TOP I : Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik

1. Tag: Dienstag, 20. Mai 2003 Nur Nachmittagssitzung

Dr. Pickerodt, Berlin:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist nach vielen Ärztetagen das erste Mal, dass ich hier sprechen kann, bevor der Antrag auf Begrenzung der Redezeit gestellt worden ist. Ich verspreche Ihnen: Ich werde diese Gelegenheit nicht schamlos ausnutzen, sondern mich so kurz wie irgend möglich halten.

Als ich gestern in der „Frankfurter Rundschau“ Ihr Interview, Herr Präsident, zur Frage des Gesundheitswesens gelesen habe, habe ich gedacht: Ich brauche hier eigentlich gar nicht mehr zu sprechen, ich brauche auch keinen Antrag zu stellen, bis auf die Frage der Qualitätssicherung. Es scheint sich ja alles in einer Harmonie zwischen Politik und Ärzteschaft aufzulösen. Als ich von Ihnen heute gehört habe, Sie müssten sich mit der Ministerin nur zusammensetzen und zu zweit einen neuen Gesetzestext verfassen, dann würde alles gut, habe ich nachzudenken begonnen.

Ich glaube, das Problem liegt nach wie vor in den Details. Ich möchte gern zu einigen Details einige Anmerkungen machen. Ich habe das auch zusammen mit Frau Schlang aus Hessen und Herrn Schwarzkopf-Steinhauser aus Bayern in einem Antrag niedergelegt, der Ihnen umgedruckt zugeht. Es geht um die Finanzierung des Gesundheitswesens. Ich habe heute Morgen vom Vizepräsidenten der hiesigen Ärztekammer gehört: Wir brauchen mehr Geld. Dazu sage ich Ihnen klar: Solange wir nicht die Wirtschaftlichkeitsreserven voll ausgeschöpft haben, brauchen wir nicht mehr Geld. Wir sind mit 11 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Gesundheitswesen eigentlich gut finanziert. Auch im Vergleich mit anderen zivilisierten Ländern liegen wir im oberen Bereich. Es kann nicht sein, dass wir immer nur nach mehr Geld verlangen.

Als die nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin heute ihre Alternativen vorgestellt und vom Produktivitätszuwachs gesprochen hat, haben Sie Ihren Unmut und Ihr Missfallen deutlich zum Ausdruck gebracht. Nur: Wenn wir Wirtschaftlichkeit in der Versorgung herbeiführen, das heißt, wenn wir keine Strukturveränderungen im Gesundheitswesen durchführen, um die zum Teil vorhandene Überversorgung oder Fehlversorgung abzubauen, werden wir keine Unterstützung in der Politik und auch nicht mehr in der Bevölkerung bekommen. Wir können nicht immer nur danach fragen: Wie können wir von den Patienten mehr Geld verlangen? Wie können wir ihnen durch höhere Zuzahlungen oder durch, wie es der Vizepräsident der hiesigen Kammer gesagt hat, durch nicht versicherungsfähige Zuzahlungen in die Tasche greifen? Das ist sicher der falsche Weg; zumindest ist es nicht der solidarische Weg.

Es wird so pauschal immer von der Verbreiterung der Einnahmenbasis gesprochen. Eine solche Verbreiterung setzt sich aus drei Komponenten zusammen, von denen, wie ich denke, alle drei wichtig sind. Zum einen geht es darum, dass Einnahmen aus Vermögen und Vermietung mit herangezogen werden. Zum anderen geht es um die Versicherungspflicht für alle, um die Abschaffung von Ausnahmen für Selbstständige und jene, die oberhalb einer bestimmten Einkommensgrenze liegen. Es muss eine Versicherungspflicht für alle geben, verbunden mit der Möglichkeit einer Zusatzversicherung für Sonderleistungen wie Einbettzimmer und Chefarztbehandlung. Und schließlich geht es um eine deutliche Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze.

Wenn man alle drei Wege beschreitet, wird man den Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung schätzungsweise auf 11 Prozent reduzieren können. Derzeit aber werden 15 Prozent angedroht. Eine solche Senkung der Lohnnebenkosten benötigt man, um zu einem gesamtwirtschaftlich sinnvollen Ergebnis zu kommen.

Die Tabaksteuer wurde bereits angesprochen. Auch wir halten eine Erhöhung im Sinne der Prävention für sinnvoll. Eine Prävention insgesamt wird, wenn sie sinnvoll durchgeführt wird, zu einer Ausgabenminderung führen.

Ein Problem, das in dem Interview mit Ihnen, Herr Hoppe, in der „Frankfurter Rundschau“ angesprochen wurde, scheint mir die Versorgung durch die Hausärzte zu sein. Mir scheinen die Aussagen, die dazu gemacht werden, nicht ganz konsistent zu sein: einerseits die freie Facharztwahl, andererseits aber das Primat der hausärztlichen Versorgung. Wenn es sich tatsächlich nur um das handelt, was auch in der Eröffnungsveranstaltung angesprochen wurde, nämlich den Hausärzten eine Lotsenfunktion zu geben, eine Art Dispatcherfunktion, indem gesagt wird, ob der Patient zum Augenarzt, zum Frauenarzt oder zum Radiologen gehen muss, ist das etwas, was nicht sinnvoll für die finanzielle Basis des Gesundheitswesens sein kann, sondern im Interesse der Patienten ist eine Erhöhung der Kompetenz der Hausärzte erforderlich.

(Zuruf)

- Ich glaube, hier gibt es einen Geschäftsordnungsantrag.

Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Sie haben das Wort, Herr Pickerodt. Lassen Sie sich nicht beirren.

Dr. Pickerodt, Berlin:

Es geht um eine Stärkung der psychosozialen Kompetenz der Hausärzte, um eine Behandlungskompetenz und nicht nur um eine Lotsenfunktion im Gesundheitswesen.

Wenn wir einen Allgemeinarzt kreiert haben - das steht ja auf diesem Ärztetag eindeutig zur Abstimmung -, der von seiner Weiterbildung her geeignet und in der Lage ist, die primäre Behandlung der Patienten durchzuführen, gibt es auch eine Entlastung in finanzieller Hinsicht. Dessen bin ich mir ganz sicher.

Die Angst vor dem geplanten Zentralinstitut wird etwas überbewertet. Da lässt sich sicher noch einiges an Feinformulierungen machen.

Ich komme zum Schluss.

(Beifall)

Die Finanzierung des Gesundheitswesens durch die gesetzliche Krankenversicherung als paritätisch und solidarisch finanziertes System hat sich in über 100 Jahren durchaus bewährt. Wir gingen fehl, wenn wir anfingen, an dieser Basis unseres Systems zu knabbern und es abzubauen. Dieses System hat zu einer Stabilität unserer Gesellschaft im 20. Jahrhundert geführt, die im internationalen Vergleich ziemlich einmalig ist. Wir sollten jeden Schritt genau überlegen, bevor wir anfangen, dort abzubauen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Vereinzelt Beifall)

Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Vielen Dank, Herr Pickerodt. In unserer Geschäftsordnung steht, dass die Redezeit, solange sie durch einen Beschluss des Ärztetages nicht begrenzt wurde, etwa zehn Minuten nicht überschreiten soll. Ich glaube, Herr Pickerodt ist ungefähr in diesem Zeitrahmen geblieben. Dennoch hat Frau Dr. Fick den Antrag gestellt, die Redezeit auf drei Minuten zu begrenzen.

(Beifall)

Möchte jemand gegen diesen Geschäftsordnungsantrag sprechen? - Formal. Dann stimmen wir ab: Wer ist für die Begrenzung der Redezeit auf drei Minuten? - Wer ist dagegen? - Das Erste war die Mehrheit. Wer enthält sich? - Damit ist die Redezeit auf drei Minuten begrenzt. Zur Kontrolle gibt es die Lampe neben dem Rednerpult. Leuchtet sie grün, befindet sich der Redner noch innerhalb seiner Redezeit. Leuchtet sie gelb, geht die Redezeit in Bälde zu Ende. Das rote Licht bedeutet, dass die Redezeit abgelaufen ist.

Das Wort hat jetzt Frau Kollegin Mehlhorn. Bitte schön.

© 2003, Bundesärztekammer.