TOP VI: Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer

Tag 3: Donnerstag, 20. Mai 2004 Nachmittagssitzung

Henke, Referent:

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist bereits spät am Tag. Es handelt sich um ein schwieriges Thema. Es gibt keine Bilder. Ich werde jetzt keine eingehende Erläuterung des Antrags VI-2 vornehmen, sondern ich will auf den Anlass für diese Beratung eingehen. Es hat ja – ich glaube, das war auf dem Ärztetag 2001 – einen Antrag gegeben, der uns aufgefordert hat, uns mit Haltungen auseinander zu setzen, wie sie beispielsweise im so genannten Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch zu finden sind. Der Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch ist ein sehr renommierter juristischer Kommentar. Dort findet man in der Kommentierung zu § 823 – Schadensersatzpflicht – Ausführungen zu den möglichen Schadensersatzansprüchen eines Kindes, das mit einer Behinderung zur Welt gekommen ist. Dort findet sich von Herrn Wagner, dem Autor, der Satz:

In ethischer Hinsicht sollte man beherzigen, dass es menschliches Leben gibt, das nicht lebenswert ist.

Es gab auf dem 104. Deutschen Ärztetag in Ludwigshafen den Wunsch, uns mit solchen Auffassungen auseinander zu setzen und dazu einen Tagesordnungspunkt auf einem späteren Ärztetag vorzubereiten.

Wir haben im vergangenen Jahr das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen begangen. In vielen Veranstaltungen haben auch viele Ärztinnen und Ärzte versucht, ein verändertes Bild von Menschen mit Behinderungen zu vermitteln. Das war eine neue Möglichkeit, auf die besondere Lebenssituation behinderter Menschen hinzuweisen und die Impulse und Ansätze in der Behindertenarbeit zu verstärken.

Wir sind uns wahrscheinlich einig, dass die Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten für Menschen mit einer oder mehrfacher Behinderung viel bewegt hat. Ich denke an die Verfassungsänderung mit dem Diskriminierungsverbot 1994, ich denke an Gesetze wie das Sozialgesetzbuch IX und das Behindertengleichstellungsgesetz, die parteiübergreifend beschlossen wurden. Ich denke an die finanziellen Ansprüche in der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz, die die Finanzkraft der Kommunen so sehr fordern, dass der Ruf nach einem Leistungsgesetz auf Bundesebene immer lauter wird. Ich denke an personelle Hilfen wie in den vielen Werkstätten für behinderte Menschen; ich denke an bauliche Investitionen für die gesundheitliche, die berufliche und die soziale Rehabilitation.

Die Entwicklung in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg ist sicher rascher verlaufen als in langen historischen Zeiträumen zuvor, von der Behindertenfeindlichkeit der nationalsozialistischen Diktatur ganz zu schweigen. Das bedeutet nicht, dass der Ausbau auch in dieser Hinsicht nicht noch Etliches erfordern würde. Anpassungen an die Entwicklung sind immer wieder nötig.

Bereits im 19. Jahrhundert hat man Anstalten für Behinderte gegründet, entweder auf staatliche oder auf kirchliche Initiative hin. Man hat die damit gestellte Aufgabe zunächst so zu lösen versucht, dass man alle diejenigen, die eine bestimmte Form der Behinderung hatten, in eigens für sie errichteten Anstalten zusammengefasst hat. Diese räumliche und organisatorische Zusammenfassung hat zwar eine fachspezifische Hilfe gewährt, wie sie unumgänglich geworden ist, aber damit ist auch ein neues Problem entstanden, nämlich die soziale Isolierung behinderter Menschen von der Gesellschaft. Ich sage nicht, dass das bewusst beabsichtigt war. Aber man kam dadurch auch bestimmten – mindestens heimlichen – Bedürfnissen und Wünschen in der Gesellschaft entgegen. Die Gesellschaft hat nämlich gegen Mitmenschen, die mit einem Leiden behaftet sind, oft ein gespanntes, ein ambivalentes, nicht zu selten sogar abwehrendes und ablehnendes Verhalten ausgebildet. Ich glaube nicht, dass wir uns heute bereits von allen Anzeichen dafür befreit haben.

In einigen Bereichen sind sogar Verschlechterungen festzustellen. Die Einstellung, dass die Geburt eines Kindes mit körperlichen Fehlbildungen ein Schadensfall wäre, hat auf fatale Weise einen Weg in das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 18. Juni 2002 gefunden. Dieses Urteil spricht von einem „Unterhaltsschaden der Eltern bei unterbliebenem Schwangerschaftsabbruch“. Auf problematische Weise wird hier deutlich, dass die Selektion von Menschen aufgrund ihrer Behinderung in unserer Gesellschaft bereits Realität ist. Dieses BGH-Urteil lässt viele daran zweifeln, dass der Wertekonsens des Grundgesetzes tatsächlich ein Wertekonsens sei. Diese und andere Entscheidungen dokumentieren ein sehr problematisches Verständnis von Menschen mit Behinderungen als Schadensfall.

Zwar heben Juristen oder Rechtspolitiker hervor, dass nicht das behinderte Kind als solches ein Schaden sei, sondern lediglich der Vermögensschaden für Eltern, der durch die Kosten des Kindes bzw. seiner Behinderung verursacht wird. Damit aber wird die Wirkung dieses Urteils nicht gemindert. Wo es um die Alternative des Geborenwerdens oder Nichtgeborenwerdens, um Leben oder Nichtleben geht, werden Menschen mit Behinderungen zu Ursachen von Kosten und Vermögensschäden entwertet. Das Beispiel des Münchener Kommentars zum BGB habe ich eingangs genannt.

Natürlich soll das Arzthaftungsrecht die Qualität ärztlicher Dienstleistung sicherstellen und Kunstfehler ahnden. Insofern muss der Arzt, wenn er sich zu einer vorgeburtlichen Diagnostik bereit findet, seine Diagnosen gewissenhaft vornehmen und die Eltern über die tatsächlich erhobenen Befunde informieren. Um das Ergebnis einer pränatalen Diagnostik sinnvoll einordnen und in seinen Konsequenzen verstehen zu können, bedarf es aber neben einer ausführlichen medizinischen sicher auch einer Wertüberlegungen vermittelnden Beratung durch Fachleute vor und nach dem eigentlichen Test.

Ich persönlich glaube, dass gegenüber der zuvor genannten Pränataldiagnostik die Präimplantationsdiagnostik, eine neue Anwendungsform der genetischen Diagnostik – das haben wir in früheren Jahren diskutiert –, von anderer Qualität ist. Sie ist von vornherein auf Aussonderung von erblich belasteten Embryonen ausgerichtet. Schon das erblich bedingte Risiko einer späteren schwerwiegenden Erkrankung oder dauernden Schädigung gilt als „Behinderung“, die die Tötung des Embryos in der Petrischale zur Folge hat. Das ist nach meiner Auffassung auch aus ethischer Sicht so problematisch, dass die Präimplantationsdiagnostik auch weiterhin verboten bleiben sollte.

(Vereinzelt Beifall)

Wir brauchen ein Mehr an Sensibilität für die Würde des Menschen – in allen Lebensphasen, für die Grundrechte auf Leben und Unversehrtheit, für die Achtung der Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrechte behinderter Menschen. Es geht darum, unsere ethische Kompetenz für ein lebensförderndes Zusammenleben der Menschen mit und ohne Behinderung gezielt fortzuentwickeln.

Das in den letzten Jahren vor allem aus skandinavischen Erfahrungen übernommene Prinzip der „Normalisierung“ ist auch für uns Ärztinnen und Ärzte eine wichtige Leitidee für den Umgang mit behinderten Menschen. Wie schwierig der Begriff „normal“ auch ist: Das Prinzip will erreichen, dass Menschen mit einer körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung ihr Leben so uneingeschränkt wie möglich sollen führen können. Das ist die Leitvorstellung für alle Systeme der Hilfe und für alle Zielperspektiven.

„Ein Leben so normal wie möglich“ – das hört sich so selbstverständlich an,
aber ist es wirklich so selbstverständlich? „Ein Leben so normal wie möglich“ – das ist ein Kernpunkt vieler Reformen sowohl der großen stationären Einrichtungen als auch ihrer Ergänzung durch kleinere Institutionen. Das Normalisierungsprinzip ist ein Mittel, das dem geistig Behinderten erlaubt, Errungenschaften und Bedingungen des täglichen Lebens weitgehend zu nutzen. Dies bezieht sich auf sehr viele Dinge. Es geht beispielsweise um einen normalen Tages-, Wochen- sowie Jahresrhythmus, um die Orientierung am Lebenszyklus, um die Respektierung von persönlichen Bedürfnissen, es geht um normalen wirtschaftlichen Lebensstandard usw. Im täglichen Leben ist es ganz erstaunlich, was man trotz Behinderungen „normal“ tun kann und was Behinderte in ihrem Leben erreicht haben.

Natürlich bilden Menschen mit Behinderungen keine homogene Gruppe. Sie unterscheiden sich wie alle Menschen nach Alter, Geschlecht, Religion und Lebenslagen. Sie unterscheiden sich auch hinsichtlich der Ursache, des Grades und der Dauer von Behinderungen. Menschen mit Behinderungen leben in Familien oder in Heimen, als Einzelne oder in Wohngruppen. Ihre Behinderungen können körperlicher, geistiger oder seelischer Natur sein, erblich bedingt oder durch äußere Einflüsse in der Geburts- bzw. Frühphase des Lebens verursacht sein, durch Unfall oder chronische Krankheit im späteren Leben erworben. Ich glaube, wichtig ist, dass Menschen mit Behinderungen mit allen anderen die Höhen und Tiefen menschlichen Schicksals teilen und dass sie die unterschiedlichsten Lebenserfahrungen machen.

Trotz aller Unterschiedlichkeit, mit der behinderte Menschen ihr Leben führen, werden sie vielfach immer noch unter einem einzigen Blickwinkel wahrgenommen: Menschen mit Behinderungen sind Menschen mit Defiziten und weichen zum Negativen vom gewohnten Menschsein ab. Ihnen fehlen eben bestimmte körperliche Funktionen, geistige oder seelische Fähigkeiten. Sie sind – so besehen – ungewohnt und ungewöhnlich. In einer Welt, die nicht behinderte Menschen entsprechend ihren Erfordernissen ausgestaltet haben, können Menschen mit Behinderungen eine gleichartige Lebensführung nur schwer, oftmals unmöglich verwirklichen.

Stellen Sie sich für einen Moment vor, dieser Raum hier sei so eingerichtet, dass er von Menschen benutzt wird, deren Beine 30 cm kurz sind. Stellen Sie sich vor, wie diese Menschen mit einer solchen Umgebung wie hier zurechtkämen. Ich glaube, es wäre dann so, dass jeder, der hier sitzt und unbehindert ist, in einem solchen Raum behindert wäre. Das heißt, die Frage, was normal ist, ist eine Frage, die in hohem Maße von Mehrheiten bestimmt wird, von der Frage: Zu welcher dieser Gruppen gehört man?

Natürlich gibt es viele Hilfen zur Förderung und zur Erhaltung der Lebensqualität. Es gibt medizinische, heilpädagogische oder betreuende Maßnahmen. Es gibt technische Hilfsmittel, integrative Kindergärten, Förderzentren oder Förderschulen, Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. All dies ist unverzichtbar.

Aber diese Hilfen und Möglichkeiten dürfen nicht dazu führen, im behinderten Menschen nur noch einen Menschen mit Defekten und Defiziten zu sehen. Sonst gewinnt die für die Mehrheit gewohnte Weise des Menschseins unmerklich die Bedeutung einer Norm für wahrhaft menschliches Leben, nach der Melodie: So muss ein Mensch ausgestattet sein, sonst ist er kein „vollgültiger“, kein „ganzer“ Mensch. Ist er aber kein ganzer Mensch, dann fehlen seinem Leben entscheidende Qualitäten, sodass dieses Leben und dieser Mensch faktisch minderwertig erscheinen. So werden das Leben und die Menschen mit Behinderungen nach und nach automatisch, auch ungewollt, abgewertet.

Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass die Behinderung eines Menschen nicht einfach der Ausfall oder die Schädigung bestimmter Funktionen als solche ist. Die Weltgesundheitsorganisation unterscheidet seit 2001 zwischen körperlichen Schädigungen, Beeinträchtigungen der geistigen, sozialen oder instrumentellen Fähigkeiten sowie Benachteiligungen bei der Teilhabe am Alltagsleben einer Gesellschaft. Die Behinderung eines Menschen resultiert aus einem komplexen Zusammenspiel vieler innerer und äußerer Faktoren. Erst seit Januar 2001 hat die Weltgesundheitsorganisation in ihre Beurteilung auch die Fähigkeiten aufgenommen, die Menschen mit Behinderungen haben. Sie beschreibt den Menschen als ein selbstständig handelndes Subjekt. Sie betrachtet den Menschen als Subjekt in Gesellschaft und Umwelt und als ein biologisches Wesen mit Fähigkeiten. Das hat dazu geführt, dass die International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH) umbenannt wurde in International Classification of Functioning, Disability and Health (ICFDH), sodass die Fähigkeiten im Vordergrund stehen. Ich halte das für einen wichtigen Punkt, der einfach eine andere Art des Umgangs mit Behinderungen deutlich macht.

Ich glaube, das Bild, das sich nicht behinderte Menschen von einem Leben mit Behinderungen machen, stimmt nicht immer mit der Wirklichkeit und der Eigenwahrnehmung behinderter Menschen überein. Behinderungen werden oft nur mit Leiden, Schmerzen und Unglück identifiziert, eben nur mit negativen Elementen. Die Lebensfreude, Glück und Dankbarkeit, das Positive und Schöne, das im Leben von behinderten Menschen genauso seinen Platz hat, werden wenig wahrgenommen. Dabei verstehen sich Menschen mit Behinderungen eben nicht als Menschen minderen Wertes, sondern sie sehen ihr Anderssein als ungewohnte Verschiedenheit des gleichen Menschseins an. Sie entdecken ihre Fähigkeiten, Erfahrungen und Kompetenzen als Chancen, ihr Leben sinnvoll zu meistern. Deswegen beharren sie darauf, dass man dieses Selbstverständnis respektiert.

Ich glaube, dass sich nicht behinderte Menschen der Aufgabe stellen müssen, diese Lebensweise der Menschen mit Behinderungen zu verstehen und als gleichberechtigt wertzuschätzen.

Das heißt nicht, dass man das Leid behinderter Menschen leugnet, verharmlost oder sogar verherrlicht. Das wäre zynisch. Der Verlust von Unversehrtheit ist schmerzvoll. Erfahrungen von Ablehnung und Ausgrenzung bereiten Leid.

Um der Würde behinderter Menschen willen aber darf man ihr Lebensschicksal nicht nur auf ein Leiden reduzieren. Deshalb gilt es, die Lebensfreude und die Lebensleistung nicht außer Acht zu lassen, nur weil sich beides in einer ungewohnten Weise äußern mag. Für jeden Menschen mit und ohne Behinderung gilt, dass im Lebensschicksal, in der Biografie eben Licht und Schatten, Freude und Trauer, Glück und Schmerz verwoben sind. Leben kann dadurch reicher werden, auch in schmerzhaften Grenzsituationen zu bestehen und in ihnen Zukunftsperspektiven zu entwickeln.

Ich glaube, dass insbesondere die jüngeren Entwicklungen in der Gentechnik eine längst überwunden geglaubte Illusion wiederbeleben: den Traum vom perfekten Menschen und einer leidfreien Gesellschaft. Gerade wir Ärztinnen und Ärzte müssen uns auch mit diesem Traum auseinander setzen.

Dieser Traum spiegelt etwas vor, was kein Mensch jemals verwirklichen und keine menschliche Gesellschaft jemals garantieren kann. Dieser Traum vom perfekten Menschen, von einer leidfreien Gesellschaft produziert nur selbst immer neues Leid, missachtet und wertet die Würde aller Menschen ab, die seiner Vorstellung nicht entsprechen. Das trifft dann nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern auch Alte, sozial Benachteiligte, gesellschaftlich nicht oder nicht mehr „voll Funktionsfähige“. Der Traum vom perfekten Menschen zerstört den solidarischen Zusammenhalt einer humanen Gesellschaft und er macht es zu einer privaten Entscheidung der Frau bzw. der Eltern, ob sie die Schwangerschaft nach erfolgter Diagnose erblicher Belastungen fortführen oder abbrechen lassen.

Mit diesem Entscheidungsspielraum verbinden immer mehr Menschen die Erwartung, dass die Frau bzw. die Eltern für die Folgen ihrer individuellen Entscheidung auch individuell geradestehen, also ohne die Unterstützung der Solidargemeinschaft und ohne das Netz sozialer Sicherheiten.

Die Würde eines jeden Menschen ist unter allen Umständen unantastbar. Genetische Analysen belasten schon heute lebende Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen in einem hohen Maße. Sie können künftig auch dazu führen, einen behinderten Menschen nur in seiner biologischen Verfassung zu sehen. Ein solches Menschenbild bürdet den Eltern einen Rechtfertigungsdruck auf, der nicht annehmbar ist.

Das Schicksal behinderter Menschen und ihre Aufnahme durch uns trifft uns sicher an einer verletzlichen Stelle auch unserer eigenen Überzeugungen. Zählt am Ende nur der, der in unseren Augen lebenstüchtig und gesund ist, der sich durchzusetzen vermag? Wäre es nicht schlimm, wenn gerade wir Ärztinnen und Ärzte keinen Sinn aufbringen könnten für den, wie Kardinal Lehmann es formuliert hat, glimmenden Docht und das geknickte Rohr?

Es gibt eine Belastung, der wir nicht immer gewachsen sind. Viele Anstrengungen für Menschen, die in ihrem Leben beeinträchtigt sind, scheinen sich nicht zu lohnen. Da kann es sein, dass keine Heilung möglich ist. In anderer Form kennen wir das auch von den Bemühungen um Obdachlose und Suchtabhängige. Rückfälle ersticken die Hoffnung oder machen Bemühungen zunichte. Manches scheint vergebens zu sein. Solidarität und Partnerschaft mit behinderten Menschen verlangen von den Helfern eine große Bereitschaft zum endlosen Helfen, zum Warten und zur Vergeblichkeit. Oft haben wir es mit dem glatten Gegenteil von „Erfolg“ und „Nutzen“ zu tun. Oft muss man täglich und gegen alle Kalkulationen, auch gegen alle materiellen Kalkulationen Hoffnung setzen.

Ich weiß nicht, aus welchen Quellen in dieser Beziehung der Einzelne schöpft. Braucht man dazu den Glauben, dass Gott auch gerade diesen Menschen unendlich liebt? Gibt es viele andere Quellen, aus denen man die Kraft schöpfen kann, diesen Dienst des Samariters fortzusetzen?

Die Frage ist, was wir beisteuern, um die Belastungen eines beschränkten Lebens zwar nicht aufheben, aber im Ganzen mindern und vielfach erträglicher machen zu können. Ist unsere Gesellschaft finanziell vorbereitet und personell dazu in der Lage und auch willens, die notwendigen Anforderungen zu erfüllen? Der behinderte Mensch, jeder behinderte Mensch hat von Anfang seiner Existenz an bei allen Begrenzungen seine eigene Würde, eine Würde, die nicht Unbehinderte ihm verleihen oder zuerkennen können, sondern die er als Mensch hat, nicht weniger als jeder Unbehinderte. Schritte zur Realisierung dieser Würde, zur Eröffnung von Teilhabechancen, zur Bewertung behinderten Lebens als eines ebenfalls normalen Lebens in Abweichung von der Mehrheit der Gesellschaft versucht unser Antrag zu beschreiben und damit einen Weg für konkrete Schritte aufzuzeigen, die gegangen werden können, um die Situation zu verbessern.

In der Anerkennung der Würde der Schwächeren, in der Anerkennung der Würde von Menschen mit Behinderung entscheiden wir alle über unsere eigene Würde.

Vielen Dank.

(Beifall)

 

Prof. Dr. Dr. h. c. Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages:

Vielen Dank, Rudolf Henke, für diese klare Darstellung, auch für die klare Position, die damit bezogen wird, die sich im Antrag des Vorstandes widerspiegelt.

Wir haben uns erlaubt, zu diesem Tagesordnungspunkt, obwohl es nicht so ganz eng zu den Referaten gehört, auch jene Anträge zu addieren, die in diesen ethischen Rahmen passen.

Es geht um den Vorstandsantrag 2 mit den Änderungsanträgen 2 a und 2 b, ferner um die Anträge 9, 67, 10 und 89.

Der Erste auf der Rednerliste ist Herr Montgomery. Bitte schön.

© 2004, Bundesärztekammer.