TOP III : Palliativmedizinische Versorgung in Deutschland

3. Tag: Donnerstag, 22. Mai 2003 Vormittagssitzung

Dr. Schindler, Referent:

Ich möchte kurz auf einige Punkte, die in der Diskussion angesprochen wurden, eingehen. Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass man sich nicht darüber streiten muss, ob man unbedingt einen Spezialisten braucht oder ob es jeder Hausarzt können muss. Ich denke, beides ist erforderlich. Die Palliativmedizin muss in die Breite getragen werden, die Palliativmedizin muss als palliativmedizinische Basisversorgung von allen Ärzten, die mit schwerkranken Patienten zu tun haben, angeboten werden können. Wir brauchen trotzdem den Spezialisten zur Beratung und im Einzelfall auch zur Versorgung.

Im ambulanten Bereich haben wir sehr deutlich gesehen: Es gibt gar nicht so selten schwierige Situationen, die ein niedergelassener Arzt so noch nie erlebt hat. Es fehlt einfach die Erfahrung. Wir wissen, dass ein Hausarzt im Durchschnitt pro Jahr zwei bis drei schwerkranke Tumorpatienten am Lebensende betreut. Da kann sich in kurzer Zeit gar nicht so viel Erfahrung ansammeln, dass man mit spezifischen Fragestellungen relativ leicht umgehen kann. Diese Kollegen sind sehr dankbar, wenn sie sich Rat holen können, und zwar niedrigschwellig. Sie müssen nichts anmelden, bei dem in drei Wochen darüber diskutiert wird. Sie können vielmehr schnell jemanden erreichen, der notfalls vor Ort einen Konsiliarbesuch durchführen kann.

Als ein Beispiel sei das Schmerzpumpen-Handling genannt. Welcher niedergelassene Arzt kennt sich mit Schmerzpumpen aus? Ich behaupte: weniger als 1 Prozent. Ein zweites Beispiel sind Aszitespunktionen. Tumorkranke Patienten am Lebensende müssen wegen einer Aszitespunktion nicht in eine Klinik geschickt werden; das kann man auch zu Hause machen. Wer das noch nie gemacht hat, wird es aber nicht tun. Er wird deshalb einen solchen Patienten in die Klinik schicken. Man braucht einfach die Sicherheit im Hintergrund, dass man jemanden hinzuziehen kann.

Ganz wichtig sind ethisch-rechtliche Fragestellungen. Hier gibt es ganz oft eine Unsicherheit. Wir erleben häufig Krankenhauseinweisungen, weil eine rechtliche Unsicherheit besteht, wie mit einer vorliegenden Situation umzugehen ist. Oft ist es gar nicht ein ethisches Problem, sondern eine rechtliche Unsicherheit. Wenn eine kurzfristige Beratungsmöglichkeit gegeben ist, ist bei vielen Kollegen die Dankbarkeit sehr groß. Sie sagen: Wir haben alles so gemacht, wie Sie es uns empfohlen haben, aber trotzdem sind wir dankbar, denn wir tun es jetzt mit größerer Sicherheit, wir können es jetzt besser vertreten und sind nicht mehr so zweifelnd.

Ganz kurz möchte ich noch die Pflegeversicherung ansprechen und die vielen bürokratischen Hemmnisse, die gerade im ambulanten Sektor die Arbeit am Lebensende so oft erschweren. In den Modellprojekten ist sehr deutlich geworden, dass die Pflegeversicherung überhaupt nicht die Bedürfnisse schwerkranker Tumorpatienten am Lebensende abdeckt. Die Kriterien für die Einstufung sind in der Pflegeversicherung für völlig andere Patienten geschaffen worden. Daher gibt es immer große Probleme. Hier müssen andere Wege beschritten werden, damit diese Patienten am Lebensende adäquat versorgt werden können.

Es wurde auch gefragt: Wer ist ein Palliativpatient? Es wurde auch gefragt: Wieso nur 40 Tage bzw. im Median 20 Tage? Der Grund ist einfach: Früher dürfen die Patienten von den Modellprojekten oft nicht übernommen werden, weil auch hier die restriktive Praxis der Kostenträger ausschlaggebend ist.

Ein anderer Punkt ist, dass sich mitunter Kollegen, aber auch Patienten sträuben, von einem spezialisierten Dienst versorgt zu werden, weil das für sie unter Umständen bedeutet: Oh Gott, ist es jetzt schon so weit mit mir?

Hier liegt ein großes Problem vor. Diese Frage muss intensiv erörtert werden. Die Palliativmedizin sollte wirklich nicht erst 40 Tage vor dem Tod greifen können.

Ein Kollege sagte sehr deutlich: Es müssen Anreize gerade auch für den ambulanten Sektor geschaffen werden. Dem kann ich nur zustimmen. Die Betreuung von Schwerkranken und Sterbenden erfordert vor allen Dingen Zeit, Zeit nicht nur deshalb, um viel zu machen, sondern auch um zuzuhören. Das Zuhören ist außerordentlich wichtig. Diese Erfahrung machen wir immer wieder. In den Angehörigenbefragungen wird häufig als wichtigstes Element dessen, was die Dienste anbieten, Menschlichkeit genannt, nicht etwas das hervorragende Fachwissen in der Schmerztherapie oder dergleichen. Diese Menschlichkeit bringen die Kollegen aus den Diensten nicht naturgegeben mit, sie bringen Zeit mit. Diese Zeit lässt sie zuhören und selbstverständlich auch die Expertise einfließen. Beides gehört zusammen und muss angeboten werden können, damit wir eine adäquate Versorgung von Schwerkranken und Sterbenden durchführen können.

Vielen Dank.

(Beifall)

Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Vielen Dank, Herr Kollege Schindler. Jetzt bitte Frau Auerswald.

© 2003, Bundesärztekammer.