Anhang A
Beschlüsse und Entschließungen

TOP II: Durch Quantität zu Qualität? - Folgen der Konzentration und Zentralisierung von medizinischer Versorgung für die Bevölkerung

ENTSCHLIESSUNGSANTRAG II - 01
ÄNDERUNGSANTRAG ZUM ENTSCHLIESSUNGSANTRAG II - 01a

Auf Antrag des Vorstandes der Bundesärztekammer (Drucksache II-01) unter Berücksichtigung des Antrages von Frau Dr. Gitter (Drucksache II-01a) fasst der 107. Deutsche Ärztetag einstimmig folgende Entschließung:

Durch die mit dem Fallpauschalengesetz 2002 geänderte Vorschrift des § 137 SGB V wurden die Partner der Selbstverwaltung aufgefordert, Mindestmengen für einen Katalog planbarer Leistungen festzulegen, bei denen die Qualität des Behandlungsergebnisses im besonderen Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist. Ärztinnen und Ärzte oder Krankenhäuser, die diese Mindestmengen nicht erfüllen, sollen ab 2004 die betreffenden Leistungen auch nicht mehr erbringen dürfen.

Dass zwischen Qualität und Menge der Leistungserbringung grundsätzlich ein Zusammenhang bestehen kann, steht außer Frage. Die Anwendung der neuen gesetzlichen Regelung in Gestalt restriktiver Mindestmengen-Festlegungen für medizinische Maßnahmen muss jedoch so verantwortlich gehandhabt werden, dass die weiteren, teils maßgeblicheren Einflussfaktoren des jeweiligen Versorgungsergebnisses nicht unberücksichtigt bleiben. Da es sich bei der Häufigkeit der Leistungserbringung lediglich um einen Faktor in der Vielzahl der die Qualität des Behandlungsergebnisses bestimmenden Einflussfaktoren, wie

·- Art, Schweregrad und Stadium der Erkrankung,

·- Prozessqualität von Diagnostik, Therapie, Komplikationsmanagement und Nachsorge,

·- Korrekte Indikationsstellung und Wahl des geeigneten Therapieverfahrens,

·- Vorhaltung der erforderlichen Verfahrenstechnik,

·- Erfahrung der Behandler und Häufigkeit der Leistungserbringung sowie

·- Patientenindividuelle Faktoren wie Nebenerkrankungen und Compliance

handelt, hatte sich die Bundesärztekammer sowohl in ihren Stellungnahmen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens wie auch als Vertragsbeteiligte im Verlaufe der im Herbst 2003 hierzu geführten Verhandlungen der Selbstverwaltungspartner gem. § 137 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 SGB V stets dagegen ausgesprochen, dass die Leistungsmenge zum alleinigen Zugangskriterium für die Zulassung von Krankenhäusern und deren Ärzten zur Durchführung einer bestimmten Behandlung wird.

Im Rahmen der ersten, zum 01.01.2004 in Kraft getretenen Mindestmengenvereinbarung hat die Bundesärztekammer sich dafür eingesetzt und erreicht, dass in den Katalog planbarer Leistungen nach § 137 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 SGB V ausschließlich solche Leistungen aufgenommen wurden, für die ein positiver Zusammenhang zwischen höherer Leistungsfrequenz und Qualität des Behandlungsergebnisses als wissenschaftlich gesichert gelten kann (komplexe Eingriffe bei Pankreas- oder Oesophaguskarzinom), oder für die - gemessen an den Evidenzkriterien des National Cancer Policy Board/USA - zumindest Hinweise für eine Häufigkeit-Ergebnis-Abhängigkeit vorliegen, wenn auch die hierzu vorliegenden Studienergebnisse teilweise methodische Mängel aufweisen (Leber-, Nieren- und Stammzelltransplantationen). Die von Prof. Dr. Geraedts, Düsseldorf, im Auftrag der Bundesärztekammer vorgenommene Aufarbeitung der internationalen wissenschaftlichen Literatur zu den für die Mindestmengenvereinbarungen in der Diskussion stehenden Eingriffe zeigt insgesamt eine große Heterogenität der Studien hinsichtlich Repräsentativität und Größe der untersuchten Populationen, des Studiendesigns, der Wahl der Ergebnisparameter sowie der statistischen Analysemethoden. Verschiedene Schweregrade der Erkrankungen oder Komorbiditäten der jeweiligen Patientenpopulationen wurden kaum berücksichtigt. Der Komplexität der jeweils individuellen Arzt-Patienten-Beziehung in unterschiedlichen Versorgungseinrichtungen wird eine solche Betrachtungsweise nicht gerecht.

Im Falle einer positiven Häufigkeit-Ergebnis-Beziehung kann außerdem nicht davon ausgegangen werden, dass niedrigere Leistungsfrequenzen immer mit schlechteren, höhere Leistungsfrequenzen immer mit besseren Versorgungsergebnissen einhergehen; sowohl in der Gruppe der Leistungserbringer mit hohen, als auch in der Gruppe mit niedrigen Leistungsfrequenzen kann die Qualität des Behandlungsergebnisses sehr variabel sein.

Exakte Fallzahl-Grenzwerte, unterhalb derer für bestimmte Leistungen von einem schlechteren Behandlungsergebnis auszugehen wäre, lassen sich aus der vorliegenden wissenschaftlichen Literatur nicht ableiten. Die Bundesärztekammer schlägt deshalb eine empirische Annäherung an Fallzahl-Grenzwerte vor, bei der für die wenigen elektiven Eingriffe mit evidenzbasierter Häufigkeit-Ergebnis-Beziehung ausschließlich diejenigen Krankenhäuser aus der Versorgung herausgenommen werden, welche sehr geringe Fallzahlen erbringen, zum Beispiel im Bereich des unteren Perzentils der Häufigkeitsverteilung. In jedem Fall müssen die Effekte von Mindestmengen-Regelungen im Rahmen einer begleitenden Evaluationsforschung analysiert werden, bevor durch die Einführung weiterer Mindestmengen-Regelungen zusätzliche einschneidende Restriktionen für die Leistungserbringung bewirkt werden und damit gar eine „statistische Rationierung“ von Krankenhausleistungen eintritt. Gleichzeitig muss, unterstützt durch eine sektorenübergreifende Versorgungsforschung, ein Instrumentarium zur Messung von patientenzentrierter Versorgungsqualität entwickelt werden, dass der Komplexität medizinischer Versorgung besser gerecht werden kann, als dies der Surrogat-Indikator „Leistungsfrequenz“ vermag. Auch in den angelsächsischen Ursprungsländern von Mindestmengenregelungen wird inzwischen von wissenschaftlicher Seite gefordert, dass Mindestmengen nur solange als Hilfsmittel eingesetzt werden sollten, bis geeignetere Indikatoren für die Messung von Versorgungsqualität verfügbar sind.

Neben den methodischen Gründen, die gegen die Festlegung von Mindestmengen als alleinigem Qualitätsindikator sprechen, lassen sich noch eine Menge weiterer Argumente anführen. Diese werden im Folgenden den Argumenten gegenübergestellt, die für eine Festlegung von Mindestmengen-Grenzen sprechen. Im allgemeinen wird als Hauptziel der Festlegung von Mindestmengen die Verbesserung der medizinischen Versorgung der Patienten genannt. Bei Vorliegen einer validen Häufigkeits-Ergebnis-Beziehung sollen Mindestmengen vor allem dazu führen, dass

- Versorgungsergebnisse der Patienten besser werden, weil sie nur noch von erfahrenen Ärzten bzw. in erfahrenen Einrichtungen behandelt werden,

- die Fallkosten geringer werden und die Verweildauern sinken,

- spezialisierte Krankenhäuser attraktiver werden für spezialisierte Ärzte, so dass sich langfristig Kompetenz-Zentren für verschiedene Prozeduren ausbilden können sowie

- die Patienten in den Einrichtungen, die die Mindestmengen erfüllen, typischerweise auch ein in anderer Hinsicht positiveres Behandlungsumfeld (Interdisziplinarität, Vertretung aller Fachgebiete etc.) erfahren könnten.

Gegen die Einführung von Mindestmengen wird vor allem eingewandt, dass mögliche negative Nebeneffekte einer solchen Festlegung die eventuellen, oftmals nur vermuteten positiven Effekte übersteigen. Hierzu werden vor allem folgende Argumente angeführt:

- Mindestmengen schließen diejenigen Leistungserbringer von der Versorgung aus, die - ohne hohe Fallzahlen zu erreichen - trotzdem eine hohe Qualität der Versorgung erbringen, wohingegen solche Leistungserbringer, die bei hoher Leistungsmenge schlechte Qualität leisten, gar noch gefördert würden.

- Die Einführung von Mindestmengen schränkt die Möglichkeit einer flächendeckenden Versorgung der Patienten ein; lange Anfahrtswege als Folge können bei dringenden Behandlungsmaßnahmen die Patienten akut gefährden; Patienten, die sich lange Anfahrtswege nicht leisten können oder wollen, werden Versorgungsmöglichkeiten entzogen; Mindestmengen entziehen Patienten Wahlmöglichkeiten und greifen somit in die Patientenautonomie ein.

- Mindestmengen vermindern die Erfahrungen derjenigen, die diese Leistung nicht mehr erbringen können, auch in Bereichen, welche nicht von der Mindestmengenregelung betroffen sind; damit werden gerade bei Notfalleingriffen die Überlebenschancen von Patienten reduziert (z. B. elektives/rupturiertes Aortenaneurysma).

- Mindestmengen können die Kontinuität der Vorsorgung verschlechtern, indem eine spezialisierte Nachbehandlung nur noch in Zentren möglich sein wird, die wiederum schwerer erreichbar sind.

- Mindestmengen können die Koordination der Versorgung verschlechtern, indem bewährte Versorgungsnetzwerke sowie Informations- und Kommunikationswege zerstört werden.

- Die mit der Einführung von Mindestmengen notwendigen Veränderungen der Versorgungskapazitäten, d. h. der Aufbau von Kapazitäten in Zentren sowie der Abbau von Kapazitäten bei Leistungserbringern mit geringer Fallzahl, sind nur langfristig möglich; kurzfristig sind infolgedessen Wartelisten und Überanspruchung in Zentren zu erwarten; diese Effekte sind in Zeiten von Pflegepersonal- und Ärztemangel als schwerwiegend und mit erheblicher Gefährdung einer bedarfsgerechten, flächendeckenden Versorgung einzuschätzen.

- Mindestmengen beeinflussen die ärztliche Weiterbildung, deren Kapazitäten abnehmen; die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird bei den notwendig werdenden komplizierten Rotationsverfahren innerhalb der Facharztweiterbildung beeinträchtigt, wodurch die Attraktivität des Berufes weiter sinken könnte.

- Mindestmengen können Fehlanreize für eine breitere oder andere Indikationsstellung ausüben, wenn dadurch Mindestgrenzen erreicht und überschritten werden können.

- Mindestmengen können negativ auf die Verfolgung des Ziels kontinuierlicher Qualitätsverbesserung und die Suche nach den eigentlichen Faktoren für eine gute Qualität der Versorgung wirken; die Erforschung dieser Faktoren könnte negativ beeinträchtigt werden, weil die Erhebung des vermeintlichen Qualitätsindikators (Mindestmenge) für ausreichend erachtet wird.

- Bedacht werden muss ebenso, dass sich die durch Mindestmengen-Regelungen ergebende Zentrierung medizinischer Leistungen nicht mehr aus den Versorgungsstufen der Landeskrankenhauspläne und der Weiterentwicklung der ärztlichen Weiterbildung ergibt, sondern von außen durch die Politik ein Eingriff in die bisherige Entwicklung der Spezialisierungen erfolgt und damit die Krankenhausplanung der Länder ausgehöhlt wird.

Der Deutsche Ärztetag und mit ihm die Ärzteschaft plädieren für eine offensive Diskussion der Frage „Qualität durch Quantität?“. Ärztinnen und Ärzte wollen Spezialisierung, denn ihr Beruf ist bereits durch die Ausbildung spezialisiert und wird in der Weiterbildung hoch spezialisiert. Im Zusammenspiel der Faktoren, die bei der Analyse patientenzentrierter Versorgungsqualität zu beachten sind, stellt die strukturqualitätssichernde Spezialisierung von Ärzten einen maßgeblichen, jedoch nicht den einzigen Mosaikstein dar. Grenzwerte müssen in einem transparenten zugänglichen Prozess rational begründet werden. Mindestmengen sind keine Zauberworte, die nur Gutes bewirken, sondern sie können dies nur im Einklang mit Erkenntnissen aus Tumorregistern, Qualitätssicherungsverfahren, mehr Versorgungsforschung und Konsequenzen aus deren Ergebnissen.

© 2004, Bundesärztekammer.