TOP I : Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik

Tag 1: Dienstag, 18. Mai 2004

Dr. Pickerodt, Berlin:

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal habe ich das Glück, hier noch ohne Redezeitbegrenzung sprechen zu können. Ich verspreche Ihnen, mich kurzzufassen.

Aus der Rede unseres Bundespräsidenten möchte ich zwei Punkte herausgreifen, die mir besonders wichtig sind, und zwar deswegen, weil sie im Wesentlichen die Patienten betreffen. Wir neigen ja dazu, uns als den Mittelpunkt des Gesundheitswesens anzusehen. In Wirklichkeit sind die Hauptleidtragenden der Entwicklung der letzten Jahre nicht wir, sondern die Patienten, die erheblich zur Kasse gebeten werden. Daran sind natürlich auch wir nicht unbeteiligt.

Der Bundespräsident hat zwei für mich bemerkenswerte Punkte hervorgehoben. Der eine Punkt ist die Solidarität in der Finanzierung aller Sozialsysteme, auf die er großen Wert gelegt hat. Der zweite Punkt ist seine Aussage: Gesundheit ist keine Ware und Patienten sind keine Kunden.

Beide Punkte zielen in die Richtung, über die ich kurz etwas sagen möchte. Es geht um die neoliberale Ideologie, dass wir in Zukunft die Eigenverantwortung zu stärken und alles dem Markt zu überlassen hätten, dann werde sich schon alles richten. Wir haben einen Wettbewerb unter den Krankenkassen eingeführt – mit der Folge, dass es zwischen den Krankenkassen keinen Wettbewerb um die Qualität des Angebots gibt, sondern dass es eine Konkurrenz um gute Risiken gibt. Wir wollten die so genannte Eigenverantwortung der Patienten stärken und haben erhöhte Zuzahlungen in allen möglichen Bereichen erhalten. Es gibt einen stärkeren Eigenanteil der Patienten. Wir verkaufen ihnen IGeL-Leistungen, die zum Teil sinnvoll sind, aber nicht immer sinnvoll sein müssen.

Wir haben vor kurzem in den Zeitungen lesen können, dass sich privat versicherte Patienten Chipkarten von gesetzlich Krankenversicherten ausleihen, um wegen Nichtinanspruchnahme von Leistungen Beitragsteile zurückzuerhalten. Wenn man zynisch wäre, könnte man sagen: Das haben wir damit erreicht, dass wir die Eigenverantwortung der Patienten stärken. Das ist für mich kein besonders guter Ansatz.

Ein Wort zu der Frage, ob Patienten Kunden sind oder nicht. Seit vielen Jahren kommen Unternehmensberater und Krankenhausverwaltungen zu uns und erklären: Wir müssen endlich umdenken, wir müssen die Patienten als Kunden verstehen. Das hängt mir, ehrlich gesagt, langsam zum Halse heraus.

Die Folgen dieser neoliberalen Argumentation sieht man auch auf anderen Gebieten. Der Staat zieht sich weitgehend aus der Verantwortung für das Gesundheitswesen zurück. Das sieht man an den Krankenhäusern. Sie wissen, dass ich aus Berlin komme. Wir haben ein Chaos angerichtet, indem wir die kommunalen Krankenhäuser in eine GmbH überführt haben, die ständig am Rande der Insolvenz schlingert, weil sie Schulden mitzuschleppen hat. Die Beschäftigten und die Patienten sind im höchsten Maße verunsichert. Hamburg geht es nicht viel besser. In München ist man, wenn ich richtig informiert bin, auf dem besten Wege, dies alles nachzuahmen.

Die Krankenhäuser sollen sich – Herr Hoppe hat in seinem Referat völlig zu Recht darauf hingewiesen – zu profitablen Angeboten und zu Nischenangeboten durchringen. Der Rückzug der Krankenhäuser aus der allgemeinen Patientenversorgung ist sichtbar. Das hängt natürlich mit den DRGs und dem Vergütungssystem zusammen, aber selbstverständlich auch mit dem Rückzug des Staates und der Überlassung der Krankenhäuser an private, profitorientierte Aktiengesellschaften.

Die Patienten werden in Zukunft, wenn sie irgendwo Hilfe brauchen, nicht mehr einen Ansprechpartner finden, sondern – diese Gefahr sehe ich ebenso wie Herr Hoppe – an ein Callcenter weitergeleitet. Die Telemedizin mit verschiedenen Beratungsmöglichkeiten über das Internet soll ausgebaut werden.

Alle diese Dinge sind nicht das, was wir uns für das Gesundheitswesen vorstellen. Herr Hoppe hat kürzlich in einem Interview erklärt, er sehe die Gefahr der Merkantilisierung. Dazu muss ich sagen: Die Merkantilisierung haben wir schon lange. Wir werden in Zukunft eine – wenn Sie mir diesen Ausdruck gestatten – Aldisierung haben. Das bedeutet nicht, dass keine gute Qualität angeboten wird. Ich kaufe mein Olivenöl und meinen Laptop bei Aldi. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist das schmale Sortiment des Angebots. Die Menschen, die dort arbeiten, werden zu Bedingungen angestellt, die wir in den Institutionen der Patientenversorgung nicht mehr haben wollen.

(Unruhe)

Herr Hoppe gibt ja jedes Jahr vor dem Ärztetag der „Frankfurter Rundschau“ ein Interview. Nachdem ich das Interview in diesem Jahr gelesen habe, muss ich sagen: Ich freue mich, dass Herr Hoppe ganz offensichtlich in die richtige Richtung denkt und sich bewegt. Er hat dort einiges deutlicher gesagt als heute in seinem Referat bei der Eröffnungsveranstaltung. Vielleicht können wir das in Zukunft noch verdeutlichen. Auf jeden Fall bewegt er sich in die richtige Richtung und dafür danke ich ihm.

(Vereinzelt Beifall)

Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Danke schön. – Jetzt gibt es einen Antrag zur Geschäftsordnung von Herrn Windau. Bitte schön.

© 2004, Bundesärztekammer.