Prof. Dr. Klaschik, Referent:
Sehr geehrter Herr
Präsident Hoppe! Sehr geehrte Frau Auerswald! Der Applaus hat Ihnen gezeigt,
welche Überzeugungsarbeit Sie in Richtung Palliativmedizin betrieben haben. Ich
möchte dort anfangen, wo Sie aufgehört haben. Es geht auf diesem Ärztetag unter
anderem um die Frage, inwiefern die Palliativmedizin in die (Muster‑)Weiterbildungsordnung
aufgenommen werden soll. Es erhebt sich die Frage, inwiefern der Ärztetag damit
eine Entwicklung vorausnimmt oder einer abgelaufenen Entwicklung stattgibt.
Wie sieht die Situation in Europa aus? Großbritannien und
Polen haben relativ frühzeitig Palliativgesellschaften gegründet. Deutschland
liegt im Mittelfeld. Wir haben vor 1995 begonnen, andere Staaten erst vor dem
Jahr 2000 oder später. Es gibt in Europa sehr viele palliativmedizinische Gesellschaften. Es wurden große Initiativen in die
Wege geleitet.
Entsprechende Curricula gibt es in circa acht europäischen
Staaten. Ich möchte hervorheben, dass Deutschland, Finnland, Großbritannien und
Polen entsprechende Curricula haben. Auch bei den Lehrstühlen für
Palliativmedizin sind Deutschland, Finnland, Großbritannien und Polen neben
einigen anderen europäischen Ländern vertreten. Aber die anderen Staaten hatten
beispielsweise keine Curricula.
Wenn man fragt, in welchen Ländern es eine entsprechende
Zusatzweiterbildung in Europa gibt, schrumpft die Zahl der infrage kommenden
Länder weiter. In Finnland, Großbritannien und Polen gibt es die entsprechende
Zusatzweiterbildung; in Deutschland wird dies, denke ich, auf den Weg gebracht.
Wir haben meines Erachtens in Deutschland die große Chance, zu den führenden
Nationen aufzuschließen. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir eine
zufrieden stellende Lösung dieses Problems gefunden haben.
In Köln wurde die erste Palliativstation 1983 gegründet.
Diese Station konnte 1984 weniger als 40 Patienten pro Jahr behandeln. Im
vergangenen Jahr konnten wir in 74 Palliativstationen und 99 Hospizen über
16 000 Patienten behandeln. Wir sind also auf dem richtigen Weg. In den
80er-Jahren hatten wir in Deutschland nahezu keine Entwicklung in Bezug auf die
Palliativmedizin. Wir hatten im europaweiten Vergleich einen relativ frühen
Start, aber damals war Deutschland meines Erachtens noch nicht so weit, die
Palliativmedizin entscheidend voranzutreiben. In den 90er-Jahren schritt die
Entwicklung eindrucksvoll voran. Frau Dr. Auerswald hat bereits darauf
hingewiesen, dass wir jetzt 74 Palliativstationen und 99 Hospize haben.
1986 gab es in Deutschland das erste Hospiz. In den
80er-Jahren tat sich darüber hinaus fast nichts. 1994 wurde die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin gegründet. Nicht
zuletzt durch die Verdienste der Gesellschaft,
parallel dazu aber auch durch die Sensibilisierung anderer Bereiche wurde die
Palliativmedizin nicht nur in Palliativstationen und Hospizen, sondern auch in
anderen Bereichen vorangetrieben. Seit 1996 gibt es immer wieder entsprechende
nationale Kongresse.
1997 gab es die ersten Curricula. Wenn wir unsere
deutschen Curricula im internationalen Vergleich messen, müssen wir
feststellen, dass sie einen ausgesprochen hohen Standard aufweisen. Es erschien
1997 das erste Lehrbuch für Palliativmedizin. 1999 gab es die erste Professur
für Palliativmedizin, die zweite folgte vor wenigen Monaten.
In der Zwischenzeit haben wir einen Förderpreis und auch
eine Zeitschrift für Palliativmedizin. In der neuen Approbationsordnung wird
erstmalig der Begriff Palliativmedizin erwähnt. Leider ist die Palliativmedizin
in der Approbationsordnung nicht als Pflicht-Lehr- und ‑prüfungsfach
etabliert worden. Hier haben wir meiner Meinung nach eine große Chance
verpasst. Ich habe in dieser Richtung mit dem Bundesministerium für Gesundheit mehrere Gespräche geführt. Leider ist
unserem Anliegen nicht in dem von uns gewünschten Ausmaß Rechnung getragen
worden.
Am heutigen Tage steht im Zusammenhang mit der (Muster‑)Weiterbildungsordnung
die entsprechende Entscheidung an. Ich hoffe, dass ich noch etwas dazu beitragen
kann, dass die Palliativmedizin in Deutschland die Chance erhält, die sie
wirklich verdient.
Auf der Basis des bisher Gesagten kann ich festhalten,
dass man eindrucksvoll nachweisen kann, dass wir in den letzten 20 Jahren die
Palliativmedizin in Bewegung gebracht haben, dass wir aber weit entfernt sind
von einer zufrieden stellenden Umsetzung.
In Nordrhein-Westfalen wurde die erste Palliativstation
gegründet, dort etablierte sich das erste Hospiz, dort gab es die erste
Professur für Palliativmedizin. In Nordrhein-Westfalen gibt es die meisten
Palliativstationen und Hospize. In Nordrhein-Westfalen ist beispielsweise die
Region Bonn/Köln gut versorgt, aber es gibt auch eine große Anzahl von
Gebieten, die unzureichend versorgt sind, wo kein einziges Palliativbett
vorgehalten wird.
Wenn wir über Leidensminderung sprechen, müssen wir uns
darüber im Klaren sein: Wenn wir tatsächlich ein Bollwerk gegen die Euthanasie
entwickeln wollen, dann müssen wir eine flächendeckende Versorgung mit
Palliativmedizin sicherstellen. Leid gibt es überall und die Palliativstationen
dürfen nicht vereinzelt in der Peripherie liegen, wohin die Patienten nicht
kommen können.
Lassen Sie mich auf die Frage eingehen, inwieweit die
Palliativmedizin eine Notwendigkeit ist. Ich nenne zunächst die Ihnen bekannte
demographische und soziale Entwicklung. Wir haben eine medizinische Entwicklung
zu verzeichnen, die uns die Grenzen der Behandlung erweitert und die eine
Sterbensverlängerung - sinnvoll oder unsinnig - ermöglicht. Darüber hinaus gibt
es eine enorme Debatte über die Sterbehilfe. Ich bin nach wie vor Arzt an der
Basis und mich erschreckt es, in welchem Ausmaß die Verabschiedung der
entsprechenden Gesetze in Belgien und Holland in Deutschland den Gedanken einer
aktiven Sterbehilfe auch im ärztlichen Bereich unterstützt hat, statt dass die
Ärzte ein Bollwerk dagegen bilden.
Lassen Sie mich kurz auf die demographische Situation
eingehen. 1960 gab es in Deutschland 1,2 Millionen Einwohner, die älter als 80
Jahre waren. Diese Zahl hat sich 1980 auf 2,1 Millionen und 1998 auf 2,9
Millionen erhöht. Für 2020 rechnet man mit 5,3 Millionen. Die Sozialstruktur
hat sich dahin entwickelt, dass in Deutschland knapp 40 Prozent
Singlehaushalte sind.
Wir haben bei den Tumorerkrankungen eine unveränderte hohe
Sterblichkeit. Alle renommierten Onkologen sagen, dass sich hier in den
nächsten Jahren keine Veränderung ergeben wird. Es wird eine steigende Anzahl
von Patienten geben, die an den Folgen ihrer Tumorerkrankung sterben werden.
Das hat für mich zwei Konsequenzen. Zum einen müssen wir die Forschung
intensivieren. Diese Arbeit muss jetzt begonnen werden, damit in Zukunft die Früchte geerntet werden können. Zum
anderen brauchen wir zwingend eine Verbesserung der palliativmedizinischen
Versorgung nicht heilbarer Patienten. Das Know-how haben wir; es liegt an uns,
jetzt die Palliativmedizin auf den Weg zu bringen. Ich persönlich bin der
Meinung, dass wir dann morgen die Palliativmedizin relativ kostengünstig
umsetzen können.
Die Aufgabe der Palliativmedizin für nicht heilbare
Patienten, die nur noch eine begrenzte Lebenserwartung haben, besteht für mich
darin, diesen Patienten eine vernünftige Lebensperspektive zu vermitteln. Das
können wir tun, indem wir diesen Patienten eine Unterstützung in Bezug auf physische,
psychische, soziale und spirituelle Aspekte geben und wenn wir uns ethischen
Fragestellungen zuwenden. Palliativmedizin ist für mich keine resignative,
keine passive Medizin, sondern eine aktive Medizin, die den Patienten durch
eine ausreichende Schmerzreduktion, durch Symptomkontrolle, durch
Leidensminderung, durch Respekt vor der Autonomie und der Selbstbestimmung ein
Leben in Würde bis zuletzt ermöglicht.
Ich möchte noch einen Aspekt betonen, der mir persönlich
wichtig ist, weil die Palliativmedizin oft ein wenig so interpretiert wird, als
bewegten wir uns nur im empathischen Bereich. Ich möchte mit einigen Bildern
unterstreichen, dass wir mit Patienten konfrontiert werden, die außerordentlich
dringend der fachlichen Expertise aus der Palliativmedizin bedürfen. Für mich
ist ein Leitsatz in der Palliativmedizin, dass es nicht um die Frage geht
„Behandeln oder nicht behandeln?“, sondern um die Frage „Welche ist die
angemessene Behandlung für diesen Patienten?“. Sie sehen hier eine Patientin,
die bis zuletzt in einer hoch differenzierten onkologischen Therapie war, die
ein ausgeprägtes Mammakarzinom beidseitig hatte, bis in den Rücken
metastasierend. Sie sehen eine weitere Patientin mit einem Mammakarzinom, bei
der nicht der Schmerz im Vordergrund stand, sondern die Tumoren waren wie eine
fibrosierende Masse um den Thorax herum gewachsen und führten bei der Patientin
zu einer extremen
Atemnot.
Lassen Sie mich abschließend darauf hinweisen, dass die
Palliativmedizin nicht nur in Deutschland ein Problem ist. Es gibt weltweit das
Problem der unzureichenden Schmerzlinderung und Leidenslinderung unter
Aufrechterhaltung der Menschenwürde. Wir dürfen auch nicht die Aspekte der Finanzierung aus dem Auge verlieren; hierauf hat
Frau Dr. Auerswald bereits hingewiesen. Wir brauchen eine gerechte Verteilung
von Geldern: für die Prävention, für die Früherkennung, für die Heilung, für
die Nachsorge und für die Palliativmedizin. Nach unseren Hochrechnungen ist die
Palliativmedizin nicht ohne Kosten zu verwirklichen, aber für das, was wir
erreichen können, ist sie eine preiswerte Medizin.
Wir brauchen zukünftig eine ortsnahe Umsetzung, primär im
ambulanten Bereich, und zwar durch den Hausarzt, durch onkologische
Schwerpunktpraxen. Diese müssen durch ambulante Palliativdienste unterstützt
werden, damit die Patienten so lange wie möglich zu Hause bleiben können. Wir
brauchen auch palliativmedizinische Konsiliardienste.
Wir brauchen dringend an den Universitäten entsprechende
Lehre, Forschung und Zentren. Es kann nicht angehen, dass es bei 35
Medizinischen Fakultäten nur zwei Professuren für Palliativmedizin gibt. Wir
sind auf dem richtigen Weg, aber es gibt noch enorme Lücken. Das gilt auch für
die Finanzierung. Hierauf ist Frau Dr.
Auerswald bereits ausführlich eingegangen.
Meine Damen und Herren, ich möchte mein Referat mit dem
Hinweis beschließen, dass wir mit der Palliativmedizin in der Lage sind,
Schmerzen und andere Symptome auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Für mich
persönlich ist es immer wieder faszinierend, dass wir die Patienten zwar nicht
schmerzfrei bekommen und Leid nicht beseitigen können, dass wir aber eine
Leidensreduktion erreichen können, sodass die Patienten die von mir bereits
erwähnte Lebensperspektive sehen. Wir können unnötiges Leid verhindern oder
beseitigen und eigentlich immer die Würde des Menschen wieder herstellen.
Recht schönen Dank.
(Beifall)
Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe,
Präsident der
Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:
Vielen Dank, Herr Professor
Klaschik, vielen Dank natürlich auch Frau Auerswald. Ich komme auf die beiden
Referate noch zurück. Zuvor aber hören wir das Referat von Herrn Kollegen
Schindler. Bitte schön, Herr Kollege
Schindler.
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