ENTSCHLIESSUNGSANTRAG
VI - 02
ÄNDERUNGSANTRAG ZUM ENTSCHLIESSUNGSANTRAG VI - 02a
ÄNDERUNGSANTRAG ZUM ENTSCHLIESSUNGSANTRAG VI - 02b
Auf Antrag des Vorstandes der Bundesärztekammer (Drucksache
VI-02) unter Berücksichtigung der Anträge von Dr. Bolay,
Frau Dr. Berendes, Prof. Dr. Kunze (Drucksache VI-02a) sowie Frau
Dr. Berendes und Dr. Bolay (Drucksache VI-02b) fasst der 107. Deutsche
Ärztetag einstimmig folgende Entschließung:
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sichert allen Menschen
unabhängig von Ursache, Art und Schwere einer Behinderung in
gleicher Weise die Beachtung ihrer Menschenwürde, das Recht
auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die freie Entfaltung
ihrer Persönlichkeit, die Beachtung des Sozialstaatsgrundsatzes
und die gleiche Behandlung durch die öffentliche Gewalt zu.
Dieses allgemeine Gleichbehandlungsgebot des Artikel 3 Abs. 1 des
Grundgesetzes, das die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz
gewährleistet, wurde durch eine 1994 in Kraft getretene spezielle
Regelung zu Gunsten Behinderter ergänzt, indem Artikel 3 Abs.
3 folgender Satz angefügt wurde: „Niemand darf wegen
seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Auch wenn behinderte
Menschen bereits zuvor gegen Benachteiligungen verfassungsrechtlich
geschützt waren, hat diese Ergänzung des Grundgesetzes
die Stellung der Behinderten gestärkt - allein schon
deshalb, weil sie zugleich Ausdruck einer verfassungsrechtlichen
Wertentscheidung ist und den Auftrag an den Staat enthält,
auf die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen am Leben
in der Gesellschaft hinzuwirken.
Chancengleichheit behinderter Menschen immer
noch nicht erreicht
Unvermindert ist dies eine wichtige sowohl politische als auch
gesellschaftliche Aufgabe, da trotz vieler unbestreitbarer Fortschritte
in den letzten Jahren eine tatsächliche Chancengleichheit von
behinderten und nicht behinderten Menschen noch nicht erreicht ist.
Immer noch fühlen sich behinderte Menschen mitunter von einer
Behindertenfeindlichkeit sowie von einer „Verwertungs-“
und „Brauchbarkeits“-Diskussion bedroht. Schon die Begriffsdefinition
bzw. -abgrenzung von behinderten Menschen als denjenigen, die von
Auswirkungen einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung
betroffen sind, die auf einem von dem für das jeweilige Lebensalter
typischen Zustand abweichenden körperlichen, geistigen oder
seelischen Zustand beruht, weist auf das Spannungsfeld zwischen
behinderten Menschen und der Gesamtgesellschaft sowie die in diesem
Spannungsfeld notwendigerweise entstehenden Probleme - übrigens
auch zwischen behinderten Menschen untereinander - hin. Menschen
mit Behinderung beurteilen die tatsächliche Lösung dieser
Probleme nicht immer als zufriedenstellend und bezeichnen sie oft
sogar dann als Benachteiligung gegenüber nicht behinderten
Menschen, wenn niemand eine derartige Absicht hatte, Chancengleichheit
und Integration tatsächlich jedoch trotz aller Bemühungen
noch nicht verwirklicht werden konnten.
Für die Teilhabe behinderter Menschen am Leben der Gesellschaft
ist insgesamt von wesentlicher Bedeutung die gegenseitige Akzeptanz,
die als wechselseitiger Prozess verstanden und vollzogen werden
muss. Das im Grundgesetz verankerte Menschenbild fordert in seiner
Konsequenz Integration, Partnerschaft und Mitwirkung. Die Solidarität
mit behinderten Menschen und die Achtung ihrer Menschenwürde
sind jedoch in der täglichen Lebenspraxis noch keine Selbstverständlichkeit.
Wenn die Menschenwürde und das Lebensrecht behinderter Menschen
in Frage gestellt werden, ist dies immer auch Ausdruck einer allgemeinen
Gefährdung des gesellschaftlichen Wertebewusstseins.
Aufgabe von Staat und Gesellschaft ist es, dazu beizutragen, dass
die Lebensumstände behinderter Menschen von ihnen selbst nicht
als benachteiligend empfunden, gleichwertige Chancen so weit wie
möglich hergestellt und noch bestehende tatsächliche Benachteilungen
abgebaut werden. Grundprinzip und Ziel aller Bemühungen muss
sein, dass Menschen mit Behinderungen nicht Adressat oder gar Objekt
von Hilfen sind, sondern eigenverantwortliche Akteure und meist
selbst die besten Experten in Bezug auf ihre Behinderung und insbesondere
darauf, wie sie ihre Fähigkeiten so weitgehend wie möglich
nutzen und ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft so vollwertig
wie möglich gestalten können.
Rehabilitationsleistungen als Hilfen zur
Integration behinderter Menschen
Zusammenfassend werden die Hilfen zur Eingliederung behinderter
Menschen oder von Behinderung bedrohter Menschen ins Arbeitsleben
und in die Gesellschaft üblicherweise als Rehabilitation bezeichnet.
In einem weiten Verständnis umfassen diese Hilfen alle Leistungen
und Gestaltungen von Lebensumständen, die auf die Erreichung
der in § 10 Sozialgesetzbuch I (SGB I) genannten Ziele ausgerichtet
sind, nämlich die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu
bessern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen
zu mildern sowie dem behinderten Menschen einen seinen Neigungen
und Fähigkeiten entsprechenden Platz in der Gesellschaft, in
Schule und Ausbildung sowie insbesondere im Arbeitsleben zu sichern.
Im Einklang mit dem in fünf Dimensionen aufgebauten Behindertenbegriff
der Weltgesundheitsorganisation zur Behinderung (Körperfunktionen,
Körperstrukturen, Aktivitäten der Person und Partizipation
in der Gesellschaft sowie Umweltfaktoren) sind Hilfen bzw. Rehabilitationsmaßnahmen
ausgerichtet auf unterschiedliche Ansatzpunkte
- im Bereich der drohenden oder vorliegenden Schädigungen
durch Prävention wie z. B. gesundheitsgerechtes Verhalten,
Unfallverhütung und andere Formen der Vermeidung oder Senkung
von Risiken, durch Vorsorgemaßnahmen oder durch Maßnahmen
der medizinischen Behandlung und Rehabilitation,
- im Bereich der Funktionsbeeinträchtigungen durch Hilfen
zur Kompensation der Beeinträchtigungen z. B. orthopädische
Hilfsmittel, Funktionstraining oder technische Hilfen in Schule
und Ausbildungsstätte sowie zur Arbeitsplatzausstattung,
- im Bereich der Behinderungen z. B. dadurch, dass Barrieren vermieden
oder abgebaut werden oder dass ein Schul- und Bildungsweg oder ein
Beruf gewählt wird, welcher trotz Funktionseinschränkungen
die Berufsausübung ermöglicht oder erleichtert.
Die Leistungen zur Rehabilitation und Eingliederung bzw. Integration
behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen sind in der Bundesrepublik
Deutschland nicht einem eigenständigen Sozialleistungsbereich
übertragen, sondern eingebettet in die Aufgaben einer Vielzahl
von Sozialleistungsträgern mit teils gleichen, teils aber auch
unterschiedlichen Rehabilitationszielen. Erbracht werden die in
§ 29 SGB I zusammenfassend angeführten Sozialleistungen,
und zwar
- medizinische Leistungen durch die Kranken-, die Renten- und die
Unfallversicherung sowie die Träger der sozialen Entschädigung
bei Gesundheitsschäden,
- berufsfördernde Leistungen durch die Bundesagentur für
Arbeit, die Renten- und die Unfallversicherung sowie die Träger
der sozialen Entschädigungen bei Gesundheitsschäden,
- Leistungen zur allgemeinen sozialen Eingliederung durch die Unfallversicherung,
die Träger der sozialen Entschädigung bei Gesundheitsschäden
sowie die Jungend- und die Sozialhilfe.
Insbesondere bei der Erbringung medizinischer Rehabilitationsleistungen,
aber auch bei der Initiierung beruflicher und sozialer Rehabilitationsleistungen
ist es eine wesentliche Aufgabe der in Klinik und Praxis tätigen
Ärztinnen und Ärzten, diesen ganzheitlichen Rehabilitations-
und Integrationsansatz zur Richtschnur ihres ärztlichen Handelns
zu machen.
Vorrang ambulanter Hilfen sowohl für
den medizinischen wie den sozialen und beruflichen Bereich
Möglichkeiten und Probleme der Rehabilitation und Integration
behinderter Menschen betreffen jedoch nie nur einzelne Bereiche
allein, wie etwa den medizinischen oder beruflichen Bereich. Vielmehr
müssen die einzelnen Maßnahmen den konkreten Lebensumständen
des behinderten Menschen in ihrer Gesamtheit Rechnung tragen, in
deren Rahmen sich Rehabilitation und Integration vollziehen sollen
und mit denen sich die behinderten Menschen aufgrund ihrer Behinderung
in anderer Weise als nicht behinderte Menschen auseinandersetzen.
So ist es z. B. einerseits notwendig, behinderte Menschen für
eine Berufstätigkeit fachlich zu qualifizieren, andererseits
muss durch behinderungsgerechte Wohnmöglichkeiten und Verkehrsmittel
sichergestellt werden, dass die erlernten Qualifikationen auch tatsächlich
beruflich genutzt werden können. Erfolge bei diesen Integrationsbemühungen
stellen sich vor allem dort ein, wo nicht Teilprobleme isoliert
betrachtet und gelöst, sondern „Rehabilitationsketten“
ineinandergreifender Konzepte durchdacht und konkret organisiert
werden. Wichtig ist hierbei ebenso, die zur Eingliederung in die
Gesellschaft notwendige Förderung möglichst mit einer
Erhaltung und Fortentwicklung der bisherigen sozialen Bezüge
in Einklang zu bringen. Immer dort, wo eine wirkungsvolle Förderung
durch ambulante Hilfen möglich ist, soll diesen der Vorzug
gegeben werden, zumal sie dem Betroffenen mehr Möglichkeiten
zur eigenverantwortlichen Gestaltung seiner Lebensumstände
belassen. Auch haben Fördermaßnahmen, welche eine Gemeinsamkeit
mit nicht behinderten Menschen ermöglichen, Vorrang. In jedem
Einzelfall muss die konkret benötigte Förderung gewährleistet
sein, und zwar mit speziellen Diensten und Einrichtungen, wenn nur
durch sie wirksam geholfen und in vielen Fällen eine wirkliche
Integration erst dadurch ermöglicht werden kann.
Integration nicht allein Verpflichtung des
Staates, sondern Aufgabe aller
Die Aufgabe, Menschen mit Behinderungen zu integrieren und am Leben
der Gesellschaft teilhaben zu lassen, ist jedoch nicht allein Verpflichtung
des Staates, sondern Aufgabe aller. War es für Familien, Freunde
und Nachbarn immer schon selbstverständlich, auf nahestehende
behinderte Menschen Rücksicht zu nehmen, sie ins Leben einzubeziehen
und ihnen nach besten Kräften Pflege und die benötigten
Hilfen zukommen zu lassen, wird immer mehr auch in den unterschiedlichen
Bereichen des privaten, gesellschaftlichen und öffentlichen
Lebens - z. B. Bildung, Verkehr, Arbeit und Freizeit -
diese Aufgabe erkannt und zunehmend erfüllt. Soweit dies geschieht
- nicht zuletzt auch durch Aktivitäten von Selbsthilfegruppen
sowie kirchlichen und freigemeinnützigen Organisationen -
wird das Ziel der Eingliederung um so eher erreicht. Je selbstverständlicher
die menschlich gebotene Einbeziehung behinderter Menschen in die
üblichen Lebensabläufe wird, um so besser können
sich externe Hilfen zumeist von Seiten der öffentlichen Hand
auf diejenigen Bereiche konzentrieren, in denen eine so erreichbare
Teilhabe behinderter Menschen noch nicht möglich ist. Sozialleistungen
können die Integration behinderter Menschen in die Gesellschaft
nicht ersetzen, sondern nur erleichtern und fördern. Wo sie
durch persönliches und gesellschaftliches Engagement entbehrlich
gemacht werden, wird nicht nur die Eingliederung unmittelbar vollzogen,
sondern mindert sich zugleich der Umfang der staatlicherseits zu
gewährenden Hilfen. Für diese Subsidiarität sind
Selbsthilfegruppen- und Organisationen behinderter Menschen im sozialen
Gefüge der Bundesrepublik Deutschland ein unverzichtbarer Faktor.
Selbsthilfeorganisationen als engagierte
Interessenwalter behinderter Menschen
Zahlreiche Fortschritte, die in den vergangenen Jahren im Bereich
der gesellschaftlichen Teilhabe, z. B. bei Freizeit, Urlaub oder
beim Wohnen erreicht werden konnten, beruhen wesentlich auf dem
engagierten und sachkundigen Einsatz von Selbsthilfe- oder Behindertenorganisationen.
In einem stetigen Prozess der Weiterentwicklung formulieren und
erproben sie Konzepte für individuelle und flexible Hilfeformen,
die behinderten Menschen eine selbstbestimmte und selbstständige
Lebensführung ermöglichen. Die Aktivitäten der Selbsthilfe
sind somit eine wichtige Ergänzung im Rahmen der breiten Rehabilitationskette.
Durch die Vertretung der Interessen ihrer Mitglieder gegenüber
Verwaltungen, vor Gericht und in der Politik verschaffen die Selbsthilfeorganisationen
so dem Anspruch behinderter Menschen auf ein selbstbestimmtes und
eigenständiges Leben Geltung und leisten auch für die
gesellschaftliche Eingliederung von Menschen mit Behinderung einen
überaus wichtigen Beitrag. In ihnen verkörpert sich eindrucksvoll
das gewachsene Selbstbewusstsein behinderter Menschen. Selbsthilfeorganisationen
werden weitgehend in Planungen und Entscheidungen im außerparlamentarischen
und parlamentarischen Raum auf kommunaler, Landes- und Bundesebene
eingebunden, so dass immer mehr nicht über behinderte Menschen,
sondern mit behinderten Menschen entschieden wird. Das Motto des
von der Europäischen Kommission in 2003 durchgeführten
Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen „Nichts
über uns ohne uns“ wird somit zunehmend mehr gelebtes
Motiv für die Gleichstellung und Integration behinderter Menschen.
Barrierefreie Gestaltung der Lebensbereiche
als Antwort auch auf Herausforderungen des demographischen Wandels
Das ein Jahr zuvor in 2002 als weitere gesetzliche Umsetzung des
Benachteilungsverbotes des Grundgesetzes verabschiedete Gleichstellungsgesetz
für behinderte Menschen ist Ausdruck dieses Paradigmenwechsels
bei der Integration behinderter Menschen und stellt einen weiteren
Meilenstein auf dem Weg dar, aus diesem Grundsatz gelebte gesellschaftliche
Wirklichkeit werden zu lassen. Vom Kernstück dieses Gleichstellungsgesetzes,
nämlich der barrierefreien Gestaltung der Lebensbereiche, profitieren
zudem alle in unserer Gesellschaft - nicht nur Menschen mit
Behinderung, sondern auch andere Personen, die in ihrer Bewegungsfreiheit
eingeschränkt sind, wie z. B. Mütter und Väter mit
Kinderwagen sowie vor allem alte Menschen. Damit bieten das Gleichstellungsgesetz
und alle darauf ausgerichteten Bemühungen nicht nur ein Fundament
für die Veränderung der Alltagswirklichkeit von behinderten
Menschen, sondern sind zugleich auch eine Antwort auf die zunehmenden
Fragen und Herausforderungen des demographischen Wandels.
Appell an die Ärzteschaft
Auch die Ärzteschaft als Teil der Gesamtgesellschaft ist sich
ihrer besonderen Aufgabe bewusst, zu einer wirkungsvollen Integration
behinderter Menschen ihren Beitrag zu leisten. Der Deutsche Ärztetag
appelliert an alle in Klinik und Praxis tätigen Ärztinnen
und Ärzte, ihre ärztliche Tätigkeit im Rahmen von
Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation bei behinderten
Menschen in besonderem Maße auf deren spezifischen Belange
auszurichten.
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