TOP III : Palliativmedizinische Versorgung in Deutschland

3. Tag: Donnerstag, 22. Mai 2003 Vormittagssitzung

Dr. Auerswald, Referentin:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Thema Palliativmedizin ist, glaube ich, auch für die Bevölkerung sehr interessant und außenwirksam. Ich freue mich, hier Herrn Professor Klaschik begrüßen zu dürfen, Chefarzt der Anästhesiologie und Intensivmedizin des Malteser-Krankenhauses in Bonn. Er ist der erste Lehrstuhlinhaber für Palliativmedizin und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.

Begrüßen können wir auch Herrn Dr. Thomas Schindler, Allgemeinarzt, Sekretär der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Mitarbeiter im Palliativmedizinischen Konsiliardienst in Nordrhein-Westfalen.

Beide Kollegen sind seit Jahren unermüdliche Kämpfer für die Etablierung der Palliativmedizin in Deutschland. Ich freue mich sehr, dass sich beide Herren bereitgefunden haben, wichtige Aspekte der Palliativmedizin sowohl aus stationärer als auch aus ambulanter Sicht darzustellen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sind auf dem 105. Deutschen Ärztetag dem Antrag von Herrn Professor Hoppe und mir gefolgt und haben sich mit großer Mehrheit für die Palliativmedizin als Schwerpunktthema des diesjährigen Ärztetages entschieden. Das geschah im Jahre 2002. Dieses Jahr war für uns sehr prägend durch neue Gesetzgebungen in den Niederlanden und in Belgien zur Euthanasie oder auch zur aktiven Sterbehilfe. In diesen Ländern war die Zielsetzung, die Kolleginnen und Kollegen, die aktive Sterbehilfe leisten, aus dem rechtsfreien Raum herauszuholen. Für uns war sehr eindrucksvoll, als wir im vorigen Jahr als Gast unseren Kollegen Dr. Wynen aus Belgien hörten, der uns sichtlich bewegt schilderte, dass er sich schäme, ein Bürger seines Heimatlandes Belgien zu sein. Er kritisierte damals die Verabschiedung eines Gesetzes, das die Euthanasie regelt, als Ergebnis einer Infektion, die sich sehr schnell ausgebreitet habe. Diese Infektion habe in den Niederlanden ihren Ursprung, bedrohe jedoch die gesamte Ärzteschaft - und zwar grenzüberschreitend - und sei zutiefst unmoralisch.

Ich denke, es steht uns nicht an, darüber zu urteilen, wie sich unsere Nachbarn entschieden haben. Wir haben gelernt: Um eine Infektion zu vermeiden, ist es notwendig, präventiv tätig zu werden. Das ist dringend notwendig, denn auch in Deutschland gibt es entsprechende Tendenzen. Umfragen des Forsa-Instituts belegen, dass zurzeit 70 Prozent der deutschen Bevölkerung wünschen, dass die aktive Sterbehilfe bei uns zugelassen werden sollte. Allerdings bin ich nicht ganz sicher, ob alle Befragten auch wissen, was darunter wirklich zu verstehen ist. Würde man die Menschen fragen, ob sie im Falle einer unheilbaren Krankheit getötet bzw. eingeschläfert werden wollen, sähe das Ergebnis sicherlich anders aus.

Noch bedenklicher allerdings finde ich den hohen Grad an Zustimmung zur Sterbehilfe innerhalb der Ärzteschaft: Derselben Umfrage zufolge gehören 48 Prozent aller Ärztinnen und Ärzte zu den Befürwortern der aktiven Sterbehilfe. Studien belegen, dass dies häufig aus Unkenntnis über die Möglichkeiten der Palliativmedizin erfolgt.

Erfreulich ist, dass es in allen Kammerbereichen hoch motivierte Kolleginnen und Kollegen gibt, die mit großem persönlichem Einsatz schwerstkranke Patientinnen und Patienten versorgen. Es gibt sehr viele gute Modellprojekte in allen Bundesländern, die aber selten über das Stadium des Modellprojekts hinauskommen, geschweige denn, dass sie in die Regelfinanzierung übernommen werden. In allen Kammerbereichen hat das Thema Palliativmedizin große Beachtung gefunden. Auch das Interdisziplinäre Forum der Bundesärztekammer hat sich im Jahr 2000 damit befasst.

Was ist Palliativmedizin? Nach der Definition der WHO ist Palliativmedizin die aktive ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten, weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, zu der die Erkrankung nicht mehr auf kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung der Schmerzen und anderer Krankheitsbeschwerden sowie psychologischer, sozialer und spiritueller Probleme höchste Priorität besitzt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist keine neue Disziplin! Es gab Zeiten, da musste sich die Ärzteschaft mehr der Palliation widmen, denn es gab einfach noch nicht so viele Krankheiten, die man kurativ behandeln konnte. Wir können daher auch froh sein, dass sich dies zugunsten der Heilung gewandelt hat. Doch wir erleben als Ärztinnen und Ärzte täglich, dass es Krankheiten gibt, die eben nicht präventiv verhindert oder beseitigt werden können, die nicht den Gesetzen der Rehabilitation unterliegen.

Wenden wir uns wieder dem eigentlichen Thema zu: Palliativmedizin ist das Fachgebiet, in dem alle interprofessionell zusammenarbeiten - Pflegeberufe, Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten, Theologen, Sozialarbeiter und ausgebildete Hospizhelfer.

Der Ausgang der Entwicklung der Hospizidee und der Palliativmedizin war das Christopher’s Hospice unter Cicely Saunders vor 35 Jahren. Die Entwicklung ging in den angloamerikanischen Ländern schneller voran als bei uns. Dort haben sich stationäre und ambulante Einrichtungen mit hohen Qualitätsstandards zeitgleich entwickelt. In Deutschland entwickelten sich - geschichtlich bedingt - Hospizbewegung und Palliativmedizin unterschiedlich, bewegen sich in der letzten Zeit aber wieder aufeinander zu. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, als wir die Ideen der ambulanten Palliativstationen entwickelten, dass gesagt wurde: Sterbehäuser wollen wir hier nicht haben.

In Deutschland gibt es zurzeit 75 Palliativstationen, das heißt sieben Betten auf 1 Million Einwohner. Der Bedarf, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegt - ich denke, da muss man genau zuhören - bei 30 Betten pro 1 Million Einwohner. Ambulante Palliativdienste existieren insgesamt 30 in Deutschland, pro 1 Million Einwohner würden aber vier benötigt.

Neben den Palliativstationen und Palliativdiensten werden 99 stationäre Hospize geführt. Auch hier ergibt sich noch immer eine Unterversorgung. An Hospizbetten gibt es elf auf 1 Million Einwohner, benötigt werden aber 20.

Man rechnet, dass circa 25 Prozent aller Tumorpatienten eine palliativmedizinische Versorgung benötigen. Circa 5 Prozent der Tumorpatienten können dies heute in Anspruch nehmen.

Der Blick darf sich aber auch nicht abwenden von den chronischen Erkrankungen, die konsumierend zu einem Ende führen. Ich denke da an neurologische Erkrankungen und nicht zuletzt die alten multimorbiden Patienten. Ich bitte, dies nicht mit den geriatrischen Patienten zu verwechseln, die im Anschluss an eine akute Erkrankung einer Rehabilitationsmaßnahme zugeführt werden.

Gerade unter ökonomischen Gesichtspunkten wird in jüngster Zeit auch die Frage diskutiert, ob alte Patienten noch aufwendige oder kostenintensive Behandlungen erfahren sollten. Solche Überlegungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, finde ich persönlich zutiefst unethisch. Sie fordern unseren deutlichen Widerspruch heraus.

(Beifall)

Wir lehnen Altersgrenzen für Behandlungen ab, wie sie beispielsweise in Großbritannien schon existieren. Das ist rücksichtslose Rationierung, bei der auch in Kauf genommen wird, dass Menschen vorzeitig sterben. So weit darf es bei uns nicht kommen!

Nun zur politischen Ist-Situation in Deutschland: Die 75. Gesundheitsministerkonferenz hat sich im Jahre 2002 in Düsseldorf mit dem Thema „Würdevolles Sterben“ beschäftigt. Die GMK erhebt mit diesem Bericht eine Bewertung der deutschen Rahmenbedingungen ambulanter und stationärer Sterbebegleitung vor dem Hintergrund der Entwicklungsstände anderer Länder, insbesondere europäischer Nachbarstaaten.

Sie unterscheiden leider nicht genau zwischen Sterbebegleitung und Palliativmedizin. Gleichzeitig erwartet die GMK von uns aber ein zwischen Ärzteschaft und Pflege abgestimmtes Konzept. Im Rahmen der Palliativmedizin ist dieses existent.

Die von uns verabschiedeten Grundsätze zur Sterbebegleitung aus dem Jahre 1998, die unter der Federführung von Professor Beleites entwickelt wurden, geben der deutschen Ärzteschaft gute Handlungsanweisungen. Was aber die Gesundheitsministerkonferenz völlig verkannt hat, sind der ganzheitliche Ansatz, die interprofessionelle Versorgung und die Verbesserung der Lebensqualität in Form der Palliativmedizin.

Wir fordern eine massive Unterstützung in der flächendeckenden Versorgung in der Palliativmedizin durch Politik und Krankenkassen. Es ist von Länderseite nicht damit getan, Palliativstationen allein in den Landeskrankenhausplänen auszuweisen; sie müssen auch eingerichtet werden.

Wir werden auf diesem Deutschen Ärztetag mit der Verabschiedung der neuen Weiterbildungsordnung - dies wird hoffentlich heute Mittag geschehen - ein gutes Stück auf diesem Weg weiterkommen. Die Medizinischen Fakultäten werden aufgerufen, die Palliativmedizin zügig in ihre Lehrpläne mit einzubeziehen. Es müssen mehr Palliativlehrstühle eingerichtet werden. Bislang gibt es, soweit ich informiert bin, nur zwei solcher Lehrstühle in Deutschland! In Köln tut man sich zurzeit noch sehr schwer mit der Besetzung des Lehrstuhls für Palliativmedizin. Das ist umso erstaunlicher, da ja die Krebshilfe in Köln schon vorab sehr viel Geld investiert hat.

Kommen wir nun zu unserem allseits bekannten wie auch klugen Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Auch er hat sich mit diesem Thema beschäftigt. In der sehr ausführlichen Ausgabe des dritten Bandes zur Unter-, Über- und Fehlversorgung geht man auf die onkologischen Erkrankungen ein. Aber auch hier klaffen Theorie und Praxis auseinander. Der weise Rat empfiehlt: Ausbau von stationären und ambulanten Betreuungseinheiten; qualitätsorientierte Forschungsprojekte; leitliniengerechte Opiattherapie und bessere Kooperation mit Schmerztherapeuten sowie multidisziplinäre Zusammenarbeit.

Zum Schluss kommt der Hinweis, dass die ambulante und stationäre Betreuung im Rahmen von Hospizdiensten und palliativmedizinischen Versorgungsangeboten gestärkt werden müsse. Wie wahr, wie wahr!

Leider hat der weise Rat aber die Jekill-und-Hyde-Seiten der Gesundheitspolitik nicht mit im Blick; denn mit der Einführung der DRGs und dem typisch deutschen 100-Prozent-Ansatz sieht es für die Palliativstationen zurzeit sehr schlecht aus. Einigen droht im Augenblick schon jetzt das Aus. Wir hoffen, dass durch die Nachbesserung des DRG-Gesetzes hier eine Besserung eintritt.

Palliativmedizinische Verläufe sind aufwendig und lassen sich einfach nicht standardisieren. Wir haben es mit einem hohen Personalschlüssel zu tun, einem multiprofessionellen Team, einem hohen Anteil versterbender Patienten - verbunden mit der Betreuung von Angehörigen. Die Behandlungsdauer ist bei solchen Patienten nicht planbar.

Im Zeitraum vom 1. Mai bis zum 31. August wurden im Rahmen der Kerndokumentation für Palliativeinheiten Diagnosen und Prozeduren sowie administrative Daten in 57 Zentren erhoben, die nach der „Münsteraner Mapping-Liste“ ausgewertet wurden. Wie zu erwarten war, sind die Verweildauern länger als in kurativen Abteilungen. Der DRG-Gruppierungsalgorithmus berücksichtigt nicht den Unterschied zwischen kurativ und palliativ, sondern pauschaliert. Der mittlere Behandlungsaufwand kann nicht aufgrund der Haupt- und Nebendiagnosen abgeschätzt werden.

Das pauschalierte Vergütungssystem darf nicht dazu führen, dass Palliativmedizin aus ökonomischen Gründen nicht mehr angeboten werden kann. Uns ist bekannt, dass manche Krankenkassen - ich werde hier keine Namen nennen - noch unter dem alten Vergütungssystem Aufenthalte auf Palliativstationen von sieben auf vier Tage gekürzt haben, vom grünen Tisch aus - Begründung offen, also wahrscheinlich überflüssig.

Die Aussagen eines einzelnen Herrn, dass 1 400 Krankenhäuser in den Bereich der Überversorgung gehören, dass DMPs dazu dienen, stationäre Aufenthalte zu vermeiden, helfen uns in der Palliativmedizin nicht. Wir werden uns sicherlich auch immer weiter der evidenzbasierten Medizin zuwenden müssen. Aber in der Palliativmedizin werden wir letztendlich auf unsere Patienten und deren Angehörige hören müssen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch der Ruf nach immer mehr Wettbewerb in unserem System konterkariert die menschenwürdige Versorgung von Schwerstkranken. Das kann nicht funktionieren!

(Beifall)

Palliativmedizin unter Wettbewerbsbedingungen ist einfach nicht vorstellbar.

Die Behandlung und Betreuung von todkranken Menschen muss frei sein von ökonomischen Erwägungen. Diese Menschen brauchen unser ganzes ärztliches Können, unsere Zuwendung und Mitmenschlichkeit. Sie brauchen Fürsorge und professionelle Hilfe wie auch spirituelle Unterstützung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns Überzeugungstäter in Sachen Palliativmedizin werden!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe sehr, dass Sie unseren Vorstandsantrag unterstützen werden.

(Anhaltender Beifall)

© 2003, Bundesärztekammer.