Henke, Referent:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren!
Natürlich ist das Thema, das wir diskutieren, in die äußeren Rahmenbedingungen
einzubetten, über die wir auch gestern und in der Vorbereitung des Ärztetages
viel diskutiert haben. Wir haben es zum einen mit dem demographischen
Wandel zu tun, der ja nicht nur daraus resultiert, dass wir erfreulicherweise
eine höhere Lebenserwartung haben, sondern auch daher rührt, dass die
Geburtenrate eingebrochen ist. Wir haben einen ungebrochenen medizinischen
und medizinisch-technischen Fortschritt. Der Stellenwert der Gesundheit
für den Einzelnen hat sich verändert. Wir alle spüren in unserer täglichen
Arbeit, wie sehr die Kranken genau darauf achten, wie wir mit ihnen
umgehen. Wir registrieren, wie auch kleine Unsicherheiten, kleine Irritationen
Vertrauen verschütten können. Wir
sind eingebettet in einen wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands.
Ich glaube, viele haben noch nicht bemerkt, dass wir nicht mehr das
reiche Land sind, das aus dem Vollen schöpft, sondern dass wir vielfach
von der Substanz leben.
Die Globalisierung schreitet weiter fort. Es gibt
strittige Wertungen – das haben wir während der Eröffnungsveranstaltung
registriert – hinsichtlich des Stellenwerts der Beitragssatzstabilität.
Ich glaube, wir sind uns einig – das hat die gestrige
Diskussion gezeigt –, welche Zielsetzungen anzustreben sind: eine
hohe Qualität der Versorgung, die Zugänglichkeit zu allen erforderlichen
Leistungen für jedermann, angemessene Vergütung der Leistungen, keine
Überforderung der Finanzierungsquellen. Sowohl der Herr Bundespräsident
als auch die Bundesministerin für Gesundheit als auch Bürgermeister
Scherf haben uns nochmals darauf aufmerksam
gemacht: keine Blockade der Dynamik im Gesundheitswesen, denn sie
würde bedeuten, Patienten von den möglichen Fortschritten auszuschließen.
Wir wollen – das hat der Ärztetag gestern bestätigt
– eine verlässliche Solidarität von Gesunden und Kranken. Wir sind
überzeugt, dass Freiberuflichkeit und Wahlfreiheit Qualität und Vertrauen
sichern. Schließlich wollen wir selber natürlich zufrieden sein und
motiviert arbeiten.
Konzentrationsimpulse in unserem Gesundheitswesen
sind weit verbreitet. Die Krankenhausplanung der Länder hat schon
in den vergangenen Jahrzehnten zu einem kontinuierlichen Abbau kleiner
Krankenhäuser geführt und die Bettenzahlen reduziert.
Unter den Bedingungen gedeckelter
Budgets, wie wir sie spätestens seit Anfang der 90er-Jahre kennen,
erleben wir, dass Krankenhäuser ihre ökonomische Auslastung an den
so genannten Großserien, den „economies of large scale“, orientieren.
Das Vergütungssystem nach DRGs setzt weitere Impulse, das Sortiment
um nicht lukrative Leistungen zu bereinigen, und fördert auch damit
Konzentrationsprozesse.
Viele Krankenhäuser kooperieren, koordinieren sich
untereinander, fusionieren. Dann folgt – das aktuelle Beispiel ist
die Debatte über die kardiologische Versorgung in Hamburg – eine Standortaufteilung.
Die Krankenhauskonzerne, denen sich immer mehr Krankenhäuser angeschlossen
haben, suchen Synergieeffekte in der Konzentration und sie propagieren
– wie etwa die Rhön-Klinikum AG – das Portalkrankenhaus einerseits
und in der Mitte mehrerer Portalkrankenhäuser andererseits das Leistungszentrum,
in dem die eigentlich differenzierten Leistungen erbracht werden.
Wir können annehmen, dass die Effekte von ambulantem
Operieren, integrierter Versorgung, den Disease-Management-Programmen
und den Medizinischen Versorgungszentren den Konzentrationsprozess
weiter fördern werden. Wir wissen natürlich, dass die Mindestgröße
der Stellenpläne von Abteilungen heute kritischer unter dem Gesichtspunkt
ausgewertet wird, ob die Fallzahl reicht, um das entsprechende Potenzial
an vorzuhaltendem Personal auszulasten.
Schließlich haben wir – damit kommen wir zum Kern
dieses Tagesordnungspunktes – die Mindestmengendebatte. „Übung macht
den Meister“ – so lautet ein Sprichwort und auch in der Medizin ist
diese Erkenntnis nicht grundsätzlich neu. Vor 25 Jahren zeigte eine
US-Studie von Luft, Bunker und Enthoven
– „Should operations
be regionalized?“, NEJM 1979 –,
dass eine Beziehung zwischen der Operationshäufigkeit einer Klinik
und der Mortalität der Patienten bestehen kann. Die zentrale Schlussfolgerung
dieser Studie über die empirische Beziehung zwischen chirurgischer
Quantität und Sterblichkeit war: Mit zunehmender Zahl von Operationen
sinkt die Sterblichkeit der Patienten.
Dieser Satz ist international zum Treibstoff für
eine zunächst vor allem in den USA heftig geführte Diskussion darüber,
ob bestimmte Operationen nicht besser an wenigen ausgewiesenen Zentren
durchgeführt werden sollten, geworden.
Dass diese Diskussion auch den deutschen Gesetzgeber
erreicht hat, zeigt ein Blick in das Sozialgesetzbuch V. Noch ehe
das Sozialgesetzbuch V geändert war, bekamen wir bereits einen Prototypen
präsentiert, nämlich die Brustzentren in Nordrhein-Westfalen. 2002
erfolgte die Gründung einer Koalition gegen den Brustkrebs. Es erfolgte
die Adaptation der Kriterien, die von der European Society of Mastology
(EUSOMA) vorgelegt wurden: 150 Eingriffe pro Haus, 50 Eingriffe
pro Arzt. Inzwischen sind – darauf hat vor wenigen Tagen der Vorstandsvorsitzende
der AOK Rheinland, Herr Wilfried Jacobs, noch einmal aufmerksam gemacht
– diese Kriterien in die Verträge über die Disease-Management-Programme
eingebaut. Jedes Krankenhaus im Rheinland, das an den Disease-Management-Programmen
teilnehmen will, muss die Einhaltung dieser Daten zusagen.
Es findet eine offensichtlich auf Widerstandsminderung
ausgerichtete strategische Auswahl der an diesen Programmen beteiligten
Häuser statt. Das kann man daran erkennen, dass es ab und zu doch
Häuser gibt, die hineinrutschen, obwohl sie die Zahlen nicht erbringen.
Die Konsequenz wäre, dass sich in Nordrhein-Westfalen
die Zahl der Kliniken mit einer operativen Behandlung beim Mammakarzinom
von 240 auf 40 bis 50 reduzieren müsste, wenn das Programm konsequent
umgesetzt wird.
Vor allem zwei Bestimmungen in § 137 SGB V – „Qualitätssicherung
bei zugelassenen Krankenhäusern“ – sind hier von Belang. Sie wissen,
dass es in diesem Paragraphen um einheitlich für alle Patienten zu
vereinbarende Maßnahmen der Qualitätssicherung geht, die die Spitzenverbände
der Krankenkassen und der Verband der privaten Krankenversicherung
mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft vereinbaren, und zwar unter
spät erreichter, aber ausdrücklich ins Gesetz aufgenommener Beteiligung
der Bundesärztekammer sowie der Berufsorganisationen der Krankenpflegeberufe.
Dabei sind – so der Gesetzestext – die Erfordernisse einer sektor-
und berufsgruppenübergreifenden Versorgung angemessen zu berücksichtigen.
Der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ist zur Stellungnahme Gelegenheit
zu geben.
Die Vereinbarungen regeln unter anderem, was unser
heutiges Thema betrifft, insbesondere einen Katalog planbarer Leistungen,
bei denen die Qualität des Behandlungsergebnisses im besonderen Maße
von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist, Mindestmengen
für die jeweiligen Leistungen je Arzt oder Krankenhaus sowie Ausnahmetatbestände.
Nach anfänglicher Zurückhaltung hat die Bundesregierung
ab Mitte 2003 mit einiger Intensität darauf gedrungen, dass die im
Gesetz genannten Vertragsparteien – Kassen, Deutsche Krankenhausgesellschaft,
unter Beteiligung von Bundesärztekammer und Deutschem Pflegerat –
einen entsprechenden Mindestmengenkatalog vereinbaren sollen. Der
Staatssekretär im Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung,
Dr. Schröder, hat sich in einem Schreiben vom 3. Juli 2003 an die
Selbstverwaltung dafür verwendet. Daraufhin hat der VdAK Ende August
2003 einen Katalog von Mindestmengen pro Jahr pro Krankenhaus und
pro Arzt vorgelegt. Als in der Evidenz nicht ausreichend gesichert
wurden beispielsweise Leberteilresektionen, Operationen des Bauchaortenaneurysmas,
Endoprothesen an Hüft- und Kniegelenk, andere orthopädische
Eingriffe am Kniegelenk, die Erstbehandlung des Polytraumas oder die
Behandlung beim akuten Myokardinfarkt genannt.
Allein dieses Spektrum, liebe Kolleginnen und Kollegen,
lässt erkennen, dass die Diskussion keineswegs bei den im Gesetz genannten
planbaren, also elektiven Leistungen stoppt. Das Gesetz sieht planbare
und elektive Leistungen als Anlass für Mindestmengenvereinbarungen
vor. Aber warum sollte der VdAK eine Bewertung bei der Erstbehandlung
des Polytraumas oder bei akutem Myokardinfarkt vornehmen lassen, auch
wenn er zu dem Ergebnis kommt, dass auch aus seiner Sicht keine ausreichende
Evidenz vorhanden ist? Aber die bloße Tatsache, dass man sich auch
mit diesen Fragen auseinander setzt, zeigt: Der Mindestmengenansatz
geht natürlich weit über die Regelungen im heutigen Sozialgesetzbuch
V hinaus.
Sie erinnern sich an den 106. Deutschen Ärztetag.
Auf diesem Ärztetag haben Kollegen um Herrn Dr. Josten aus Bonn einen
Antrag eingebracht, der Fragen aufgeworfen hat. Diesen Antrag haben
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, an den Vorstand der Bundesärztekammer
überwiesen. Ich will an einige dieser Fragen erinnern:
Ist es bei systemischen Erkrankungen wie beispielsweise
dem Mammakarzinom sinnvoll, die dafür vorgesehenen
Zentren auf der Basis jährlicher Mindestmengen zuzulassen, wenn sich
die Erkrankung über Jahrzehnte erstrecken kann und die operative Versorgung
nur eine – eine zwar wichtige, aber nur eine – Komponente in der Versorgungskette
darstellt?
Führen die zeitgleichen Änderungen der Krankenhauspläne
mit Fallzahlkomponenten und die Vergütung nach DRGs in ihrem Zusammenwirken
zu Engpässen und Warteschlangen in der Versorgung?
Welchen Einfluss haben Lernkurven auf die Ausprägung
des Indikators „Mindestmengen“, zumal bekannt ist, dass nach einer
bestimmten Anzahl von Operationen die gleichen Ergebnisse – beispielsweise
bei Lebertransplantationen – in neu entstehenden Zentren und in etablierten
Zentren erzielt werden?
In welchen Fällen kann durch den Synergieeffekt
von spezialisierten Zentren, obwohl dort die Mindestmenge unterschritten
wird, eine hohe Qualität erzielt werden, wie dies für Transplantationen
der Leber bei Kindern und Erwachsenen gezeigt wurde?
Können wir ausschließen, dass eine „Ausdünnung“
der Versorgung herbeigeführt wird, beispielsweise durch längere Anreisen
von Patienten, dadurch, dass sich Patienten gegen die Versorgung im
ferneren, ihnen nicht bekannten Umfeld entscheiden, oder auch bei
Transplantationen durch eine längere, „kalte Ischämiezeit“ des Organs?
Darüber hinaus haben wir, weil es auch dabei um
die Versorgung der Bevölkerung geht und die Weiterbildung als Qualitätssicherungsinstrument
dazu dient, der Bevölkerung eine gute Versorgung zu sichern, die Interferenz
der Regelungen zur Mindestmengenproblematik auch mit den Möglichkeiten
zur Weiterbildung, der Weiterentwicklung der DRGs und anderer Rechtsnormen
zu berücksichtigen.
Aus diesem Grund hat der Vorstand der Bundesärztekammer
Herrn Professor Dr. Geraedts vom Institut
für Medizinische Soziologie der medizinischen Einrichtung der Heinrich-Heine-Universität
Düsseldorf um ein Gutachten zu der grundlegenden Frage gebeten, ob
aus einer Mengenregelung und der daraus folgenden Versorgungszentralisierung
tatsächlich für den Patienten spürbare Ergebnisverbesserungen resultieren.
Dabei ging es natürlich zu keinem Zeitpunkt darum, den Initiatoren
der Mindestmengenregelung den guten Willen abzusprechen, im Sinne
der Patientinnen und Patienten handeln zu wollen. Die Frage ist nur,
ob ungewollte Konsequenzen resultieren, die letzten Endes die gut
gemeinte Absicht der Politik zu einer Fehlinvestition werden lassen
können, und ob die verfügbare Evidenz ausreicht, um Regelungen zu
rechtfertigen, wie sie beispielsweise in dem Vorschlagskatalog des
VdAK enthalten waren.
Herr Professor Geraedts wird die Ergebnisse seiner Untersuchungen gleich
selbst darstellen. Am 25. November 2003 haben in der BQS neuerliche
Verhandlungen zu einer Mindestmengenvereinbarung nach § 137 SGB V
stattgefunden und zu folgender Regelung für fünf Indikationen geführt:
jährliche Mindestmenge pro Krankenhaus bei Lebertransplantation: 10;
jährliche Mindestmenge pro Krankenhaus bei Nierentransplantation:
20; jährliche Mindestmenge pro Krankenhaus und pro Arzt bei komplexen
Eingriffen am Organsystem
Ösophagus: 5; jährliche Mindestmenge pro Krankenhaus und pro Arzt
bei komplexen Eingriffen am Organsystem Pankreas: 5; jährliche Mindestmenge
pro Krankenhaus bei Stammzellentransplantation: 12.
Der Vorstand der Bundesärztekammer hat auf Basis
der derzeit verfügbaren Erkenntnisse und mit Zuarbeit vieler eine
Positionierung zum Thema vorgenommen, die wir in dem Ihnen vorliegenden
Entschließungsantrag formuliert haben. Ehe ich Ihnen diesen Entschließungsantrag
vorstelle und erläutere, wollen wir Herrn Professor Geraedts Gelegenheit geben, uns die notwendige wissenschaftliche
Evidenz zur Ableitung von Mindestmengen vor Augen zu führen.
Auf der Leinwand sehen Sie David Lean,
den Regisseur einer ganzen Reihe von Filmen, die Sie kennen: „Die
Brücke am Kwai“, „Lawrence von Arabien“,
„Doktor Schiwago“, „Ryans Tochter“ und „Reise
nach Indien“. Fünf große Filme in 30 Jahren! – Jetzt sehen Sie Herrn
Professor Lauterbach: Serienproduktion ist besser. Ist Serienproduktion
wirklich besser? Denken Sie an „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, „Verbotene
Liebe“ und „Marienhof“.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall)
Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer
und des Deutschen Ärztetages:
Herzlichen Dank, Rudolf Henke. Ich gebe ohne Kommentar das Wort nun
an Professor Geraedts. Bitte schön.
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