TOP III : Palliativmedizinische Versorgung in Deutschland

3. Tag: Donnerstag, 22. Mai 2003 Vormittagssitzung

Prof. Dr. Klaschik, Referent:

Sehr geehrter Herr Präsident Hoppe! Sehr geehrte Frau Auerswald! Der Applaus hat Ihnen gezeigt, welche Überzeugungsarbeit Sie in Richtung Palliativmedizin betrieben haben. Ich möchte dort anfangen, wo Sie aufgehört haben. Es geht auf diesem Ärztetag unter anderem um die Frage, inwiefern die Palliativmedizin in die (Muster‑)Weiterbildungsordnung aufgenommen werden soll. Es erhebt sich die Frage, inwiefern der Ärztetag damit eine Entwicklung vorausnimmt oder einer abgelaufenen Entwicklung stattgibt.

Wie sieht die Situation in Europa aus? Großbritannien und Polen haben relativ frühzeitig Palliativgesellschaften gegründet. Deutschland liegt im Mittelfeld. Wir haben vor 1995 begonnen, andere Staaten erst vor dem Jahr 2000 oder später. Es gibt in Europa sehr viele palliativmedizinische Gesellschaften. Es wurden große Initiativen in die Wege geleitet.

Entsprechende Curricula gibt es in circa acht europäischen Staaten. Ich möchte hervorheben, dass Deutschland, Finnland, Großbritannien und Polen entsprechende Curricula haben. Auch bei den Lehrstühlen für Palliativmedizin sind Deutschland, Finnland, Großbritannien und Polen neben einigen anderen europäischen Ländern vertreten. Aber die anderen Staaten hatten beispielsweise keine Curricula.

Wenn man fragt, in welchen Ländern es eine entsprechende Zusatzweiterbildung in Europa gibt, schrumpft die Zahl der infrage kommenden Länder weiter. In Finnland, Großbritannien und Polen gibt es die entsprechende Zusatzweiterbildung; in Deutschland wird dies, denke ich, auf den Weg gebracht. Wir haben meines Erachtens in Deutschland die große Chance, zu den führenden Nationen aufzuschließen. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir eine zufrieden stellende Lösung dieses Problems gefunden haben.

In Köln wurde die erste Palliativstation 1983 gegründet. Diese Station konnte 1984 weniger als 40 Patienten pro Jahr behandeln. Im vergangenen Jahr konnten wir in 74 Palliativstationen und 99 Hospizen über 16 000 Patienten behandeln. Wir sind also auf dem richtigen Weg. In den 80er-Jahren hatten wir in Deutschland nahezu keine Entwicklung in Bezug auf die Palliativmedizin. Wir hatten im europaweiten Vergleich einen relativ frühen Start, aber damals war Deutschland meines Erachtens noch nicht so weit, die Palliativmedizin entscheidend voranzutreiben. In den 90er-Jahren schritt die Entwicklung eindrucksvoll voran. Frau Dr. Auerswald hat bereits darauf hingewiesen, dass wir jetzt 74 Palliativstationen und 99 Hospize haben.

1986 gab es in Deutschland das erste Hospiz. In den 80er-Jahren tat sich darüber hinaus fast nichts. 1994 wurde die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin gegründet. Nicht zuletzt durch die Verdienste der Gesellschaft, parallel dazu aber auch durch die Sensibilisierung anderer Bereiche wurde die Palliativmedizin nicht nur in Palliativstationen und Hospizen, sondern auch in anderen Bereichen vorangetrieben. Seit 1996 gibt es immer wieder entsprechende nationale Kongresse.

1997 gab es die ersten Curricula. Wenn wir unsere deutschen Curricula im internationalen Vergleich messen, müssen wir feststellen, dass sie einen ausgesprochen hohen Standard aufweisen. Es erschien 1997 das erste Lehrbuch für Palliativmedizin. 1999 gab es die erste Professur für Palliativmedizin, die zweite folgte vor wenigen Monaten.

In der Zwischenzeit haben wir einen Förderpreis und auch eine Zeitschrift für Palliativmedizin. In der neuen Approbationsordnung wird erstmalig der Begriff Palliativmedizin erwähnt. Leider ist die Palliativmedizin in der Approbationsordnung nicht als Pflicht-Lehr- und ‑prüfungsfach etabliert worden. Hier haben wir meiner Meinung nach eine große Chance verpasst. Ich habe in dieser Richtung mit dem Bundesministerium für Gesundheit mehrere Gespräche geführt. Leider ist unserem Anliegen nicht in dem von uns gewünschten Ausmaß Rechnung getragen worden.

Am heutigen Tage steht im Zusammenhang mit der (Muster‑)Weiterbildungsordnung die entsprechende Entscheidung an. Ich hoffe, dass ich noch etwas dazu beitragen kann, dass die Palliativmedizin in Deutschland die Chance erhält, die sie wirklich verdient.

Auf der Basis des bisher Gesagten kann ich festhalten, dass man eindrucksvoll nachweisen kann, dass wir in den letzten 20 Jahren die Palliativmedizin in Bewegung gebracht haben, dass wir aber weit entfernt sind von einer zufrieden stellenden Umsetzung.

In Nordrhein-Westfalen wurde die erste Palliativstation gegründet, dort etablierte sich das erste Hospiz, dort gab es die erste Professur für Palliativmedizin. In Nordrhein-Westfalen gibt es die meisten Palliativstationen und Hospize. In Nordrhein-Westfalen ist beispielsweise die Region Bonn/Köln gut versorgt, aber es gibt auch eine große Anzahl von Gebieten, die unzureichend versorgt sind, wo kein einziges Palliativbett vorgehalten wird.

Wenn wir über Leidensminderung sprechen, müssen wir uns darüber im Klaren sein: Wenn wir tatsächlich ein Bollwerk gegen die Euthanasie entwickeln wollen, dann müssen wir eine flächendeckende Versorgung mit Palliativmedizin sicherstellen. Leid gibt es überall und die Palliativstationen dürfen nicht vereinzelt in der Peripherie liegen, wohin die Patienten nicht kommen können.

Lassen Sie mich auf die Frage eingehen, inwieweit die Palliativmedizin eine Notwendigkeit ist. Ich nenne zunächst die Ihnen bekannte demographische und soziale Entwicklung. Wir haben eine medizinische Entwicklung zu verzeichnen, die uns die Grenzen der Behandlung erweitert und die eine Sterbensverlängerung - sinnvoll oder unsinnig - ermöglicht. Darüber hinaus gibt es eine enorme Debatte über die Sterbehilfe. Ich bin nach wie vor Arzt an der Basis und mich erschreckt es, in welchem Ausmaß die Verabschiedung der entsprechenden Gesetze in Belgien und Holland in Deutschland den Gedanken einer aktiven Sterbehilfe auch im ärztlichen Bereich unterstützt hat, statt dass die Ärzte ein Bollwerk dagegen bilden.

Lassen Sie mich kurz auf die demographische Situation eingehen. 1960 gab es in Deutschland 1,2 Millionen Einwohner, die älter als 80 Jahre waren. Diese Zahl hat sich 1980 auf 2,1 Millionen und 1998 auf 2,9 Millionen erhöht. Für 2020 rechnet man mit 5,3 Millionen. Die Sozialstruktur hat sich dahin entwickelt, dass in Deutschland knapp 40 Prozent Singlehaushalte sind.

Wir haben bei den Tumorerkrankungen eine unveränderte hohe Sterblichkeit. Alle renommierten Onkologen sagen, dass sich hier in den nächsten Jahren keine Veränderung ergeben wird. Es wird eine steigende Anzahl von Patienten geben, die an den Folgen ihrer Tumorerkrankung sterben werden. Das hat für mich zwei Konsequenzen. Zum einen müssen wir die Forschung intensivieren. Diese Arbeit muss jetzt begonnen werden, damit in Zukunft die Früchte geerntet werden können. Zum anderen brauchen wir zwingend eine Verbesserung der palliativmedizinischen Versorgung nicht heilbarer Patienten. Das Know-how haben wir; es liegt an uns, jetzt die Palliativmedizin auf den Weg zu bringen. Ich persönlich bin der Meinung, dass wir dann morgen die Palliativmedizin relativ kostengünstig umsetzen können.

Die Aufgabe der Palliativmedizin für nicht heilbare Patienten, die nur noch eine begrenzte Lebenserwartung haben, besteht für mich darin, diesen Patienten eine vernünftige Lebensperspektive zu vermitteln. Das können wir tun, indem wir diesen Patienten eine Unterstützung in Bezug auf physische, psychische, soziale und spirituelle Aspekte geben und wenn wir uns ethischen Fragestellungen zuwenden. Palliativmedizin ist für mich keine resignative, keine passive Medizin, sondern eine aktive Medizin, die den Patienten durch eine ausreichende Schmerzreduktion, durch Symptomkontrolle, durch Leidensminderung, durch Respekt vor der Autonomie und der Selbstbestimmung ein Leben in Würde bis zuletzt ermöglicht.

Ich möchte noch einen Aspekt betonen, der mir persönlich wichtig ist, weil die Palliativmedizin oft ein wenig so interpretiert wird, als bewegten wir uns nur im empathischen Bereich. Ich möchte mit einigen Bildern unterstreichen, dass wir mit Patienten konfrontiert werden, die außerordentlich dringend der fachlichen Expertise aus der Palliativmedizin bedürfen. Für mich ist ein Leitsatz in der Palliativmedizin, dass es nicht um die Frage geht „Behandeln oder nicht behandeln?“, sondern um die Frage „Welche ist die angemessene Behandlung für diesen Patienten?“. Sie sehen hier eine Patientin, die bis zuletzt in einer hoch differenzierten onkologischen Therapie war, die ein ausgeprägtes Mammakarzinom beidseitig hatte, bis in den Rücken metastasierend. Sie sehen eine weitere Patientin mit einem Mammakarzinom, bei der nicht der Schmerz im Vordergrund stand, sondern die Tumoren waren wie eine fibrosierende Masse um den Thorax herum gewachsen und führten bei der Patientin zu einer extremen
Atemnot.

Lassen Sie mich abschließend darauf hinweisen, dass die Palliativmedizin nicht nur in Deutschland ein Problem ist. Es gibt weltweit das Problem der unzureichenden Schmerzlinderung und Leidenslinderung unter Aufrechterhaltung der Menschenwürde. Wir dürfen auch nicht die Aspekte der Finanzierung aus dem Auge verlieren; hierauf hat Frau Dr. Auerswald bereits hingewiesen. Wir brauchen eine gerechte Verteilung von Geldern: für die Prävention, für die Früherkennung, für die Heilung, für die Nachsorge und für die Palliativmedizin. Nach unseren Hochrechnungen ist die Palliativmedizin nicht ohne Kosten zu verwirklichen, aber für das, was wir erreichen können, ist sie eine preiswerte Medizin.

Wir brauchen zukünftig eine ortsnahe Umsetzung, primär im ambulanten Bereich, und zwar durch den Hausarzt, durch onkologische Schwerpunktpraxen. Diese müssen durch ambulante Palliativdienste unterstützt werden, damit die Patienten so lange wie möglich zu Hause bleiben können. Wir brauchen auch palliativmedizinische Konsiliardienste.

Wir brauchen dringend an den Universitäten entsprechende Lehre, Forschung und Zentren. Es kann nicht angehen, dass es bei 35 Medizinischen Fakultäten nur zwei Professuren für Palliativmedizin gibt. Wir sind auf dem richtigen Weg, aber es gibt noch enorme Lücken. Das gilt auch für die Finanzierung. Hierauf ist Frau Dr. Auerswald bereits ausführlich eingegangen.

Meine Damen und Herren, ich möchte mein Referat mit dem Hinweis beschließen, dass wir mit der Palliativmedizin in der Lage sind, Schmerzen und andere Symptome auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Für mich persönlich ist es immer wieder faszinierend, dass wir die Patienten zwar nicht schmerzfrei bekommen und Leid nicht beseitigen können, dass wir aber eine Leidensreduktion erreichen können, sodass die Patienten die von mir bereits erwähnte Lebensperspektive sehen. Wir können unnötiges Leid verhindern oder beseitigen und eigentlich immer die Würde des Menschen wieder herstellen.

Recht schönen Dank.

(Beifall)

Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Vielen Dank, Herr Professor Klaschik, vielen Dank natürlich auch Frau Auerswald. Ich komme auf die beiden Referate noch zurück. Zuvor aber hören wir das Referat von Herrn Kollegen Schindler. Bitte schön, Herr Kollege Schindler.

© 2003, Bundesärztekammer.