundheitspolitischer Hinsicht weiter verstärken und uns vermehrt jenen zwei Menschengruppen zuwenden, denen wir uns in Zuneigung, ja - um mit Paracelsus zu sprechen - in Liebe verbunden fühlen: Ich meine unsere Patienten und ich meine die deutsche Ärzteschaft.

(Anhaltender lebhafter Beifall)

(Musikalisches Intermezzo:
Georg Friedrich Händel: G-Dur-Suite aus der „Wassermusik“)

© 2003, Bundesärztekammer.