Eröffnungsveranstaltung

Dienstag, 18. Mai 2004, 10.00 Uhr

Prof. Dr. Dr. h. c. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Sehr verehrte Frau Bundesministerin Schmidt! Sehr verehrte Frau Senatorin! Liebe Ursula Auerswald! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe es selten erlebt, dass nach so vielen und so hochkarätigen Vorrednern so viel Themenübereinstimmung besteht und bisweilen sogar recht große inhaltliche Übereinstimmung. Deswegen darf auch ich alle diese Themen ansprechen, aber vielleicht die eine oder andere Nuance hineinbringen, damit an alles gedacht wurde.

(Heiterkeit – Beifall)

Zunächst bedanke ich mich sehr herzlich bei Ihnen, verehrte Frau Ministerin, für diese engagiert vorgetragene Grußansprache. Auch ich würde gern ein Grußwort sprechen, aber wir haben nicht so viel zu begrüßen.

(Heiterkeit – Beifall)

Deshalb klingen meine Ausführungen vielleicht etwas anders. Wir und die anderen Berufe im Gesundheitswesen – ich freue mich, dass die anderen Berufe aus dem Gesundheitsbereich so zahlreich vertreten sind – hatten so große Erwartungen an das Gesundheits-Reformgesetz. Schließlich war uns nichts Geringeres als eine Qualitätsoffensive im Gesundheitswesen versprochen worden. Die Versorgungsstruktur sollte effizienter gestaltet und die Attraktivität der Gesundheitsberufe verbessert werden.

In der Wirtschaft sagt man, dass der Erfolg im hohen Maße von psychologischen Faktoren abhängt. Das gilt erst recht für das Gesundheitswesen. Sie dürfen davon ausgehen, dass Ärztinnen und Ärzte und die Angehörigen aller anderen Berufe im Gesundheitswesen immer noch höchst motiviert sind. Ich freue mich, dass Sie das gerade anerkannt haben. Anders ließen sich die millionenfach geleisteten kostenlosen Überstunden in der Patientenversorgung gar nicht erklären.

(Beifall)

Für all diese Menschen, ob nun Ärztinnen und Ärzte, Angehörige der Pflegeberufe oder Physiotherapeuten und andere, bedeutet die Arbeit am Patienten mehr als nur eine Dienstleistung. Sie alle haben diesen Beruf auch aus Nächstenliebe gewählt, wie Frau Hasselblatt es eben bereits dargestellt hat. Die Menschen zu heilen oder ihr Leid wenigstens zu lindern, das ist die Berufung. Diese Bereitschaft zur menschlichen Zuwendung darf aber nicht ausgenutzt werden.

(Beifall)

Es ist deshalb wenig motivierend, gerade diesen Menschen zu sagen, unser Gesundheitswesen sei geprägt durch Überversorgung und Fehlleistungen und es gebe noch Rationalisierungsmaßnahmen in Milliardenhöhe. Vertrauen, meine Damen und Herren, kann man mit einer solchen Aussage und einer solchen Politik wohl kaum aufbauen.

(Beifall)

Wenn Gesundheitspolitik etwas aus der Wirtschaft lernen könnte, dann doch etwas über die große Bedeutung der Motivation. Stattdessen aber hat sich bei uns eine Ideologie des Wettbewerbs in den Köpfen der Gesundheitstheoretiker und sekundär auch der Politiker festgesetzt. Dabei wird vergessen, dass Wettbewerb Profitdenken hervorruft und die Nächstenliebe schwinden lässt. Das ist der automatische Zusammenhang, an den viel zu wenig gedacht wird.

(Beifall)

Zu Recht hat Herr Bundespräsident Rau bereits um die Jahreswende gewarnt, wir müssten aufpassen, dass nicht unser gesamtes gesellschaftliches Leben in allen Bereichen immer stärker nach den Mustern von Wirtschaftlichkeit und Effizienz geprägt wird. Ich darf zitieren:

„Bilanz“, „Kapital“, „Ressource“: Das sind Begriffe, die in der Wirtschaft unverzichtbar sind. Aber sie gehören nicht in jeden anderen Lebensbereich.

Meine Damen und Herren, auch ich habe Angst, dass wir die Barmherzigkeit in unserem Gesundheitswesen völlig verlieren. Ich habe große Bedenken, dass wir auf dem Weg sind in die völlige Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und in die Merkantilisierung unseres Berufes. Ich bin froh, dass Herr Bundespräsident Rau anerkannt hat: Wir sind Ärztinnen und Ärzte, keine Kaufleute; unsere Patientinnen und Patienten sind keine oder zumindest nicht nur Kunden.

(Beifall)

Das kommt daher: Es gibt keine Nachfrage nach Krankheiten und es wird keine Notwendigkeit von Behandlungen angeboten.

(Beifall)

Insofern stimmt das Modell einfach nicht.

Der behandlungsbedürftige Patient braucht schlicht ärztliche Hilfe, schnell, kom­pe­tent und nach dem aktuellen medizinischen Stand. So einfach können Grund­sätze einer vernünftigen Gesundheitspolitik sein! Aber das GKV-Modernisie­rungs­gesetz fördert nicht den Wettbewerb um Qualität, sondern den Wettbewerb um Profit.

(Beifall)

Das kann man wollen, aber dann muss man es auch offen sagen und die Konsequenzen aufzeigen. Und das tue ich.

(Beifall)

Begriff der Modernisierung ist hier nämlich völlig sinnentleert und allein den Mediengesetzen der Verkäuflichkeit untergeordnet.

(Beifall)

Das Gesetz modernisiert auch nicht wirklich unser Gesundheitswesen. Ich glaube, es privatisiert es mehr, was die Leistungsangebote angeht.

(Beifall)

Bewährtes geht verloren, aber wer es wagt, zu kritisieren, dem wird engstirniges Funktionärsdenken vorgeworfen. Das halten wir aber aus.

(Beifall)

Wir Ärzte sagen unsere Meinung trotzdem, denn wir sind in solchen Fragen nichts anderem verpflichtet als unserem ärztlichen Auftrag. Deshalb auch, verehrte Frau Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung, nehmen wir uns das Recht, dieses Gesetz aus der Notwendigkeit ärztlichen Behandlungsbedarfs heraus zu bewerten. Das ist unsere Sichtweise.

Das GKV-Modernisierungsgesetz hat unzweifelhaft – da sind wir sicher einer Meinung – einen Paradigmenwechsel eingeleitet, auch wenn die Auswirkungen erst nach und nach sichtbar werden. Es wird viele Menschen geben, die nicht mehr so behandelt werden können, wie das in der Vergangenheit der Fall war, denn wir nehmen unzweifelhaft Abschied von der bisher tradierten flächendeckenden und vor allem wohnortnahen Versorgung.

(Beifall)

Viele Fachärzte werden in Einzelpraxen auf Dauer kaum noch konkurrenzfähig zu den neuen Medizinischen Versorgungszentren sein können. Diese aber rechnen sich lukrativ nur in stark bevölkerten Gebieten. Und schließlich werden mit der neuen Klinikfinanzierung über Fallpauschalen viele kleine Krankenhäuser schließen müssen. Das ist keine Feststellung von uns, sondern von anderen. 200 oder 300 Krankenhäuser sind im Gespräch. Das sind aber nicht diejenigen, die in Ballungsgebieten zuviel sind, sondern es sind solche, die in dünner besiedelten Gebieten etabliert sind.

Was bedeutet diese Entwicklung für kranke und ältere Menschen in strukturschwachen Gebieten? Wie weit wird man künftig zur Dialyse oder zur Chemotherapie fahren müssen, wenn man beispielsweise mitten in der Eifel oder in der Uckermark lebt? Das sind die Fragen, die auf uns zukommen werden, wenn nicht mehr der Patient, sondern der Profit im Vordergrund steht. Das ist die Gefahr, wenn der Wettbewerb die Chancengleichheit im Zugang zu unserem Gesundheitswesen zerstört. Das ist nichts anderes als eine statistische Rationierung. Daran führt kein Weg vorbei.

(Beifall)

Weshalb sollen wir das nicht öffentlich aussprechen und offen darüber diskutieren? Unsere Mitmenschen spüren das doch! Deshalb sollten wir es erklären und klar sagen, dass wir diesen Weg für richtig halten, wenn wir ihn gemeinsam für richtig halten und das Gesetz diesen Weg ja eröffnet hat.

Sicher, die Medizinischen Versorgungszentren bieten durchaus Chancen, gerade für Berufseinsteiger. Das ist anzuerkennen. Sie haben es eben erwähnt, Frau Ministerin. Es gibt aber auch Risiken, die man nicht ignorieren kann. So darf die Therapiefreiheit – ein Recht von Patienten und Ärzten, kein Willkürakt der Ärzte – nicht durch eine Therapiedirektive ersetzt werden. Dies ist umso wichtiger, als über diese Konstruktion erstmals so genannte Heilkundegesellschaften – also juristische Personen des Privatrechts wie GmbHs oder Aktiengesellschaften – mit angestellten Ärzten heilkundliche Leistungen erbringen können. Der Behandlungsvertrag wird also zwischen dem Patienten und einer juristischen Person geschlossen – und eben nicht mit individuellen Ärztinnen und Ärzten. Das ist ein Unterschied.

Wir müssen deshalb darauf achten, dass durch diese neue gewerbliche Form der Medizinischen Versorgungszentren die Heilkundeausübung nicht denaturiert wird. Wir müssen dafür kämpfen, dass die Patienten auch weiterhin auf ihre Ärzte vertrauen können und nicht als Konsumenten in medizinischen Profitcentern enden.

(Beifall)

Damit ärztlich-medizinische Grundsätze im neuen Wettbewerb nicht gänzlich verloren gehen, werden wir auf diesem Ärztetag eine Flexibilisierung der Berufsordnung diskutieren. Danach sollen niedergelassene Ärztinnen und Ärzte in Zukunft die Möglichkeit haben, sich in verschiedenen Kooperationsformen wie Teilgemeinschaftspraxen, Teilpartnerschaften oder auch Ärztegesellschaften zusammenzuschließen.

Das neue Berufsrecht soll dafür sorgen, dass auch unter Wettbewerbsbedingungen – unabhängig von der Kooperationsform – Vertrauen, Individualität und persönliche Leistungserbringung im Patient-Arzt-Verhältnis geschützt bleiben. Für die gekonnte Vorbereitung dieser wichtigen Novelle möchte ich Ingo Flenker und den Mitgliedern der Berufsordnungsgremien ganz herzlich danken.

(Beifall)

Die Berufsordnung soll dazu beitragen, die Chancen von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten gegenüber institutionalisierten Formen der Versorgung zu verbessern. Das ist wichtig, denn die ambulante Facharztebene ist eines der Qualitätsmerkmale des deutschen Gesundheitswesens,

(Beifall)

nicht nur wegen der wohnortnahen Versorgung, sondern auch weil dadurch eine Wartelistenmedizin bisher verhindert werden konnte.

Ein gutes Gesundheitswesen zeichnet sich aus durch freie Arztwahl, Therapiefreiheit des Arztes, Therapiewahl des Patienten, Chancengleichheit im Zugang und Teilhabe am medizinischen Fortschritt. Dabei kommt angesichts einer Gesellschaft des langen Lebens der wohnortnahen hausärztlichen Versorgung natürlich eine besondere Bedeutung zu. Mehr denn je erfordert die kontinuierliche ärztliche Betreuung eines Patienten bei Kenntnis seines häuslichen und familiären Umfelds eine qualifizierte hausärztliche Versorgung. Da sind wir uns einig.

Deutsche Ärztetage haben deshalb wiederholt und nachhaltig die Stärkung der hausärztlichen Versorgung gefordert und mit dem Beschluss von Rostock und im vorigen Jahr von Köln den Weg frei gemacht für einen „Facharzt für Innere und Allgemeinmedizin“, den Hausarzt der Zukunft. Dieser Weg ist nicht unumstritten, besonders unter den Internisten, ebenso wie die Forderung aus manchen Kreisen der Hausärzte nach einem Primärarztmodell höchst strittig ist. Wir haben das alles eingehend und mit allen lange und sehr intensiv diskutiert. Wir haben dann Beschlüsse gefasst, zu denen wir nach einem demokratischen Verfahren auch stehen sollten: Wir wollen den Facharzt für Innere und Allgemeinmedizin, wir wollen eine Stärkung der hausärztlichen Versorgung auf freiwilliger Basis, aber wir wollen auch die freie Arztwahl erhalten und lehnen ein Primärarztmodell strikt ab, ebenso alles, was auf dem Weg dorthin sein sollte.

(Beifall)

Hans Hellmut Koch und den Weiterbildungsgremien der Bundesärztekammer möchte ich hier ausdrücklich für ihren unermüdlichen Einsatz für eine moderne Weiterbildungsordnung Dank sagen.

(Beifall)

Die Strukturen der flächendeckenden Versorgung werden aber nicht nur im ambulanten Bereich reduziert, sondern in massiver Weise auch im stationären Sektor. Mehr noch: Mit der Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen wird unsere Philosophie der Krankenhausversorgung in ihr Gegenteil verkehrt. Bisher war jeder in ein Krankenhaus aufgenommene Patient umfassend medizinisch betreut. Er wurde mindestens so lange betreut, bis die Fähigkeit wieder hergestellt war, sich im Alltag selbst zu helfen. Meine Damen und Herren, so viel Mildtätigkeit kann sich heute kein Krankenhaus mehr leisten. Das müssen wir wissen.

(Beifall)

Heute werden die Patienten einer Fallpauschale zugeordnet und dann entsprechend dieser Diagnose schnellstmöglich behandelt. Der Patient mutiert quasi vom Kranken über den Diagnosebesitzer zur Fallpauschalennummer. Das ist der Weg.

(Beifall)

Es ist noch nicht einmal gewiss, ob alle Patienten gerne aufgenommen werden, denn das neue Fallpauschalensystem verführt die Krankenhäuser dazu, ihre Patienten in wirtschaftlich lohnende und wirtschaftlich problematische Fälle einzuteilen. Und das birgt unzweifelhaft die Gefahr einer Selektion nach Marktgesetzen. Darüber kann man überhaupt nicht hinwegsehen; das ist so.

(Beifall)

Außerdem werden Krankenhäuser zukünftig abwägen, ob es sich für sie überhaupt noch lohnt, junge Ärztinnen und Ärzte beruflich weiterzubilden. Bis jetzt sind noch keine positiven Anreize für die Sicherstellung eines ausreichenden ärztlichen Nachwuchses unter den Bedingungen der DRGs vorgesehen.

Was hier kurzfristig als günstig für das Krankenhausbudget erscheint, meine Damen und Herren, wird sich als kurzsichtig für die Zukunft unseres Gesundheitswesens erweisen. Hier muss also nachgebessert werden.

(Beifall)

Eine besondere Art der Leistungskonzentration bahnt sich durch die neuen Bestimmungen des Fallpauschalengesetzes zu den Mindestmengen an, nach denen - ich zitiere - „die Qualität des Behandlungsergebnisses im besonderen Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist“. Es gibt zweifellos einen Zusammenhang zwischen der Menge der Leistungserbringung und der Qualität, doch ist deshalb Menge keineswegs mit Qualität gleichzusetzen. Denn niedrige Leistungsfrequenzen führen nicht automatisch zu schlechten Versorgungsergebnissen, so wenig wie höhere Leistungsfrequenzen zwangsläufig die besseren Resultate nach sich ziehen.

Mindestmengen schließen diejenigen Leistungserbringer von der Versorgung aus, die - ohne hohe Fallzahlen zu erreichen - trotzdem eine hohe Qualität der Versorgung bieten und Mindestmengen können sogar die Kontinuität verschlechtern, weil spezialisierte Nachbehandlungen nur noch in Zentren möglich sein werden, die aber wiederum schwer erreichbar sein werden und Wartelisten produzieren.

Die Mindestmenge ist wissenschaftlich unzureichend abgesichert und kann nur ein Hilfsmittel sein, bis bessere Maßstäbe für die Versorgungsqualität entwickelt worden sind. Das Instrument darf daher keinesfalls dogmatisch gehandhabt werden. Entscheidend bleiben müssen die individuelle Kompetenz des Arztes und die Versorgungsrealität am jeweiligen Platz.

(Beifall)

Die Disease-Management-Programme, so wie sie jetzt ausdrücklich angelegt sind, sind ein weiterer Indikator für Konzentration und Qualitätsverlust in der Versorgung. Und sie werden auch keineswegs - wie versprochen - zu einer optimalen medizinischen Betreuung führen. Da die finanziellen Ressourcen begrenzt sind, wird es gar nicht zu verhindern sein, dass medizinische Notwendigkeiten den finanziellen Möglichkeiten angepasst werden. Wenn die betroffenen Patientinnen und Patienten aber alle nach demselben Programmschema versorgt werden, ist zwar eine weitgehende Gleichheit der Behandlung zu erwarten, aber nicht unbedingt eine bessere Qualität. Man merkt es aber nicht, weil ja das Niveau durch diese Gleichheit der Behandlung nicht vergleichbar ist.

Dr. Christoph Straub vom Vorstand der Techniker Krankenkasse hat es auf den Punkt gebracht:

Die derzeitige Ausprägung steht für „Masse statt Klasse“ - ein medizinischer und ökonomischer Fehler. Die Geldströme aus dem Finanzausgleich richten das Hauptinteresse der Krankenkassen da­rauf, möglichst viele Versicherte in die Programme einzuschreiben, statt darauf zu achten, dass es die richtigen Patienten sind.

Recht hat der Mann!

(Beifall)

Vor allem diese Verknüpfung der Disease-Management-Programme mit dem Risikostrukturausgleich hat dazu geführt, dass die Krankenkassen alles daran setzen müssen - ich sage bewusst: müssen -, um die Einschreibequoten hochzutreiben. Dementsprechend steht auch nicht die Bekämpfung der gesundheitlichen Risiken im Vordergrund, sondern deren Dokumentation.

(Beifall)

Was hier für ein Formalismus entwickelt worden ist, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, geht auf keine Kuhhaut!

Wir werden mittlerweile mit einer solchen Flut bürokratischer Anforderungen überschwemmt, dass die Patientenversorgung unterzugehen droht. Unsere originäre Tätigkeit, die Behandlung der Patienten, wird da zu einer cura posterior des Gesundheitswesens. Die Verwaltung der Patienten scheint wichtiger geworden zu sein als ihre Behandlung.

(Beifall)

Doch das Ganze ist eher tragisch als komisch: Ärztinnen und Ärzte müssen genauso wie das Pflegepersonal die Versorgung trotz umfänglicher Doku­mentation aufrechterhalten. Und das geht eben nur noch unter erhöhtem persönlichem Einsatz. An dieser Stelle möchte ich ganz herzlich unserer Vizepräsidentin Ursula Auerswald danken, die ebenfalls mit sehr großem persönlichem Engagement dieses spezielle Thema der Überbürokratisierung für diesen Ärztetag vorbereitet hat. Vielen Dank.

(Beifall)

Nach einer Studie des Deutschen Krankenhausinstituts beträgt der Zeitaufwand für die ärztliche Dokumentation in der Chirurgie 2,42 und in der Inneren Medizin 3,15 Stunden täglich. 20 bis 25 Prozent davon entfallen allein auf administrative Dokumentationsaufgaben, von denen der Patient überhaupt nichts hat. Bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten sind es vor allem die Formulare zu den Disease-Management-Programmen, die den letzten Nerv rauben. Der kleinste Fehler führt dazu, dass bis hin zur Einwilligung des Patienten alles noch einmal neu gestartet werden muss. Die Ressource „Arzt“ aber, meine Damen und Herren, ist angesichts der Arbeitsverdichtung, steigender Fallzahlen, der Forderung nach permanenter Fortbildung und weiterhin bestehendem Ärztemangel begrenzt. Wenn Sie nicht wollen, dass wir zu Fachkräften einer Gesundheitsverwaltung degenerieren, dann befreien Sie uns bitte von diesen bürokratischen Ketten und lassen uns wieder Ärztinnen und Ärzte sein!

(Lebhafter Beifall)

Die überbordende Bürokratisierung des Arztberufes ist sicherlich eine der Hauptursachen auch des Ärztemangels. Noch vor Jahren sind wir gescholten worden, wenn wir vor diesem Mangel gewarnt haben. Mittlerweile aber hat sich ein Problembewusstsein in der Öffentlichkeit breit gemacht, eben weil die Probleme offensichtlich geworden sind, und zwar nicht nur in den neuen Bundesländern und auch nicht nur bei den Hausärzten. Auch am Niederrhein, an der Grenze zu Holland, besteht dieses Problem. Die Versorgungsdefizite in Ostdeutschland verschärfen sich zusehends. Krankenhäuser suchen bereits in mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern nach qualifiziertem Personal. In der hausärztlichen Versorgung ist schon jetzt mancherorts eine Flächendeckung nicht mehr im ausreichenden Maße sicherzustellen. Gegenüber dem Vorjahr ist die Anzahl der Hausärztinnen und Hausärzte in den neuen Bundesländern sogar um 1,3 Prozent zurückgegangen.

Wir müssen leider auch gravierende Auswirkungen auf die Altersstruktur der Ärztinnen und Ärzte feststellen. So gab es im Jahre 1991 noch 27,4 Prozent Ärztinnen und Ärzte unter 35 Jahren. Heute liegt dieser Anteil nur noch bei 16,5 Prozent. Das ist ein Rückgang von 40 Prozent in nur 12 Jahren. Meine Damen und Herren, vier von zehn Studienanfängern kommen gar nicht erst im Beruf an. Das muss uns doch allen - ich glaube: besonders der Politik - zu denken geben.

Die Ursachen für diese Entwicklung sind hinlänglich bekannt: unbezahlte Überstunden, Dauereinsätze von 30 Stunden, eine im Vergleich zu anderen akademischen Berufen unterdurchschnittliche Vergütung und nicht zuletzt eine systematische Zerstörung des Berufsansehens.

(Beifall)

Wer hat schon Lust, sich ständig als Beutelschneider, Betrüger oder Boykotteur beschimpfen oder diffamieren zu lassen?

(Beifall)

Jüngst ist uns sogar regierungsamtlich vorgeworfen worden, dass es - ich zitiere - „eine beträchtliche Anzahl von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten gibt, die nicht nur miese Stimmung verbreiten, sondern das Gesetz missachten“.

So erweckt man doch zwangsläufig den Eindruck, dass alle Ärztinnen und Ärzte nur noch eine Herde schwarzer Schafe im weißen Kittel sind. Das ist sicher nicht die Stimmung, mit der man junge Menschen für den Arztberuf gewinnen kann. Und auch für die Patienten ist das natürlich wenig hilfreich.

(Beifall)

Wenn wir es nicht schaffen, den derzeitigen Abwärtstrend beim ärztlichen Nachwuchs zu stoppen - die Abschaffung der Arzt-im-Praktikum-Phase ist löblich, wird aber nur ein erster Schritt sein -, wird sich auf Dauer nur noch eine Mindestversorgung mit ausgeprägter Wartelistenmedizin aufrechterhalten lassen.

Dieser Entwicklung kann man keineswegs mit der Anwerbung ausländischer Ärzte, vor allem aus Osteuropa, begegnen. Die letzten 18 Stellen im Krankenhaus in Kleve sind nur mit Ärztinnen und Ärzten aus Polen, Tschechien und Ungarn besetzt worden. Es hat sich kein deutscher Arzt beworben, obwohl Kleve eine schöne Stadt ist. Das ist geradezu ein Menetekel. Es würde zwar zeitweise der Personalbedarf in deutschen Kliniken gedeckt, aber der Weggang ausgebildeter Fachkräfte hinterlässt in den Heimatländern ebenfalls große Lücken in der ärztlichen Versorgung.

(Beifall)

Deshalb müssen wir dringend die Arbeits- und Vergütungsbedingungen für den ärztlichen Nachwuchs hier in Deutschland verbessern. Das wird sicher Geld kosten, doch wer das Gesundheitswesen nur als Kostenfaktor versteht, hat die Bedeutung des Sozialstaates nicht verstanden.

(Beifall)

Ich darf dazu nochmals unseren Bundespräsidenten zitieren, der dazu in einer früheren Berliner Rede klare Worte gefunden hat:

Der Sozialstaat ist kein Bremsklotz für die wirtschaftliche Dynamik. Im Gegenteil: Richtig geordnet stärkt er die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, weil er die Menschen entlastet und Freiraum schafft für Kreativität und Leistung.

Der Sozialstaat ist eben keine Belastung unserer Gesellschaft, er ist vielmehr Grundlage einer humanen und prosperierenden Gesellschaft. Ohne soziale Absicherung im Alter, bei Arbeitslosigkeit, Invalidität und eben Krankheit hätten wir das heutige Maß an sozialem Frieden niemals erreicht.

(Beifall)

Natürlich müssen wir über den Umfang der Absicherung nachdenken, wenn die Ressourcen infolge anhaltender Arbeitslosigkeit und aus anderen Gründen schwinden. Aber wir dürfen dadurch nicht an Innovationsfähigkeit und vor allem nicht an Menschlichkeit verlieren.

(Beifall)

Die Rationalisierungsreserven sind längst aufgebraucht, meine Damen und Herren. Wir spüren das tagtäglich in unserer ärztlichen Arbeit. Gesundheitspolitik erschöpft sich schon seit Jahren nur noch in Kostendämpfungspolitik, und das heißt eben: in impliziter Rationierung. Aber man kann mit der Sparschraube weder den medizinischen Fortschritt noch die sich weiterentwickelnde Gesellschaft des langen Lebens zurückdrehen. Und auch das neue Zauberwort vom Wettbewerb im Gesundheitswesen wird die Probleme nicht lösen. Wir werden allenfalls Profitdenken da bekommen, wo einst Mildtätigkeit war, und uns damit endgültig auf den Weg in die Gesundheitswirtschaft, in die Gesundheitsindustrie, wie manche schon jetzt sagen, machen.

Oder gibt es etwa wirklich einen Wettbewerb um die beste Behandlung oder Betreuung? Das „New England Journal of Medicine“ berichtet über die derzeit schwierige Lage der Ärzte in fast allen Industriestaaten:

Die Rolle der Ärzte hat sich radikal verändert, sie werden heute von Managern unterwiesen und sind nicht länger Anwälte der Patienten. Das Ziel der Medizin ist eine gesunde Bilanz statt einer gesunden Population. Der Schwerpunkt liegt auf Effizienz, Profitmaximierung, Kundenzufriedenheit, Zahlungsfähigkeit, Unternehmertum und Wettbewerb. Die Ideologie der Medizin wird ersetzt durch die Ideologie des Marktes. In dem Maße, in dem Medizin zum Kapitalunternehmen wird, wird die medizinische Ethik durch die Geschäftsethik verdrängt.

Meine Damen und Herren, das ist die Realität, mit der wir uns auseinander setzen müssen, gerade nach dem GKV-Modernisierungsgesetz. Das ganze Gerede von Unter-, Über- und Fehlversorgung, von Qualitätsoffensive und Effizienzsteigerungen hat meines Erachtens doch nur den Sinn, diese gezielte Rationierung von Leistungen zu kaschieren. So müssen wir das empfinden.

(Beifall)

Angesichts dieser offensichtlichen gesundheitspolitischen Fehldiagnose, welche dem GMG zugrunde liegt, habe ich als Arzt erhebliche Zweifel, ob dann noch die Therapie richtig sein kann. Das ist unsere Form des Denkens. Ich glaube nicht, dass dies der Fall ist.

Können Sie sich noch an die gesundheitspolitischen Geisterfahrer erinnern, die uns nur eines vermitteln wollten, nämlich „Wir zahlen einen Mercedes und kriegen einen Golf“? Das setzt sich in den Köpfen der Menschen fest und prägt. Um die Bahn freizumachen für die eigene Reformideologie, wurden Zahlen und Statistiken der WHO benutzt, die diese - Frau Auerswald hat es bereits gesagt - selbst schon nicht mehr verwendet und sich davon distanziert - aus gutem Grund. Denn dieses Ranking hält einer wissenschaftlichen Analyse nicht stand. In diesem Ranking stehen wir auf Platz 25, hinter Kolumbien! Wer glaubt ernsthaft, dass wir dort rangieren? Das steht dort aber so und wird als Grundlage für eine Diagnose benutzt.

Das Gutachten von Professor Beske ist bereits zitiert worden:

Das Ranking-System der WHO ist international als wissenschaftlich nicht haltbar zurückgewiesen worden. Es wird von der WHO nicht weitergeführt. Auch die Vergleichbarkeit von Daten der OECD wird von der Wissenschaft in Zweifel gezogen. Deutschland ist im internationalen Vergleich in einer Spitzenposition, wenn es darum geht, schnell ärztliche Hilfe zu bekommen.

(Beifall)

Bleibt noch das Argument des angeblich teuren deutschen Gesundheitswesens. Gründe für das höhere Ausgabenniveau sind vor allem - das wissen wir - die deutsche Wiedervereinigung, die den Anteil der Gesundheitsausgaben am aktuellen Bruttosozialprodukt von vormals 8 Prozent auf über 10 Prozent hochschnellen ließ, der Umfang des Leistungskatalogs, der international seinesgleichen sucht, der - noch - freie Zugang zum System der gesundheitlichen Versorgung mit freier Arztwahl, die Leistungsgewährung ohne Altersgrenzen, der Anspruch auf Versorgung anstelle einer staatlichen Zuteilung und keine oder noch keine gravierenden Wartelisten.

Ein solch liberales und bislang patientenfreundliches System muss teurer sein als staatliche Zuteilungssysteme mit Gatekeepern und langen Wartelisten, bei denen eine Dialyse nur bis zum 70. Lebensjahr gewährt wird und der Satz, den wir früher in Deutschland gehört haben, gilt: Wenn du arm bist, musst du früher sterben.

Unser Ehrenpräsident Karsten Vilmar hat immer gesagt, dass Patientenrechte nur da kodifiziert werden müssen, wo die regierungsamtliche Rationierung kaschiert werden muss. Insofern war die Berufung einer Patientenbeauftragten der Bundesregierung nur konsequent.

(Beifall)

Aber auch sie vermag es nicht, die Kommunikation und die Information über dieses Gesetz zu verbessern. Auf den verzweifelten Versuch, uns Ärzte mit einem so genannten Schwarzbuch noch einmal in die Sündenbockecke stecken zu wollen, will ich jetzt nicht mehr eingehen.

Besser wäre es gewesen, den Menschen von Anfang an reinen Wein einzuschenken, nämlich dass weitere Einsparungen zu Rationierungen führen müssen. Es kann doch nicht sein, dass staatlich verordnete Leistungsverknappung den Patienten zum Bittsteller und uns Ärztinnen und Ärzte zu Rationierungsbeauftragten macht!

Wir wollen unsere ärztlichen Entscheidungen auch künftig nach dem Gebot der Menschlichkeit und nach bestem ärztlichen Wissen und Gewissen treffen. Der Patient erwartet zu Recht, dass Ärztinnen und Ärzte Personen seines Vertrauens sind, denen er sich in seinem Leid persönlich offenbaren kann. Er erwartet professionelle Hilfe und persönliche Zuwendung.

Besonders gefordert ist die ärztliche Verantwortung für Patienten in der letzten Lebensphase. Vor wenigen Wochen hat sich die Parlamentarische Versammlung des Europarats mit einem Bericht befasst, in dem die Mitgliedstaaten zur Legalisierung der aktiven Sterbehilfe und der assistierten Selbsttötung aufgefordert wurden. Zwar wurde keine Entscheidung getroffen, aber allein die Debatte über das Thema zeigt, dass die Befürworter aktiver Sterbehilfe seit der Legalisierung der Euthanasie in Belgien und Holland Aufwind verspüren.

Aktive Sterbehilfe, meine Damen und Herren, ist Tötung eines Menschen. Wir lehnen als Ärztinnen und Ärzte dies kategorisch ab!

(Beifall)

Wir sehen die ärztliche Aufgabe in der Betreuung todkranker Patienten, das heißt in der Sterbebegleitung. Leiden zu lindern und Angst zu nehmen, um damit ein selbstbestimmtes, würdevolles Lebensende zu ermöglichen - das ist der ärztliche Auftrag.

Es gibt Situationen, in denen sonst angemessene Diagnostik und Therapieverfahren nicht mehr angezeigt sind und ein Therapiezielschwenk geboten sein kann. Dann muss der Patient palliativmedizinisch versorgt werden. Die Entscheidung hierfür darf aber keinesfalls von wirtschaftlichen Erwägungen abhängig gemacht werden; die Entscheidung ist eine ganz persönliche Entscheidung des einzelnen Patienten, von niemandem sonst. Die Bedeutung und Verbindlichkeit von Patientenverfügungen haben wir deshalb in den überarbeiteten Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, die der Herr Bundespräsident schon erwähnt hat, deutlicher als bisher herausgestellt.

Ich bin Eggert Beleites und dem Ausschuss „Ethische und medizinisch-juristische Grundsatzfragen“ außerordentlich dankbar, dass sie dieses schwierige Thema in zahlreichen Sitzungen und Gesprächen mit interessierten Ärztinnen und Ärzten, aber auch mit Angehörigen anderer Berufe, auch nicht aus dem Gesundheitswesen kommender Berufe, so beharrlich und so sensibel bearbeitet haben.

(Beifall)

Wir wollen eine mitfühlende Medizin, die den Tod zulässt, wenn er unabwendbar ist, aber wir wollen den Tod nicht zuteilen. Das ist nicht unsere Aufgabe.

(Beifall)

Das Recht auf einen - vermeintlich - selbstbestimmten Tod wird spätestens dann zur Farce, wenn nur noch der nicht getötet werden darf, der ausdrücklich nicht getötet werden will. Die in den Niederlanden stattfindende Entwicklung lässt erkennen, wie hoch das Missbrauchspotenzial in der Euthanasiepraxis ist. Bei etwa einem Drittel der vorkommenden Fälle ist das ausdrückliche Verlangen der Betroffenen nach aktiver Sterbehilfe höchst zweifelhaft. Das Vertrauen der älteren holländischen Bürgerinnen und Bürger in diese Praxis ist mittlerweile so zerstört, dass viele eine so genannte Lebenswunscherklärung bei sich tragen. Das muss man sich einmal vorstellen!

Das Ganze als GKV-Modernisierungsgesetz zu verkaufen reicht nicht aus. Der

Die derzeitige Diskussion würde wohl auch anders laufen, wenn bekannter wäre, dass die moderne Palliativmedizin schon heute in der Lage ist, Schmerzen und andere Symptome auf ein erträgliches Maß zu reduzieren und damit unnötiges Leid zu verhindern. Unheilbar kranke Menschen können ihr Leben bis zuletzt als lebenswert empfinden, wenn sie professionell betreut werden, Zuwendung erfahren und nicht alleine gelassen werden. Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir wider alle Versuchungen des Zeitgeistes unverbrüchlich festhalten.

(Beifall)

Doch Bewährtes zu bewahren ist schwierig geworden in der heutigen Welt. Die Präsentation von Ideen ist oft wichtiger als die Idee selbst. Behauptungen und Unterstellungen bleiben ungeprüft, für Konsequenzen zeichnet nachher keiner mehr verantwortlich. Im Gegenzug wird als konzeptionslos hingestellt, wer nicht sofort eine neue Alternative vorweist. Wer auf Grundlegendes, ethisch Fundiertes und Bewährtes verweist, erfüllt nicht mehr die Erwartungen einer schnelllebigen Informationsgesellschaft.

Aber müssen wir als Ärztinnen und Ärzte uns dieser Ideeninflation unterordnen? Ich sage Nein. Wir sollten aus unserem ärztlichen Ethos heraus einzig und allein für eine gute medizinische Versorgung der Menschen kämpfen, und zwar unabhängig von ihrem Alter, ihrer sozialen Stellung und auch ihrem Wohnort. Wir treten dafür ein, dass alle Menschen in Deutschland die gleichen Chancen haben im Zugang zu allen gesundheitsrelevanten Leistungen. Dazu haben wir klare Vorstellungen:

Wir brauchen eine wohnortnahe hausärztliche Versorgung. Darauf haben wir angesichts der Alterung unserer Gesellschaft immer wieder hingewiesen. Gleichzeitig erfordert die steigende Zahl älterer Menschen auch eine flächendeckende fachärztliche Versorgung, zumal ja nach der Finanzierungsumstellung im Kliniksektor auf die DRGs viele wohnortnahe Krankenhäuser vom Markt verschwinden werden. Die medizinische Leistung muss dort erbracht werden können, wo sie patientengerecht und effizient durchgeführt werden kann, nicht in Ersatzeinrichtungen.

Wir brauchen die Möglichkeit einer durchgängigen Versorgung der Patienten. Deshalb ist die integrierte Versorgung eine langjährige Forderung der deutschen Ärzteschaft. Wir müssen allerdings darauf achten, dass es mit den neuen Versorgungsformen nicht zu Fehlentwicklungen kommt und der Profitgedanke nicht die Patientenbehandlung bestimmt.

Wir brauchen eine faire Ausgangsposition bei den Verträgen über die integrierte Versorgung. Die vom Gesetzgeber eingeräumten Wettbewerbsvorteile zulasten der niedergelassenen Vertragsärzte wie auch der Krankenhäuser verdeutlichen nur den politischen Hintergedanken einer schleichenden Entkräftigung der Kassenärztlichen Vereinigungen. Wir müssen deshalb darauf achten, dass die neuen vertraglichen Möglichkeiten nicht zu einem Experimentierfeld der Krankenkassen für Einkaufsmodelle aller Art werden und dass der Patient sein Recht auf freie Arztwahl nicht in einer kassenspezifisch atomisierten Versorgungslandschaft verliert.

(Beifall)

Wir brauchen auch endlich eine Transparenz der gesundheitspolitischen Entscheidungen, der möglichen Konsequenzen wie auch der Strukturen im Gesundheitswesen. Der Patient sollte wissen, welche Leistungen er noch erhalten kann, welche für ihn erbracht worden sind und zu welchem Preis. Dabei sollte er aber immer Herr seiner Daten bleiben. Deshalb auch ist die gewissenhafte Vorbereitung der elektronischen Gesundheitskarte so wichtig. Auch sollten wir zunächst einmal aus den Erfahrungen mit Toll Collect lernen, bevor wieder nur Planungen und Konzepte der Industrie zum Tragen kommen. Bei einem Projekt dieser Dimension muss Qualität Vorrang vor Schnelligkeit haben.

(Beifall)

Wir sind bereit zur Mitarbeit und sehen durchaus die Chancen dieser neuen Technologie. Der derzeit vorliegende Zeitplan aber ist völlig illusorisch und hat mit vernünftiger gesundheitspolitischer Planung nichts mehr zu tun.

(Beifall)

Wir brauchen auch dringend mehr Transparenz in Fragen der privatärztlichen Abrechnung. Die Gebührenordnung für Ärzte ist so völlig überaltert, dass selbst das Bundeskriminalamt einräumen musste, dann man auf der Grundlage dieser Gebührenordnung nicht mehr wirklich korrekt abrechnen kann.

(Beifall)

Aber der Verordnungsgeber reagiert nicht, sondern ignoriert beharrlich unsere konzeptionellen Vorschläge zur Weiterentwicklung.

Ich will niemandem unterstellen, dass mit dieser Art der Grauzonenpolitik Ärztinnen und Ärzte bewusst in Schwierigkeit gebracht werden sollen, aber ich will unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass wir für die Untätigkeit der Politik in dieser Frage nicht länger den Kopf hinhalten werden.

(Beifall)

Schließlich haben auch wir Anspruch auf Rechtssicherheit.

Dass es auch anders geht, zeigt das Vorgehen bei der Prävention. Ich finde es außerordentlich begrüßenswert, wie zielstrebig Sie, verehrte Frau Bundesministerin, das Thema der Alkoholgefahren bei Jugendlichen durch so genannte Alcopops aufgegriffen und dann auch entschieden reagiert haben.

(Beifall)

Wir dürfen es einfach nicht zulassen, dass Jugendliche zu Gewohnheitstrinkern werden oder so viele Kinder, vor allem Mädchen, schon so früh, zum Teil schon mit 12 Jahren, zur Zigarette greifen. Da müssen wir etwas unternehmen.

(Beifall)

Prävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Elternhaus, Schule und auch wir Ärztinnen und Ärzte sind gemeinsam gefordert, bereits den Kindern eine gesundheitsbewusste Lebensführung zu vermitteln. Aufklärung und gezielte Prävention können in jedem Lebensalter helfen, Krankheiten zu vermindern. Wir hoffen, dass die „Nationale Stiftung Prävention“ dazu wird dauerhaft beitragen können. Wir sind gern zur Mitarbeit und zur Hilfe bereit.

(Beifall)

Zur Qualitätssicherung haben wir als Ärztinnen und Ärzte ein Nationales Programm für Versorgungsleitlinien entwickelt. Dieses Netzwerk aus medizinischer Wissenschaft und ärztlicher Selbstverwaltung ist die konsequente Weiterentwicklung ärztlicher Leitlinienarbeit, und zwar unter Beteiligung von Patientenvertretern. Eine wesentliche Grundlage für die nationalen Versorgungsleitlinien bilden die Leitlinien der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften sowie die Therapieempfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Damit erfüllt dieses Programm auch international die höchsten Qualitätskriterien einer evidenzbasierten Medizin.

Ich weiß, wie gefällig es ist, weiter zu behaupten, die Ärzte seien doch gegen die Leitlinien, sie hätten Angst vor Kontrolle. Aber auch durch stetes Wiederholen wird diese Aussage nicht richtiger. Leitlinien sind von uns Ärztinnen und Ärzten selbst entwickelt worden, um eine medizinisch-wissenschaftliche Hilfestellung für eine gute Behandlung zu geben.

Die individuelle Behandlung aber ist damit nicht programmiert. Die individuelle Therapie des Patienten ist ärztliche Kunst und sollte es auch bleiben. Ich freue mich, dass der Herr Bundespräsident das heute hier wieder anerkannt hat.

(Beifall)

Wie aber konnte es dann dazu kommen, dass bei uns Behandlungsprogramme in Form einer Rechtsverordnung erlassen werden? Ich glaube, das liegt vor allem an einer sehr mechanistischen Vorstellung von Medizin, die da meint, Medizin sei eine reine Naturwissenschaft, exakt planbar, operationalisierbar und erfolgsgarantiert.

Dem aber ist mitnichten so. Die Medizin ist eine Humanwissenschaft, die sich auch der Erkenntnisse und Methoden anderer Wissenschaften, so zum Beispiel der Naturwissenschaften, Biowissenschaften, Ingenieurwissenschaften, Sozialwissenschaften, Kommunikationswissenschaften und Geisteswissenschaften - hier insbesondere der Philosophie und der Psychologie -, bedient, die aber jeweils nur mit mehr oder weniger wahrscheinlich richtigem Wissen umgehen muss, wobei bei allen Entscheidungsprozessen sowohl bei Patientinnen und Patienten als auch bei Ärztinnen und Ärzten individuelle Wertungen eine wichtige Rolle spielen. Dieser Anspruch, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist mit einer puren Programmmedizin sicher nicht vereinbar.

(Beifall)

Auch Fortbildung ist nichts Mechanistisches, programmmäßig Abzuarbeitendes - auch wenn der Gesetzgeber die Fortbildung jüngst in strafbewehrter Form als rezidivierendes Kontrollinstrument neu erfunden hat. Fortbildung lebt von der Vielfalt und von echtem Interesse. Es ist ja nicht so, als hätte es vor dem GKV-Modernisierungsgesetz keine Fortbildung gegeben; die Zahlen unserer Veranstaltungen sprechen für sich. Wir haben sogar ein sehr erfolgreiches freiwilliges Fortbildungszertifikat auf den Weg gebracht. Aber wir haben immer betont, dass Fortbildung mehr ist als ein „Absitzen auf Kongressen“. Fortbildung geschieht durch Lektüre, Kollegialgespräche, Konsultationen, Onlinefortbildung und konkrete gute Patientenbehandlung, welche die eigene Evidenz berücksichtigt.

(Beifall)

Gut fortgebildet ist ein Arzt ja nur dann, wenn sich seine Fortbildung nach den Bedürfnissen der individuellen Patienten richtet. Keine gute Fortbildung ist es, wenn man auf möglichst kurzem Wege möglichst viele Punkte sammelt.

(Beifall)

Der Ärzte-TÜV war gefordert, eine Selbstverwaltungslösung haben wir retten können: Art und Weise der Nachweisgestaltung sind der Selbstverwaltung überlassen worden. Heyo Eckel und der Deutsche Senat für ärztliche Fortbildung haben - ich finde: außerordentlich erfolgreich - die ärztlichen Intentionen der Fortbildung auch unter den Prämissen des GKV-Modernisierungsgesetzes in einer Mustersatzung „Fortbildung und Fortbildungszertifikat“ hervorragend formuliert. Danke schön, Heyo Eckel und dem Ausschuss.

(Beifall)

Was wir ganz bewusst nicht gemacht haben - wenigstens bisher -, ist ein gesondertes Konzept zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung aus ärztlicher Sicht, denn wir sind weder Politiker noch Ökonomen. Aber wir haben frühzeitig auf die Finanzierungskrise der gesetzlichen Krankenversicherung infolge der Alterung unserer Gesellschaft wie auch des rasanten medizinischen Fortschritts hingewiesen - lange vor allen anderen - und angeregt, zu überlegen, ob man unter dem Begriff der solidarischen Finanzierung nicht verstehen sollte, dass jeder nach seiner tatsächlichen Leistungsfähigkeit einen Teil gibt, dass also das tatsächliche Gesamteinkommen zugrunde gelegt wird. Das würden wir in einem solidarisch gegliederten GKV-System als gerechter empfinden.

(Beifall)

Es gibt vielfältige Überlegungen und Konzepte, die Finanzierung der GKV neu zu organisieren; Bürgerversicherung und Gesundheitsprämie sind die bekanntesten. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Im Vergleich zu den Entwicklungschancen unseres bisher gegliederten Krankenversicherungssystems sehe ich die Vorteile im bestehenden System überwiegen. Aber wir stehen ja erst am Anfang dieser Diskussion. Die nachhaltige Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme ist und bleibt die große Herausforderung unserer Gesellschaft - und die müssen wir mit allen und mit allen Konsequenzen ganz ehrlich diskutieren, sonst zerstören wir Vertrauen.

Wir sind stolz auf die bisherige Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitswesens und auf die Hingabe und das Engagement der darin arbeitenden Menschen. Umso mehr sind wir verärgert, dass - hier schließe ich mich Ursula Auerswald an - unser Gesundheitswesen in den letzten Jahren so skrupellos heruntergeredet worden ist.

(Beifall)

Auch ich weiß kein Land, in dem Verantwortliche und Funktionsträger mit so großer Lust so schlecht, so negativ über das eigene Land sprechen, wie das bei uns in Deutschland geschieht. Das wird im Ausland registriert. Ich komme im Ausland herum und registriere, dass man mich fragt: Magst du überhaupt nach Hause zurückkehren? Das ist doch offensichtlich schon gefährlich geworden!

Ärzte, Pflegepersonal und alle anderen Berufe im Gesundheitswesen empfinden diese fortgesetzte Destruktion als wirklich entwürdigend. Und die Patienten werden nachhaltig verunsichert.

Es hat mich erschreckt, dass offenbar in derselben Umfrage, die der Herr Bundespräsident gemeint hat, 81 Prozent der Menschen glauben, durch die gesetzliche Krankenversicherung keine ausreichende medizinische Versorgung mehr zu erhalten. Vertrauen zu schaffen ist deshalb das Gebot der Stunde. Wir Ärztinnen und Ärzte hoffen darauf, dass sich auch der Staat dieser Aufgabe annehmen wird und dabei den hohen Maßstäben unterwirft, die der Herr Bundespräsident gesetzt hat:

Neues Vertrauen in staatliches Handeln wird (...) nur wachsen, wenn in Politik und Verwaltung solide gearbeitet wird. Dazu gehört die ernsthafte Auseinandersetzung mit allen Sachfragen, bis ins kleinste Detail.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn das keine gute Vorgabe für die nächste Gesundheitsreform ist!

Vielen Dank für Ihr Zuhören.

(Anhaltender lebhafter Beifall)

Ich möchte Sie hinweisen auf den jetzt stattfindenden Empfang des Bürgermeisters der Freien Hansestadt Bremen und der Ärztekammer Bremen für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am 107. Deutschen Ärztetag im Rathaus der Stadt Bremen. Alle Teilnehmer müssen dieses Konzerthaus verlassen und werden zum nahe liegenden Rathaus geleitet.

Für den Transfer zur Plenarsitzung im Congress Centrum im Anschluss an den Empfang stehen Pendelbusse vor der „Glocke“ bereit.

Meine Damen und Herren, damit ist der 107. Deutsche Ärztetag 2004 in Bremen eröffnet.

Ich bitte Sie, sich zum Singen der Nationalhymne zu erheben.

(Die Anwesenden erheben sich und singen die Nationalhymne)

© 2004, Bundesärztekammer.