TOP II: Durch Quantität zu Qualität? – Folgen der Konzentration und Zentralisierung von medizinischer Versorgung für die Bevölkerung

Tag 2: Mittwoch, 19. Mai 2004 Vormittagssitzung

Henke, Referent:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Natürlich ist das Thema, das wir diskutieren, in die äußeren Rahmenbedingungen einzubetten, über die wir auch gestern und in der Vorbereitung des Ärztetages viel diskutiert haben. Wir haben es zum einen mit dem demographischen Wandel zu tun, der ja nicht nur daraus resultiert, dass wir erfreulicherweise eine höhere Lebenserwartung haben, sondern auch daher rührt, dass die Geburtenrate eingebrochen ist. Wir haben einen ungebrochenen medizinischen und medizinisch-technischen Fortschritt. Der Stellenwert der Gesundheit für den Einzelnen hat sich verändert. Wir alle spüren in unserer täglichen Arbeit, wie sehr die Kranken genau darauf achten, wie wir mit ihnen umgehen. Wir registrieren, wie auch kleine Unsicherheiten, kleine Irritationen Vertrauen verschütten können.

Wir sind eingebettet in einen wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands. Ich glaube, viele haben noch nicht bemerkt, dass wir nicht mehr das reiche Land sind, das aus dem Vollen schöpft, sondern dass wir vielfach von der Substanz leben.

Die Globalisierung schreitet weiter fort. Es gibt strittige Wertungen – das haben wir während der Eröffnungsveranstaltung registriert – hinsichtlich des Stellenwerts der Beitragssatzstabilität.

Ich glaube, wir sind uns einig – das hat die gestrige Diskussion gezeigt –, welche Zielsetzungen anzustreben sind: eine hohe Qualität der Versorgung, die Zugänglichkeit zu allen erforderlichen Leistungen für jedermann, angemessene Vergütung der Leistungen, keine Überforderung der Finanzierungsquellen. Sowohl der Herr Bundespräsident als auch die Bundesministerin für Gesundheit als auch Bürgermeister Scherf haben uns nochmals darauf aufmerksam gemacht: keine Blockade der Dynamik im Gesundheitswesen, denn sie würde bedeuten, Patienten von den möglichen Fortschritten auszuschließen.

Wir wollen – das hat der Ärztetag gestern bestätigt – eine verlässliche Solidarität von Gesunden und Kranken. Wir sind überzeugt, dass Freiberuflichkeit und Wahlfreiheit Qualität und Vertrauen sichern. Schließlich wollen wir selber natürlich zufrieden sein und motiviert arbeiten.

Konzentrationsimpulse in unserem Gesundheitswesen sind weit verbreitet. Die Krankenhausplanung der Länder hat schon in den vergangenen Jahrzehnten zu einem kontinuierlichen Abbau kleiner Krankenhäuser geführt und die Bettenzahlen reduziert.

Unter den Bedingungen gedeckelter Budgets, wie wir sie spätestens seit Anfang der 90er-Jahre kennen, erleben wir, dass Krankenhäuser ihre ökonomische Auslastung an den so genannten Großserien, den „economies of large scale“, orientieren. Das Vergütungssystem nach DRGs setzt weitere Impulse, das Sortiment um nicht lukrative Leistungen zu bereinigen, und fördert auch damit Konzentrationsprozesse.

Viele Krankenhäuser kooperieren, koordinieren sich untereinander, fusionieren. Dann folgt – das aktuelle Beispiel ist die Debatte über die kardiologische Versorgung in Hamburg – eine Standortaufteilung. Die Krankenhauskonzerne, denen sich immer mehr Krankenhäuser angeschlossen haben, suchen Synergieeffekte in der Konzentration und sie propagieren – wie etwa die Rhön-Klinikum AG – das Portalkrankenhaus einerseits und in der Mitte mehrerer Portalkrankenhäuser andererseits das Leistungszentrum, in dem die eigentlich differenzierten Leistungen erbracht werden.

Wir können annehmen, dass die Effekte von ambulantem Operieren, integrierter Versorgung, den Disease-Management-Programmen und den Medizinischen Versorgungszentren den Konzentrationsprozess weiter fördern werden. Wir wissen natürlich, dass die Mindestgröße der Stellenpläne von Abteilungen heute kritischer unter dem Gesichtspunkt ausgewertet wird, ob die Fallzahl reicht, um das entsprechende Potenzial an vorzuhaltendem Personal auszulasten.

Schließlich haben wir – damit kommen wir zum Kern dieses Tagesordnungspunktes – die Mindestmengendebatte. „Übung macht den Meister“ – so lautet ein Sprichwort und auch in der Medizin ist diese Erkenntnis nicht grundsätzlich neu. Vor 25 Jahren zeigte eine US-Studie von Luft, Bunker und Enthoven – „Should operations be regionalized?“, NEJM 1979 –, dass eine Beziehung zwischen der Operationshäufigkeit einer Klinik und der Mortalität der Patienten bestehen kann. Die zentrale Schlussfolgerung dieser Studie über die empirische Beziehung zwischen chirurgischer Quantität und Sterblichkeit war: Mit zunehmender Zahl von Operationen sinkt die Sterblichkeit der Patienten.

Dieser Satz ist international zum Treibstoff für eine zunächst vor allem in den USA heftig geführte Diskussion darüber, ob bestimmte Operationen nicht besser an wenigen ausgewiesenen Zentren durchgeführt werden sollten, geworden.

Dass diese Diskussion auch den deutschen Gesetzgeber erreicht hat, zeigt ein Blick in das Sozialgesetzbuch V. Noch ehe das Sozialgesetzbuch V geändert war, bekamen wir bereits einen Prototypen präsentiert, nämlich die Brustzentren in Nordrhein-Westfalen. 2002 erfolgte die Gründung einer Koalition gegen den Brustkrebs. Es erfolgte die Adaptation der Kriterien, die von der European Society of Mastology (EUSOMA) vorgelegt wurden: 150 Eingriffe pro Haus, 50 Eingriffe pro Arzt. Inzwischen sind – darauf hat vor wenigen Tagen der Vorstandsvorsitzende der AOK Rheinland, Herr Wilfried Jacobs, noch einmal aufmerksam gemacht – diese Kriterien in die Verträge über die Disease-Management-Programme eingebaut. Jedes Krankenhaus im Rheinland, das an den Disease-Management-Programmen teilnehmen will, muss die Einhaltung dieser Daten zusagen.

Es findet eine offensichtlich auf Widerstandsminderung ausgerichtete strategische Auswahl der an diesen Programmen beteiligten Häuser statt. Das kann man daran erkennen, dass es ab und zu doch Häuser gibt, die hineinrutschen, obwohl sie die Zahlen nicht erbringen.

Die Konsequenz wäre, dass sich in Nordrhein-Westfalen die Zahl der Kliniken mit einer operativen Behandlung beim Mammakarzinom von 240 auf 40 bis 50 reduzieren müsste, wenn das Programm konsequent umgesetzt wird.

Vor allem zwei Bestimmungen in § 137 SGB V – „Qualitätssicherung bei zugelassenen Krankenhäusern“ – sind hier von Belang. Sie wissen, dass es in diesem Paragraphen um einheitlich für alle Patienten zu vereinbarende Maßnahmen der Qualitätssicherung geht, die die Spitzenverbände der Krankenkassen und der Verband der privaten Krankenversicherung mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft vereinbaren, und zwar unter spät erreichter, aber ausdrücklich ins Gesetz aufgenommener Beteiligung der Bundesärztekammer sowie der Berufsorganisationen der Krankenpflegeberufe. Dabei sind – so der Gesetzestext – die Erfordernisse einer sektor- und berufsgruppenübergreifenden Versorgung angemessen zu berücksichtigen. Der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ist zur Stellungnahme Gelegenheit zu geben.

Die Vereinbarungen regeln unter anderem, was unser heutiges Thema betrifft, insbesondere einen Katalog planbarer Leistungen, bei denen die Qualität des Behandlungsergebnisses im besonderen Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist, Mindestmengen für die jeweiligen Leistungen je Arzt oder Krankenhaus sowie Ausnahmetatbestände.

Nach anfänglicher Zurückhaltung hat die Bundesregierung ab Mitte 2003 mit einiger Intensität darauf gedrungen, dass die im Gesetz genannten Vertragsparteien – Kassen, Deutsche Krankenhausgesellschaft, unter Beteiligung von Bundesärztekammer und Deutschem Pflegerat – einen entsprechenden Mindestmengenkatalog vereinbaren sollen. Der Staatssekretär im Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Dr. Schröder, hat sich in einem Schreiben vom 3. Juli 2003 an die Selbstverwaltung dafür verwendet. Daraufhin hat der VdAK Ende August 2003 einen Katalog von Mindestmengen pro Jahr pro Krankenhaus und pro Arzt vorgelegt. Als in der Evidenz nicht ausreichend gesichert wurden beispielsweise Leberteilresektionen, Operationen des Bauchaortenaneurysmas, Endoprothesen an Hüft- und Kniegelenk, andere orthopädische Eingriffe am Kniegelenk, die Erstbehandlung des Polytraumas oder die Behandlung beim akuten Myokardinfarkt genannt.

Allein dieses Spektrum, liebe Kolleginnen und Kollegen, lässt erkennen, dass die Diskussion keineswegs bei den im Gesetz genannten planbaren, also elektiven Leistungen stoppt. Das Gesetz sieht planbare und elektive Leistungen als Anlass für Mindestmengenvereinbarungen vor. Aber warum sollte der VdAK eine Bewertung bei der Erstbehandlung des Polytraumas oder bei akutem Myokardinfarkt vornehmen lassen, auch wenn er zu dem Ergebnis kommt, dass auch aus seiner Sicht keine ausreichende Evidenz vorhanden ist? Aber die bloße Tatsache, dass man sich auch mit diesen Fragen auseinander setzt, zeigt: Der Mindestmengenansatz geht natürlich weit über die Regelungen im heutigen Sozialgesetzbuch V hinaus.

Sie erinnern sich an den 106. Deutschen Ärztetag. Auf diesem Ärztetag haben Kollegen um Herrn Dr. Josten aus Bonn einen Antrag eingebracht, der Fragen aufgeworfen hat. Diesen Antrag haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, an den Vorstand der Bundesärztekammer überwiesen. Ich will an einige dieser Fragen erinnern:

Ist es bei systemischen Erkrankungen wie beispielsweise dem Mammakarzinom sinnvoll, die dafür vorgesehenen Zentren auf der Basis jährlicher Mindestmengen zuzulassen, wenn sich die Erkrankung über Jahrzehnte erstrecken kann und die operative Versorgung nur eine – eine zwar wichtige, aber nur eine – Komponente in der Versorgungskette darstellt?

Führen die zeitgleichen Änderungen der Krankenhauspläne mit Fallzahlkomponenten und die Vergütung nach DRGs in ihrem Zusammenwirken zu Engpässen und Warteschlangen in der Versorgung?

Welchen Einfluss haben Lernkurven auf die Ausprägung des Indikators „Mindestmengen“, zumal bekannt ist, dass nach einer bestimmten Anzahl von Operationen die gleichen Ergebnisse – beispielsweise bei Lebertransplantationen – in neu entstehenden Zentren und in etablierten Zentren erzielt werden?

In welchen Fällen kann durch den Synergieeffekt von spezialisierten Zentren, obwohl dort die Mindestmenge unterschritten wird, eine hohe Qualität erzielt werden, wie dies für Transplantationen der Leber bei Kindern und Erwachsenen gezeigt wurde?

Können wir ausschließen, dass eine „Ausdünnung“ der Versorgung herbeigeführt wird, beispielsweise durch längere Anreisen von Patienten, dadurch, dass sich Patienten gegen die Versorgung im ferneren, ihnen nicht bekannten Umfeld entscheiden, oder auch bei Transplantationen durch eine längere, „kalte Ischämiezeit“ des Organs?

Darüber hinaus haben wir, weil es auch dabei um die Versorgung der Bevölkerung geht und die Weiterbildung als Qualitätssicherungsinstrument dazu dient, der Bevölkerung eine gute Versorgung zu sichern, die Interferenz der Regelungen zur Mindestmengenproblematik auch mit den Möglichkeiten zur Weiterbildung, der Weiterentwicklung der DRGs und anderer Rechtsnormen zu berücksichtigen.

Aus diesem Grund hat der Vorstand der Bundesärztekammer Herrn Professor Dr. Geraedts vom Institut für Medizinische Soziologie der medizinischen Einrichtung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf um ein Gutachten zu der grundlegenden Frage gebeten, ob aus einer Mengenregelung und der daraus folgenden Versorgungszentralisierung tatsächlich für den Patienten spürbare Ergebnisverbesserungen resultieren. Dabei ging es natürlich zu keinem Zeitpunkt darum, den Initiatoren der Mindestmengenregelung den guten Willen abzusprechen, im Sinne der Patientinnen und Patienten handeln zu wollen. Die Frage ist nur, ob ungewollte Konsequenzen resultieren, die letzten Endes die gut gemeinte Absicht der Politik zu einer Fehlinvestition werden lassen können, und ob die verfügbare Evidenz ausreicht, um Regelungen zu rechtfertigen, wie sie beispielsweise in dem Vorschlagskatalog des VdAK enthalten waren.

Herr Professor Geraedts wird die Ergebnisse seiner Untersuchungen gleich selbst darstellen. Am 25. November 2003 haben in der BQS neuerliche Verhandlungen zu einer Mindestmengenvereinbarung nach § 137 SGB V stattgefunden und zu folgender Regelung für fünf Indikationen geführt: jährliche Mindestmenge pro Krankenhaus bei Lebertransplantation: 10; jährliche Mindestmenge pro Krankenhaus bei Nierentransplantation: 20; jährliche Mindestmenge pro Krankenhaus und pro Arzt bei komplexen Eingriffen am Organsystem
Ösophagus: 5; jährliche Mindestmenge pro Krankenhaus und pro Arzt bei komplexen Eingriffen am Organsystem Pankreas: 5; jährliche Mindestmenge pro Krankenhaus bei Stammzellentransplantation: 12.

Der Vorstand der Bundesärztekammer hat auf Basis der derzeit verfügbaren Erkenntnisse und mit Zuarbeit vieler eine Positionierung zum Thema vorgenommen, die wir in dem Ihnen vorliegenden Entschließungsantrag formuliert haben. Ehe ich Ihnen diesen Entschließungsantrag vorstelle und erläutere, wollen wir Herrn Professor Geraedts Gelegenheit geben, uns die notwendige wissenschaftliche Evidenz zur Ableitung von Mindestmengen vor Augen zu führen.

Auf der Leinwand sehen Sie David Lean, den Regisseur einer ganzen Reihe von Filmen, die Sie kennen: „Die Brücke am Kwai“, „Lawrence von Arabien“, „Doktor Schiwago“, „Ryans Tochter“ und „Reise nach Indien“. Fünf große Filme in 30 Jahren! – Jetzt sehen Sie Herrn Professor Lauterbach: Serienproduktion ist besser. Ist Serienproduktion wirklich besser? Denken Sie an „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, „Verbotene Liebe“ und „Marienhof“.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall)

Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Herzlichen Dank, Rudolf Henke. Ich gebe ohne Kommentar das Wort nun an Professor Geraedts. Bitte schön.
© 2004, Bundesärztekammer.