TOP I : Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik

1. Tag: Dienstag, 20. Mai 2003 Nur Nachmittagssitzung

Henke, Vorstand der Bundesärztekammer:

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf, mit dem wir es zu tun haben, ist ein Entwurf des Misstrauens gegenüber den Leistungser­bringern im Gesundheitswesen. Er ist nicht nur ein Entwurf des Misstrauens uns gegenüber, er ist auch ein Entwurf des Misstrauens gegenüber den Kranken; denn überall dort, wo unsere Handlungsfreiheit eingeschränkt wird, wird zugleich auch die Wahlfreiheit der Kranken eingeschränkt. An die Stelle der souveränen Entscheidungen von Versicherten sollen nämlich Entscheidungen der Versicherungen treten.

Das ist ein Kernmangel. Ich glaube, das ist ein Rückweg aus einer Entwicklung, die wir selber unter Schmerzen in den letzten 20, 30 Jahren gegangen sind. Wir haben ja auch einmal gesagt: salus aegroti suprema lex. Wir haben mühselig lernen müssen, dass die Souveränität des einzelnen Patienten, sein informiertes Einverständnis, seine Wahlentscheidung - voluntas aegroti - eine Richtschnur sind, die eingehalten werden muss.

Nun sagen manche: Der Patient verhält sich im Rahmen seiner Freiheit völlig unlogisch und irrational. Wenn es keine Möglichkeit mehr gibt, eine irrationale Entscheidung zu treffen, dann gibt es auch keine Freiheit mehr oder nur noch eine marxistische Freiheit, Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit. Wenn Freiheit nur die Einsicht in die Notwendigkeit ist, dann ist das ein anderer Begriff von Freiheit, als ich ihn definieren würde.

Ich glaube, deshalb muss es zu einem solidarischen System gehören, dass ein Patient seine Bedenken, seine Sorgen platzieren kann und auch ein Stückchen Irrationalität für ihn offen bleibt, weil er anderenfalls Freiheit nicht mehr registriert.

Ich habe jetzt nicht genug Redezeit, um auch auf die Frage einzugehen, wie es um das Finanzaufkommen bestellt ist. Ich will dazu wenigstens Folgendes sagen: Ich warne uns davor, das gegliederte System über Bord gehen zu lassen, denn ich glaube, dass die Existenz zweier Systeme - eines gesetzlichen und eines privaten Versicherungssystems, und zwar mit einer Vollkostenversicherung - bei allen Problemen in beiden Systemen die Möglichkeit schafft, die beiden Systeme miteinander zu vergleichen. Nur wer vergleichen kann und wer beide Systeme erkennen kann, kann sich frei entscheiden, welches der Systeme er für zweckmäßiger hält. Wer das Vollkostenversicherungssystem in der PKV abschafft, sorgt dafür, dass es anschließend keinen Maßstab mehr gibt, an dem die Qualität der gesetzlichen Krankenversicherung gemessen werden kann, weil man dann die Rationierung überhaupt nicht mehr bemerkt.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall)

Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Schönen Dank, Herr Henke. Als nächster Redner bitte Herr Kollege Dehnst aus Westfalen-Lippe.

© 2003, Bundesärztekammer.